"Zwei norddeutsche Mädchen auf dem Weg zum IS", "Britische Schwestern reisen mit ihren Kindern nach Syrien": Die Schlagzeilen über Frauen, die in den Dschihad ziehen, sind auch in dieser Woche nicht abgerissen. Experten schätzen, dass sich bislang etwa 550 Westlerinnen den Islamisten in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Dabei ist der Islamische Staat nicht nur für Terror und Gewalt gegen seine Feinde bekannt, sondern auch für die Entrechtung von Frauen. Manche werden als Sexsklavinnen verkauft, viele zwangsverheiratet und alle unterdrückt. Was also finden junge Mädchen und Frauen so verlockend an einem Leben in dem selbsternannten Kalifat?
"Der IS verkauft eine islamische Utopie an junge Männer und Frauen", sagte Lina Chatib, die Leiterin des Nahost-Zentrums der Carnegie-Stiftung in Beirut, der Nachrichtenagentur AFP. "Ihnen wird vorgegaukelt, dass sie im einzigen islamischen Staat der Welt eine wichtige Rolle spielen könnten." Für Männer ist das die Rolle des Kriegers und Märtyrers. Frauen ist der Kampfeinsatz durch die Scharia-Gesetze eigentlich verboten, doch auch ihnen bietet sich die Chance, dem "Heiligen Krieg" zu dienen, indem sie den Kämpfern den Haushalt führen, Kinder gebären, Propagandaarbeit übernehmen, im Bildungs- und Gesundheitsbereich arbeiten oder auch Selbstmordattentate verüben.
"Wir leben hier in großer Glückseligkeit"
Übermittelt wird diese Utopie den Frauen im Westen durch die gut geschmierte Propagandamaschine des Islamischen Staates. Eine entscheidende Rolle dabei spielen die sozialen Netzwerke. Auf Twitter gebe es rund 46.000 von IS-Unterstützern betriebene Accounts, heißt es in einer im März veröffentlichten Studie der Brookings-Institution, einer US-Denkfabrik. Auch Facebook, Tumblr, Instant-Messenger-Apps wie Kik, Surespot und Whatsapp sowie die in mehreren Sprachen erscheinende IS-Zeitschrift "Dabiq" dienen den Islamisten als PR-Plattform und Kommunikationsmittel.
Die Botschaft, die der IS über diese Kanäle verbreitet, ist ebenso einfach wie radikal: Macht Hijrah! Wandert aus! Wenn ihr gute Muslime sein wollt, müsst ihr ins Kalifat kommen! Hijrah steht für den Aufbruch des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina, wo er den ersten islamischen Staat gründete.
In ihren Videos, Fotos und Texten verbreiten die islamistischen PR-Profis stets den Eindruck von paradiesischen Zustände im "Gottesstaat": "Wir leben hier wunderbar in großer Glückseeligkeit. Es gibt nichts, was wir uns noch wünschen könnten“, schwärmt ein Dschihadist aus Belgien in einem Propagandafilm mit dem Titel "Grüße zum Opferfest aus dem Kalifatstaat". "Kommt in diesen Staat, von dem wir uns erträumt haben, darin zu leben und bei seinem Aufbau mitzuwirken", sagt ein anderer Kämpfer. Dabei trägt er einen fröhlichen kleinen Jungen auf den Schultern, der mit Plastikwaffen spielt. In Zwischenschnitten zeigen die Filmemacher schaukelnde Mädchen, denen ein IS-Soldat fröhlich Anschwung gibt, lachende Kinder mit Zuckerwatte und Spielzeuggewehren und Dschihadisten, die Geschenke an sie verteilen; im Hintergrund taucht immer wieder ein Eiswagen auf und - westlicher geht es kaum - eine Bugs-Bunny-Hüpfburg mit Rutsche.

Das vom "Al Hayat Media Center", der Medienabteilung der Terroristen, verbreitete Video suggeriert eine heile Welt voller liebevoller Väter, in der Kinder sorglos und behütet aufwachsen; es dürfte damit vor allem junge Frauen ansprechen. Das versucht auch Aqsa Mahmood, eine Schottin, die 2014 nach Syrien ausreiste, um dort einen IS-Kämpfer zu heiraten. "Wir müssen keine Miete zahlen, wir bekommen die Häuser umsonst", schreibt sie in ihrem Blog "Diary of a Muhajirah" ("Tagebuch einer Reisenden") . "Auch Strom- und Wasserrechnungen müssen wir nicht bezahlen. Jeden Monat erhalten wir Lebensmittel: Nudeln, Konserven, Reis, Eier." Mahmood agiert via Tumblr und Whatsapp als Ratgeberin und Ansprechpartnerin für Auswanderungswillige. Ihr Blog gilt als einer der wichtigsten an Frauen gerichteten Propagandakanäle des IS.
"Der zivilgesellschaftliche Blickwinkel nimmt immer eine Schlüsselfunktion in ihrem Marketing ein", erklärte ein Experte der Brookings-Institution der "Washington Post" die PR-Taktik des Islamischen Staates. Und dieser Blickwinkel soll vor allem eines zeigen: die Vorteile und die Normalität des Alltagslebens im Kalifat. Zahlreiche Twitter-Botschaften aus dem "Gottesstaat" belegen das.
"Live aus dem Islamischen Staat: essen mit hubby wubby♥", schreibt eine Islamistin zu diesem Foto eines offenbar romantischen Dinners.
"Mittagszeit unter dem Kalifat. Genau, Hühnchen und Pommes und Pizza, Fastfood gibt es hier auch" heißt es in diesem Post.
"Gerade zurück von einem Tagesausflug mit den Mädchen zu einem Frauen-Souk. Alte Gewohnheiten sind schwer totzukriegen, sogar unter dem Islamischen Staat", verkündet diese Shopperin.

Sogar voll verschleierte Frauen, die mit automatischen Gewehren vor einem BMW posieren, finden sich auf Twitter. "Es war auch eine Woche, in der IS-Frauen/Witwen Fotos mit einem "wünschte Du wärst hier"-Ton gepostet haben. Neue Rekrutierungsmethoden", kommentierte die preisgekrönte libanesisch-britische Journalistin und Islam-Expertin Hala Jaber diese Bilder.
Doch so ausgefeilt und modern die Rekrutierungsmethoden auch sein mögen, sie müssen auf fruchtbaren Boden fallen, damit die Islamisten eine Ernte einfahren können. Einen Hinweis auf das, was der IS-Propaganda bei Mädchen und Frauen im Westen den Boden bereitet, gibt der sehr persönliche Artikel der britischen Muslima Javaria Akbar im "Telegraph": "So undenkbar es scheint, es gibt einen winzigen Fleck in mir, der versteht, warum einer von sieben britischen Dschihadisten, die in den Irak und nach Syrien gegangen sind, Frauen sind", schreibt sie. "Was ich verstehe, ist die verzweifelte Suche einen Ort zu finden, wo man dazugehört - der menschliche Wunsch gehört und wertgeschätzt zu werden, ist unglaublich stark." Akbars Text trägt die Überschrift: "Warum kann ich keinerlei weiße Freunde gewinnen?"
Das Problem der Ausgrenzung sieht auch Sara Khan, Mitbegründerin der britischen Menschenrechtsorganisation Inspire, als ein Motiv für den Hijrah: "Diese jungen Frauen fühlen sich nicht, als gehörten sie in die westliche Gesellschaft und wollen dringend Teil von etwas Größerem werden, sagte sie dem "Telegraph". "Der IS sieht aus, als böte er diese Utopie: ein realer Staat, und einer, der einer muslimischen Schwesternschaft Schutz bietet."
Gefährliche Interaktion mit der Psyche anderer
Bei jungen Mädchen ist oft auch ein viel banaleres Motiv Grund für ihre Abkehr von der westlichen Welt: Auflehnung gegen die Eltern. Die französischen Teenagerinnen, die in den Dschihad zögen, stammten häufig aus Familien, in denen Religion kaum praktiziert werde oder die Eltern sogar Atheisten seien, erklärte die Forscherin Géraldine Casutt laut "Spiegel Online". "Meine Tochter verkündete mir, sie habe mir nichts mehr zu sagen, weil ich Atheistin bin", erzählte eine Mutter demnach der Anthropologin Dounia Bouzar. Das Motiv der Rebellion gegen die als zu liberal und angepasst empfundene Familie gilt ebenso für junge Deutsche: Viele verließen das Land gegen den Willen ihrer Eltern, hauten einfach ab, und die verzweifelten Mütter und Väter könnten nur Vermisstenanzeigen aufgeben, sagte ein deutscher Ermittler der "Zeit".
“Der Islamische Staat ist höchstgefährlich durch seine Interaktion mit der Psyche, den Fantasien, den Frustrationen und den Ängsten anderer", schreiben Peter Harling, von der International Crisis Group und die "Economist"-Korrespondentin Sarah Birke in dem Blog "The Arabist". Er schafft es, vor allem junge Menschen so zu manipulieren, dass sie die Grausamkeit, Menschenverachtung und Unterdrückung, die im Kalifat herrschen, verdrängen oder sogar als gerechtfertigt ansehen, ihre Familie, Freunde und Heimat verlassen und sich ins Reich des Terrors begeben. Das Tragische ist: Für die Frauen und Männer, die den Verheißungen der Islamisten erliegen, gibt es kaum ein Zurück. Mehr als 120 Menschen wurden nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zwischen Oktober und Dezember 2014 getötet, weil sie versuchten, das IS-Territorium zu verlassen.