Wahlaufruf Brexit-Chaos, Klima-Ignoranz, Ibiza-Video: Soll man da wählen gehen? Ja, bitte! Gerade jetzt!

Helga Feldner-Busztin
© stern.de
Dieser Wahlappell zur Europawahl ist etwas ganz Besonderes. Die 90-jährige Holocaust-Überlebende Helga Feldner-Busztin ruft zur Stimmabgabe auf.


„Wesentlich ist die Europa-Wahl und da ist eine breite Auswahl von Parteien, die wählbar sind und die Europa nicht zerstören wollen und die für eine ganz gewöhnliche Demokratie für alle dastehen. Deswegen sage ich: Bitte geht’s wählen, es ist sehr wichtig!“


Helga Feldner-Busztin wird 1929 in Wien geboren. 1943 wird sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester ins KZ Theresienstadt deportiert. Ihr Vater wird ins KZ Buchenwald und anschließend nach Auschwitz gebracht. Trotz dieser Umstände kommt die ganze Familie mit dem Leben davon.


„Ich bin schon 90 Jahre alt und habe schon sehr vieles gesehen in meinem Leben, auch schon Regierungen kommen und gehen, aber was jetzt in den wesentlichen Staaten von Europa an der Spitze ist, ist beängstigend, dieser ganze Rechts-Trend. Der Trend zu Rassismus. Der Trend, Menschen nach ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Herkunft schlechter zu behandeln als die eingeborene Bevölkerung, die glaubt, dass das ein Privileg ist, dass man irgendwo geboren ist und das einem dadurch Vorteile zukommen, nur weil man irgendwo weiß ist, bei der passenden Religion oder bei der passenden Partei.“


Das Video ist Teil einer Kampagne der Menschenrechtsorganisation "SOS Mitmensch". Neben Helga Feldner-Busztin rufen im Rahmen der Kampagne auch andere bekannte Persönlichkeiten aus Österreich zur Teilnahme an der Europawahl auf.
Um die EU und die europäische Politik stand es schon besser. Um so wichtiger ist es, am Sonntag wählen zu gehen. Auch wenn es für uns alle längst Alltag ist: Ein Europa, in dem man sich frei bewegen kann, ist nicht selbstverständlich. Es braucht jede Stimme.

Zugegeben, das ist schon eine merkwürdige Wahl, die da ansteht. Großbritannien nimmt an der Abstimmung zum EU-Parlament teil, obwohl es sich längst politisch auf seinen Inseln einigeln wollte, das aber nicht auf die Reihe gekriegt hat. Rechtspopulisten wie der gerade auf übelste Weise aufgefallene österreichische Ex-Vize-Kanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) drängen ins Europaparlament, obwohl sie mit einem vereinten Europa, in dem man sich frei bewegen kann, nun wirklich nichts am Hut haben. Und die, die die "europäische Idee" wortreich immer wieder beschwören, scheinen wichtige Themen immer noch zu verschnarchen - zum Beispiel den Klimawandel.

Und da soll man wählen gehen?

Ja, soll man! Gerade jetzt. Gerade deshalb. Wir alle haben in den vergangenen Jahren lernen müssen, was passiert, wenn wir das politische Geschehen nur von der Tribüne aus beobachten. Wenn wir das, was wir haben und auch schätzen, für selbstverständlich nehmen. Dass ein Donald Trump wirklich gewählt werden könnte, hat so lange niemand glauben wollen, bis es soweit war - und jetzt nervt er als sprunghafter US-Präsident die halbe Welt, droht mit Krieg, leugnet den Klimawandel, hofiert Autokraten. Für uns Europäer besonders wichtig: Viele junge Briten nahmen nicht am Brexit-Votum teil, weil doch sowieso klar schien, dass das niemals durchkommen würde. Wie bös' war das Erwachen?! Seither versuchen Europäer, die im Vereinigten Königreich leben, und Briten, die auf dem Kontinent leben, mit den Folgen für ihr Leben klar zu kommen. Viele Unternehmen müssen sich neu aufstellen. Die britische Politik ist zu einem Brexit-Karussell verkommen. Voran geht da schon länger eher wenig.

Europa: Jetzt kommen die, die Chaos ausgelöst haben

Und jetzt wollen bei der Europawahl ausgerechnet die, die zum Beispiel das britische Chaos auf den Weg gebracht haben, die die Regierung in Österreich gecrasht haben oder die in Ungarn die Freiheit der Presse und der Wissenschaft massiv einschränken, genauso wie die, die in Polen die Unabhängigkeit der Justiz angreifen oder die bei uns in Deutschland den Boden für das Wiedererstarken von Nazis und Nationalismus bereitet haben - die drängen nun in großer Zahl ins EU-Parlament, um die Europäische Union sozusagen von innen heraus zu verändern oder sogar zu zersetzen. Um endlich wieder eine aufrichtige und saubere Politik zu machen, wie sie selber behaupten. Das Video mit dem Herrn Strache aus Österreich ist aber nur das jüngste Beispiel dafür, was in Wahrheit von solchen Versprechungen zu halten ist.

Der (Rechts-)Populismus, so sagen Experten, wird immer dann stark, wenn die Demokratie und/oder das System des Repräsentierens schwächeln. Tatsächlich kann man den Eindruck gewinnen, dass auch die Politiker selbst - so wie viele von uns - dieses freie, demokratische, friedliche Europa für selbstverständlich nehmen. Ein paar Worthülsen hier, ein paar Versprechungen da, und schon wird man wieder gewählt. Da fühlt sich so mancher nicht mehr repräsentiert. Teils zurecht, obwohl es so simpel natürlich nicht ist. Politiker ist das Gegenteil eines Nine-to-Five-Jobs, der viel Zeit und Engagement erfordert und für den man sich dann noch öffentlich steinigen lassen darf, weil natürlich vor allem das in Erinnerung bleibt, was nicht klappt: Klimawandel eindämmen, Pflegenotstand beenden oder für bezahlbaren Wohnraum sorgen beispielsweise.

Europa: Jede Stimme wird gebraucht

Das alles soll und muss man kritisieren. Aber deswegen auf Europa pfeifen? Oder einfach abwinken? Auf keinen Fall! Was wäre denn auch die Alternative? Ein Zweckbündnis, das seine Festung verteidigt? Ein Europa der Grenzen, in dem man sich buchstäblich voneinander abgrenzt? Wieder die nervige Geldumtauscherei? Doch keinen Job in Paris oder Barcelona oder Amsterdam? Und jeder Besuch von Freundinnen und Freunden im Ausland wird gleich wieder zur Reise? Kann das jemand wollen?

Ob man sich über "die Bürokraten da in Brüssel" ärgert, ob man über Politiker verzweifelt, die die Probleme nicht (schnell genug) lösen oder manchmal auch eher an ihr eigenes Wohl statt an das Wohl der Bürger denken: Eines sollte man nicht vergessen, und ich will das hier sagen, obwohl das gerne belächelt wird: Am Anfang dieses Europas stand eine Trümmerwüste. Nun leben wir schon seit 70 Jahren in Frieden und Sicherheit. Das ist eine historisch lange, nahezu beispiellose Friedenszeit. Das Zusammenwachsen europäischer Staaten zur Europäischen Union hat dazu maßgeblich beigetragen. Die Folge: Wer nicht hoch betagt ist, lebt in seiner Heimat ein Leben in Frieden und kann auch noch davon ausgehen, dass das so bleibt. Dafür, dass das so bleibt, dafür wird jede Stimme gebraucht.

Das Interesse an der Europawahl ist laut ZDF-Politbarometer so groß wie nie. Mag sein, hingehen muss man trotzdem noch. Bitte tun Sie das! Geben Sie bitte Ihre Stimme für Europa! Gerade jetzt.

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Wir haben mit Studenten über Europa gesprochen
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