Gespaltenes Frankreich Nach der Wahl ist vor der Wahl: Für Macron beginnt jetzt erst recht die Arbeit

Er bekommt eine zweite Chance: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
Er bekommt eine zweite Chance: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
© Lewis Joly / DPA
Emmanuel Macron hat die Präsidentschaftswahl in Frankreich gewonnen. Doch nun beginnt erst die richtige Arbeit. Es gilt ein gespaltenes Land wieder zu vereinen – und die nächsten Wahlen stehen schon vor der Tür.

Tosender Applaus brandet auf dem Champs de Mars in Paris auf, als der frischgebackene Wahlsieger Emmanuel Macron am Sonntagabend das Podium betritt. Tausende seiner Anhängerinnen und Anhänger haben sich auf dem Platz vor dem Eiffelturm versammelt, in der Hoffnung, dass ihr Präsident das Rennen macht. Nach der ersten Hochrechnung steht vielen die Erleichterung förmlich ins Gesicht geschrieben. "Danke! Danke, liebe Freunde!", ruft Macron in das Meer aus strahlenden Gesichtern und Frankreich-Fahnen. 

"Großer Sieg, große Herausforderungen" titelt die französische Tageszeitung "Le Figaro" am Tag danach. Bei vielen hinterlassen die Wahlstatistiken einen schalen Beigeschmack. Zwar hat Macron sich mit 58,5 Prozent gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen (41,5 Prozent) in der Stichwahl durchgesetzt und sich damit als erster französischer Präsident seit zwanzig Jahren eine zweite Amtszeit erkämpft. Doch sein Vorsprung fiel deutlich knapper aus, als beim letzten Duell 2017 – auch weil ihm viele linke Wählerinnen und Wähler die Stimme verweigerten. 

Die seit einem halben Jahrhundert höchste Enthaltungsrate bei einer Präsidentenwahl (rund 28 Prozent) ​entblößt eine wachsende politische Enttäuschung – und zeigt, wie viel Arbeit vor dem neuen alten Präsidenten liegt.

Kann Macron das gespaltene Frankreich wieder einen?

In seiner feierlichen Siegesrede sagte Macron, die Franzosen hätten sich für "ein unabhängigeres Frankreich und ein stärkeres Europa" entschieden. Sein Sieg lässt sich als Lohn für seine Fähigkeiten als Politiker und Entscheidungsträger betrachten. Obwohl seine Beliebtheit, mit der Macron 2017 noch Begeisterungsstürme ausgelöst hatte, in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen hat, beschleunigte sich unter seiner Führung das Wirtschaftswachstum und auch die Corona-Pandemie konnte das Land vergleichsweise gut bewältigen. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine konnte er sich zudem als staatsmännischer Vermittler in der Europäischen Union profilieren. 

Doch das historisch gute Ergebnis für die Rechte Le Pen beweist auch, dass die Vorstellungen über die Zukunft Frankreichs das Land spalten. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich ein wachsender Teil der Französinnen und Franzosen der nationalistischen Le-Pen-Politik zugewandt – trotz oder gerade wegen ihrer Feindseligkeit gegenüber Einwanderern und ihrer Skepsis an europäischen Institutionen. Viele Menschen aus der Arbeiterklasse, die sich durch Globalisierung, Digitalisierung und den Niedergang der Gewerkschaften im Stich gelassen fühlen, haben die Nase voll von traditionellen Politikern. Bei ihnen trifft Le Pen und ihre Partei "Rassemblement National" (RN) auf offene Ohren.

Ein Blick auf die geographische Wählerverteilung vervollständigt das Bild: Le Pen konnte in Ballungsräumen und kleineren Orten auf dem Land punkten, vor allem an der Mittelmeerküste und im Norden. Eben dort, wo viele frustrierte Frauen und Männer aus der Arbeiterklasse leben. Macrons Hochburgen sind hingegen die Metropolen, darunter Paris (mit ganzen 70 Prozent Vorsprung), Marseille, Lyon und Toulouse – dort wo die Menschen tendenziell besser situiert, sozial liberaler und weltoffener sind.

Neben dem Stadt-Land-Gefälle spielte auch die Altersverteilung eine entscheidende Rolle: Macron hat seine zweite Präsidentschaft laut den Ipsos-Nachwahlbefragungen vor allem den ältesten und jüngsten Wähler:innen zu verdanken. Mit Abstand am besten schnitt er bei den Menschen jenseits der 70 ab – sein zweitstärkstes Ergebnis holte er bei den ganz Jungen unter 25. Viele Jüngere gaben jedoch an, ihr Kreuz nur bei Macron gemacht zu haben, um Le Pen zu verhindern, und damit das "kleinere Übel" zu wählen. Le Pen selbst konnte dagegen vor allem Französinnen und Franzosen im mittleren Alter abholen, ihre stärkste Wählerschaft waren die 50- bis 59-Jährigen. 

Die großen Baustellen

Mit seinem Versprechen, Frankreichs "Zweifel und Spaltungen" zu heilen, wird sich Macron voraussichtlich schnell einem der wichtigsten Probleme zuwenden, das mehr als 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler dazu veranlasst hat, für seine rechtspopulistische Gegenkandidatin zu stimmen: Das Thema Kaufkraft und der damit verbundene Lebensstandard, um den sich viele angesichts der massiven Inflation zunehmend Sorgen machen. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire bekräftigte am Montag im Interview mit "Europe 1" sogleich, dass Macrons zweite Amtszeit anders werde. "Wir können die Nachricht, die jene [Wähler] gesendet haben, nicht vergessen. Wir müssen unsere Art zu regieren ändern", versprach er.

Für den Präsidenten bedeutet das, seine bisher liberale – und teils opportunistische – Innenpolitik mit sozialen und grünen Schwerpunkten neu zu gestalten. Angesichts der steigenden Energiepreise wird Macrons oberste Priorität sein, ein neues Hilfspaket für die französischen Verbraucher:innen zu schnüren – einschließlich Maßnahmen zur Erhöhung der Renten und einiger Sozialleistungen, der Verlängerung der Energiesubventionen sowie die Gewährleistung von steuerfreien Prämien für Arbeitnehmer. Bereits im Sommer soll ein "Gesetz zur Kaufkraft" kommen, das unter anderem die Renten erhöhen soll.

Wirtschaftsminister Le Maire kündigte zudem eine Anpassung der Sprit-Subventionen als Sofort-Maßnahme an. "Wir werden eine Unterstützung bei den Treibstoffpreisen beibehalten, da die Preise immer noch sehr hoch sind", sagte er. Diese Unterstützung solle aber "effizienter" sein und in erster Linie denen zugute kommen, die auf ihr Auto angewiesen sind und geringere Einkommen haben. 

Einen seiner umstrittensten Pläne hat Macron hingegen erstmal auf den Herbst verschoben: die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters auf 64 oder 65 Jahre. Im ersten Anlauf hatte es dagegen bereits massiven Widerstand gegeben, mit Blick auf die Altersverteilung seiner Wählerschaft dürfte es auch diesmal heikel werden.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Doch selbst die beste Agenda ist in Frankreich ohne die entscheidenden Mehrheiten im Parlament wenig wert. Die Stichwahl ist zwar noch keine 24 Stunden her, doch viel Zeit zum Feiern und Wunden lecken bleibt daher weder Macron noch Le Pen. Schon jetzt richtet sich die politische Aufmerksamkeit auf die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni. Die Wahl der Assemblée nationale dürfte Macrons erste große Feuerprobe werden, denn sie bestimmt, wie viel Spielraum der Präsident bekommt, um seine innenpolitische Agenda weiter zu verfolgen.

Bisher verfügt Macrons Koalition bestehend aus seiner eigenen Partei "La République en Marche" (LREM), den liberalen Zentristen namens "MoDem" sowie "Agir", eine Abspaltung von bürgerlichen Republikanern, über eine starke Mehrheit von 345 Sitzen. Viele bezweifeln jedoch, dass Macron die gleiche überwältigende Mehrheit wie 2017 erhalten wird, als der politische Aufsteiger noch auf einer Welle der Begeisterung ins Amt rollte. Nun muss Macron alles daran setzen, sich eine Mehrheit von mindestens 289 Abgeordneten zu sichern.

Sein größter Gegenspieler dürfte dabei der Linke Jean-Luc Mélenchon sein, dessen Anhängerinnen und Anhänger bei der Stichwahl nur für Macron gestimmt hatten, um Le Pen zu verhindern. Das Momentum der Frustration über die "Pest oder Cholera"-Wahl will sich Mélenchon nun selbst zu Nutze machen und die linken Kräfte gegen Macron mobilisieren. Seine Partei "La France Insoumise" (LFI) ist dazu bereits in Bündnisverhandlungen mit den Grünen und den Kommunisten getreten.

Im Rechtsaußen-Lager sieht es dagegen trotz des kämpferischen Auftretens von Le Pen derzeit nicht nach einer Allianz zwischen den beiden Flügeln aus. Der rechtsextreme Ex-Kandidat Eric Zemmour hatte am Vorabend zu einem Wahlbündnis aufgerufen, jedoch nicht ohne den süffisanten Hinweis, "dass der Name Le Pen sich zum achten Mal mit einer Niederlage verbindet". Daraufhin schimpfte RN-Vizechef Louis Aliot, Zemmour solle "von seinem hohen Ross runtersteigen". "Ich sehe nicht, wie es ein Bündnis mit Reconquête (Zemmours Partei) geben könnte", kritisierte er.

Dass sein Sieg in der Stichwahl erst der Anfang war, weiß auch Emmanuel Macron. Kein Wunder also, dass dem Präsidenten am Abend seiner Wiederwahl selbst nicht nach Feiern zumute war. "Macht Ihr mal Party, ich gehe wieder an die Arbeit", sagte er nach seiner Rede vor dem funkelnden Eiffelturm zu seinen Mitarbeitern.

Quellen: "Le Figaro", "phoenix", "NY Times", "Die Zeit", "Ipsos", mit AFP-Material