GESPERRT! Sarah Palin Vorsicht, bissig!

Sie nimmt die Bibel wörtlich, ist gegen Abtreibung auch nach Vergewaltigung und kennt die Welt nur aus dem Fernsehen. Doch die Provinzpolitikerin hat gute Chancen, Vizepräsidentin der USA zu werden.

Viele Kirchen, viele deutsche Namen, grün die Hügel, redlich die Menschen. Cedarburg, Wisconsin, ist "small town America". Das Amerika jenseits der Metropolen, anständig, ordentlich. Die Bürgersteige sind geputzt, auf der Kreuzung Washington Avenue/Columbia Road drängt sich das Wahlvolk mit handgeschriebenen Plakaten: "Unabhängige für McCain", "McCain for President". Vor allem aber: "Palin rocks!" Mehrere Tausend sind gekommen, um Sarah Palin zu sehen, 44, Kandidatin für das Amt des Vizepräsidenten der USA. Die Frau, die neulich noch gefragt hatte: "Was macht ein Vizepräsident eigentlich den ganzen Tag?"

In Kleinstädten wie Cedarburg wird das Rennen entschieden. Bei den letzten Wahlen hatten die Demokraten in Wisconsin nur mit einem Prozent Vorsprung gewonnen. Noch führt Barack Obama in den Umfragen. Aber manchmal reichen schon ein paar Stimmen, um einen ganzen Bundesstaat umzudrehen. Ein paar Stimmen, die Sarah Palin liefern soll. Hier in Cedarburg soll sie auf Tuchfühlung mit dem Volk gehen. Rollout nennen das die Politstrategen. Markteinführung.

Hockey-Mütter

Bis vor zwei Wochen kannte sie so gut wie niemand, da war Sarah Palin fünffache Mutter und Gouverneurin in Alaska, die an Konferenzen über Frauen in Führungspositionen teilnahm und dabei über ihre Erfahrungen als Bürgermeisterin einer Kleinstadt plauderte. Jetzt wird sie als politischer Glücksfall der Republikaner gefeiert, als Heldin einer neuen konservativen Frauenbewegung gar. Symbolfigur der "Hockey Moms" - der weißen Vorstadtfrauen, die ihre Kinder zum Training und zu Sportveranstaltungen kutschieren. Und die verdammt noch mal stolz darauf sein wollen.

"Hockey-Mütter für John McCain", steht auf dem Plakat von Kathleen Lawlor, 50, blond, schlank, neun Kinder, aber sie spricht nur von Sarah Palin. Wie konservativ sie ist, und wie sie gegen Abtreibung kämpft. "Sarah hat eine große Familie, so wie wir. Sie steht zu ihrer Familie, so wie wir." Der behinderte Sohn? "Ist er nicht ein wunderbares Baby?" Die schwangere Tochter Bristol, gerade einmal 17 Jahre alt? "Ja, sie hat Mist gebaut. Aber hat nicht jeder in seiner Familie mal Probleme?"

Sarah Palin lächelt und schüttelt Hände, als ob sie nie in ihrem Leben etwas anderes gemacht hätte. Ihre Rede liest sie von einem Blatt ab, manchmal noch etwas holprig, doziert mit erhobenem Zeigefinger. Sie spricht von der Liebe zu Amerika, von Heldentum und Opferbereitschaft. Vom "wahren Wandel", den McCain nach Washington trage. Vom gottgegebenen Krieg im Irak und vom "Sieg unserer Truppen". Ja, vom Sieg. "Selbst Obama musste es zugeben."

Das alles verkündet sie im warmen Akzent des Mittleren Westens. Diese Sarah Palin spricht wie George W. Bush - ohne an George W. Bush zu erinnern. Nach ihr tritt John McCain auf, der Präsidentschaftskandidat. Man applaudiert höflich, als er den Washingtoner Bürokraten den Kampf ansagt. Aber man jubelt, als er über Sarah Palin spricht. "Wissen Sie, was Sarah machte, als sie Gouverneurin wurde? Sie verkaufte den Gouverneurs-Jet auf Ebay und machte auch noch Gewinn. Ich kann es kaum erwarten, sie nach Washington zu bringen." Und dazu strahlt er, stolz wie ein Vater - obwohl der Jet gar nicht auf Ebay verkauft wurde.

Es war klar, dass John McCain der Strahlkraft seines jungen, charismatischen Konkurrenten Barack Obama etwas entgegensetzen musste - und zwar rasch. Obama hatte mit seiner kämpferischen Rede vor 80.000 Fans und 38 Millionen Fernsehzuschauern gerade alle Rekorde geschlagen. Eine Überraschung musste her, ein Knallbonbon, ein Wunder.

Der Überraschungsfaktor

Monatelang hatte man unter höchster Geheimhaltung nach dem passenden Kandidaten für die Vizepräsidentschaft gesucht. Viele Namen standen auf der Liste, auch der einer gewissen Sarah Palin. John McCain hatte sie erst einmal getroffen, am Rande einer Konferenz. Doch die Konservativen drängten: Sie sei eine Frau für die Basis, vertrete eine neue Generation republikanischer Politikerinnen, die auch gegen vorgingen. Eine Frau, die ihr Leben zwischen Kirche, Blackberry und Milchpumpe erfolgreich meistert und auch noch Zeit fürs Lachsfischen in der stürmischen Bristol Bay findet. Ein langes Gespräch auf Mc- Cains Ranch in Arizona gab dann den Ausschlag, dass der 72-Jährige sie nominierte. Für ein Amt, nur einen Herzschlag von der Präsidentschaft entfernt.

Palins erste Rede sahen 37 Millionen Zuschauer, innerhalb weniger Tage gingen mehr als zehn Millionen Dollar Spenden bei den Republikanern ein. Sie gilt schon jetzt als Star, und Amerikaner lieben Stars, die aus dem Nichts kommen. Die Nation ist neugierig auf diese Frau von "der letzten Grenze", wie die Amerikaner ihren 49. Bundesstaat nennen.

Alaska ist das größte und wildeste Stück Amerika, fast fünfmal so groß wie Deutschland. Doch nur 680.000 Menschen leben hier, so viele wie in Frankfurt. Jeder kennt jeden, und jeder erzählt Geschichten über jeden.

Besonders gern über Sarah Palin, die Beautyqueen, die gern High Heels trägt, die morgens um halb fünf aufsteht, um Karriere und Kinder hinzukriegen. Aber auch über die kleine Provinzfürstin, die gewiefte Taktikerin, die sich nur für Themen stark macht, mit denen sie gut ankommt. Die heute gegen die Verschwendung von Fördergeldern aus Washington hetzt, aber als Bürgermeisterin von Wasilla Lobbyisten beauftragte, ihrem Dorf 27 Millionen Dollar Subventionen zu verschaffen - pro Kopf 20-mal so viel wie im Rest der USA. Die streng Gläubige, die in den Schulen auch den Kreationismus unterrichten lassen will, die Lehre von der Erschaffung der Welt ohne Evolution. Und alle sagen: Man sollte Sarah Palin auf keinen Fall unterschätzen.

Pitbull mit Lippenstift

An dem Abend, als sie auf dem Parteitag der Republikaner im fernen St. Paul ihre erste große Rede hält, versammeln sich ihre Anhänger im "Tailgater's". Die Bar liegt an der Hauptstraße von Wasilla, einem Städtchen von rund 8000 Einwohnern, Palins Heimatort. Fast alle tragen T-Shirts mit "Go Sarah!". Als ihre Heldin im Fernsehen fragt: "Kennen Sie den Unterschied zwischen einer Hockey Mom und einem Pitbull?", wissen sie die Antwort schon vorher und schreien: "Der Lippenstift."

Sie kennen ja ihre Sarah, wie sie den alten, korrupten Politikern in Alaska zugesetzt hat. "Das ist unser Mädchen. Sie kann sehr weiblich, sehr fürsorglich sein, aber dir auch ins Gesicht springen, wenn es sein muss", sagt der Bootsbauer Greg Bryant. Er will gerade einen Schluck von seinem Bier nehmen, hält aber inne, als er hört, dass Palin wieder Obama attackiert. Bryant ist ganz erregt: "Dieser Blick, als würde sie gleich zubeißen, das ist Sarah."

"Sarah Barracuda" lautet ihr Spitzname aus der Zeit, als sie Basketball spielte und ihre Schulmannschaft zur Landesmeisterschaft führte. Sie war nicht die Beste, aber die mit dem meisten Biss. Sechs Jahre lang war Sarah Palin Bürgermeisterin in Wasilla, dann Vorsitzende der mächtigen Öl- und Gaskommission. Nach einem Jahr kündigte sie. Es heißt, sie wollte damit ein Zeichen gegen die Korruption und die Kungeleien ihrer eigenen Parteikollegen setzen. Sarah Palin machte sich schnell einen Ruf als Kämpferin gegen das Establishment. Sie wurde mit großer Mehrheit zur Gouverneurin gewählt.

Seit knapp zwei Jahren führt sie das Land. Der stetig steigende Ölpreis, die Haupteinnahmequelle Alaskas, brachte ihr zusätzliche Steuermilliarden. Sie musste weder die Abgaben erhöhen noch den Haushalt kürzen, wie viele Gouverneure in anderen Bundesstaaten - im Gegenteil: Vor Kurzem ließ sie jedem Bürger einen 1200-Dollar-Scheck zukommen, damit er die teuren Benzinpreise leichter bezahlen kann. Mehr als 80 Prozent der Bürger in Alaska sind mit ihr zufrieden. Doch nun wird auch ihr Amtsmissbrauch vorgeworfen. Sie soll einen Sicherheitschef gefeuert haben, nur weil der sich weigerte, Palins unliebsamen Exschwager zu entlassen. So wie sie immer Mitarbeiter entließ, die ihr nicht genehm waren.

Hauptqualifikation: Familienmensch

Politik betreibt sie als Familienunternehmen. Gatte Todd sitzt bei Konferenzen oft mit am Tisch, wichtige E-Mails bekommt er in Kopie, obwohl er gar kein Amt in ihrer Regierung hat. Den vier Monate alten Sohn Trig nimmt sie mit zur Arbeit. Und wenn sie telefoniert, dann stillt sie ihr Baby auch schon mal. "Wenn das meine Gesprächspartner wüssten, aber sie bekommen es ja nicht mit", erzählte sie Adele Morgan. Die Sängerin kennt Sarah schon seit der Schulzeit, sie ist oft bei den Palins zu Besuch, vor einigen Wochen hat sie nach der Geburt von Trig für die Familie gesungen, in dem großen Haus am Lake Lucille. Adele hat einige Fotoalben mitgebracht, Bilder von Sarah darf sie aber nicht mehr herausgeben. McCains Leute haben jetzt die Kontrolle übernommen über das Bild, das sich die Menschen von seiner Vizekandidatin machen sollen und von ihrem Leben.

Geboren wird sie nicht in Alaska, sondern in Idaho. Als sie drei Monate alt ist, ziehen ihre Eltern um. Ihr Vater ist Sportlehrer, die Mutter Schulsekretärin. Sie wächst auf wie die meisten Kinder in Alaska: mit Jagen und Fischen. In der Schule zeigt Sarah kein großes Interesse an Politik, später studiert sie Journalismus in Idaho. Sie nimmt an Schönheitswettbewerben teil und wird 1984 zur "Miss Wasilla" gewählt. Im Wahlkampf werden ihre Mitarbeiter später Sticker verteilen, auf denen steht: "Coldest State. Hottest Governor". Adele sagt: "Hey, ihr müsst euch daran gewöhnen, dass die Frauen in Alaska anders sind als bei euch. Sarah kann in den Wäldern pinkeln und später ihren Lippenstift auftragen und zum Dinner gehen."

Die Familie geht regelmäßig in die Kirche, aber keiner ist von der Bibel so fasziniert wie Sarah. "Auch wenn wir Basketball spielten, beteten wir gemeinsam. Das war Sarahs Idee", erzählt Adele. Sarah Palin besucht die Kirche "Wassila Bible Church", und sie glaubt, dass Gott sie auserwählt hat für eine Aufgabe, die größer ist als sie selbst. Die Religion bestimmt später ihr Handeln als Politikerin. Ihre Wahl zur Bürgermeisterin gewinnt sie mit dem Thema Abtreibung. Als sie Gouverneurin wird, bittet sie ihren Pastor um ein Beispiel aus der Bibel: Was macht einen großen Führer aus? Pastor Paul Riley antwortet ihr, sie solle im Alten Testament die Geschichte von Esther nachlesen, einer Schönheit, die einen Völkermord an den Juden im persischen Reich verhindert, weil sie dank Gottes Hilfe über sich hinauswächst.

Mit Todd Palin ist sie seit 20 Jahren verheiratet, er arbeitet mal als Fischer, mal in den Ölfördergebieten in der Arktis, mal führt er den Haushalt. Todd ist ein Titan in Alaska - viermal hat er den "Iron Dog" gewonnen, ein lebensgefährliches Schneemobilrennen über 2000 Meilen. Sarah und Todd kennen sich seit der High School, dort schrieben sich Mädchen seinen Namen auf die Hände, alle wollten ihn, Sarah bekam ihn. Sie heirateten am 29. August 1988, als Trauzeugen holten sie sich zwei Männer aus dem gegenüberliegenden Seniorenheim, einer saß im Rollstuhl. Acht Monate später kam ihr erster Sohn zur Welt, Track, benannt nach dem Aufstieg der Lachse in den Flüssen Alaskas.

"Ich habe nichts zu verlieren"

Sarah Palin zeigt ihre Familie gern her, wenn es ihrem Image dient. Doch von ihrer letzten Schwangerschaft wissen selbst ihre Familie und ihre besten Freundinnen nichts, bis sie im siebten Monat ist. Sarah Palin sagt: "Ich wollte nicht, dass Alaska denkt, ich könnte meine Aufgaben nicht erfüllen." Aber nun ist auch der Säugling, der am Down-Syndrom leidet, Teil des Wahlkampfs geworden. Ein Beispiel für die Standhaftigkeit der Abtreibungsgegnerin.

"Sarah ist voller Würde und Mitgefühl", ruft die Radiomoderatorin Laura Ingraham, die für ihre aggressive Talkshow berühmt ist, vergangene Woche bei einem Empfang der "Republican National Coalition for Life", der "Koalition für das Leben". "Sie lebt ihre Werte. Und deswegen ist sie die größte Bedrohung für die Eliten in unserem Land. Schon jetzt behandeln die Obama-hörigen Medien sie wie Dreck. Nur weil sie noch nicht so oft im Ausland war? Unsere Sarah repräsentiert alles, was die hassen: eine große Familie, den Schutz des ungeborenen Lebens, das Recht auf Waffenbesitz, Patriotismus und den Kampf gegen die Korruption."

Sarah Palin polarisiert diesen Wahlkampf. Die Demokraten hoffen auf einen Fehler, eine Dummheit, einen Skandal. Sie hoffen auf das erste Interview, auf das Fernsehduell der Vizepräsidentschaftskandidaten in drei Wochen. Dann tritt Sarah Palin, die erst seit 2007 einen Pass hat, aber immerhin in Kuwait, im Irak und in Deutschland zu Truppenbesuchen war, gegen den erfahrenen Senator Joe Biden an. Politprofis aus dem einstigen Team von George W. Bush arbeiten jetzt mit Sarah Barracuda wie in einem Trainingslager. Sie stellen Dossiers zusammen, üben Antworten, Angriffe, Ausweichmanöver. Sie sind optimistisch. Schließlich verläuft die Markteinführung Sarah Palins bislang besser als erwartet. Und Sarah Palin selbst scheint es zu genießen. "Ich habe nichts zu verlieren", sagte sie einmal. Sie vielleicht nicht. Ihr Land schon.

print