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Aussetzung der Justizreform "Israel befindet sich am Rande des Abgrunds"

Menschen demonstrieren am Montag vor dem Parlament in Jerusalem
Menschen demonstrieren am Montag vor dem Parlament in Jerusalem gegen die umstrittene Justizreform
© Hazem Bader / AFP
Zehntausende Menschen in Israel hatten über Wochen gegen die geplante Justizreform der rechts-religiösen Regierung demonstriert. Nun macht Ministerpräsident Netanjahu offenbar einen Rückzieher – vorerst. So kommentiert die Presse die Lage. 

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat am Montagabend nach massiven Protesten und mehreren Krisengesprächen angekündigt, die Umsetzung der umstrittenen Justizreform für einige Wochen auszusetzen, um "Platz für Dialog zu schaffen" und "einen Bürgerkrieg zu vermeiden". Seit rund drei Monaten gehen regelmäßig Zehntausende, teils mehrere hunderttausend Menschen gegen das Vorhaben seiner rechts-religiösen Regierung zur Schwächung der unabhängigen Justiz auf die Straßen.

Trotz des angekündigten Stopps wollen Gegner der Regierungspläne ihren Protest weiterführen. "Wir werden die Demonstrationen nicht einstellen, bis der Justizputsch vollständig gestoppt ist", teilten die Organisatoren des Widerstands auf der Straße am späten Montagabend mit. Die Ankündigung von Netanjahu diene lediglich dazu, die Bevölkerung hinters Licht zu führen, "um den Protest zu schwächen und dann eine Diktatur zu errichten". Im Laufe des Dienstags seien mehrere Kundgebungen geplant.

Der Protest setzte sich bis in die Nacht zum Dienstag landesweit fort. In mehreren Städten kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. In der Küstenstadt Tel Aviv blockierten Demonstranten zeitweise eine wichtige Verbindungsstraße nach Jerusalem. Landesweit gab es bis zum Abend laut Medienberichten zwei Dutzend Festnahmen. Zum Teil setzte die Polizei Blendgranaten und Wasserwerfer ein, um gegen die Demonstranten vorzugehen.

Das sagt die deutsche und internationale Presse zur angespannten Lage in Israel:

Deutschland

"Neue Osnabrücker Zeitung": "Vorsicht ist geboten, denn verschoben ist nicht aufgehoben. Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt sagen, ob Netanjahu sein Vorhaben wirklich aufgibt oder einfach nur neue Wege sucht, um es doch noch umzusetzen. Netanjahu schränkt seit Monaten Stück für Stück massiv die Befugnisse der Justiz ein und ist sich dabei nicht zu schade, mit der Gewaltenteilung zu argumentieren. Die Judikative habe zu viel Macht und müsse in die Schranken verwiesen werden, behauptet er. Geht’s noch? Netanjahu und seine ultra-orthodoxe Regierungskoalition, der auch rechtsextreme Parteien angehören, haben das Prinzip der Gewaltenteilung wohl nicht verstanden."

"Märkische Oderzeitung" (Frankfurt/Oder): "Immerhin gibt es eine positive Seite der explosiven Lage in Israel: Die Dauerproteste und Streiks gegen den Abbau der Demokratie zeigen, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu es mit einer wachen Bürgerschaft zu tun hat, die in der Lage ist, seine Rechts-Regierung zumindest zu einer Verschiebung ihrer geplanten Justizreform zu zwingen. Netanjahu muss sich nun bis zum Sommer entscheiden: Will er seine Regierung retten oder den gesellschaftlichen Frieden? Das eine wie das andere stellt ihn vor Probleme. Ein Ausstieg seiner erzkonservativen Koalitionspartner, die das Gesetzespaket auf Gedeih und Verderb durchs Parlament bringen wollen, würde ihn seine Mehrheit im Parlament kosten. Aber auch die Konfrontation gegen weite Teile der Bevölkerung könnte ihn hinwegfegen. Angesichts dieser Alternativen kann man Netanjahu schon jetzt als Verlierer seiner Pläne ansehen."

"Rhein-Neckar-Zeitung" (Heidelberg): "Damit ist das Problem freilich nicht gelöst. Dass sich Netanjahus extremistische Koalitionspartner bis zum Sommer zu einem Kompromiss bewegen lassen, erscheint ausgeschlossen. Also dürfte der Regierungschef darauf hoffen, dass der Widerstandswille in der Bevölkerung erlahmt. Israels Zivilgesellschaft wird daher einen langen Atem brauchen, wenn sie die Demokratie bewahren will. Und auch die USA und die EU müssen Netanjahu weiterhin klarmachen, dass eine Abkehr vom Prinzip der Gewaltenteilung nicht akzeptabel wäre."

International

"Neue Züricher Zeitung": "Benjamin Netanjahu ist bekannt als gewiefter Stratege, der schon viele Krisen gemeistert hat. Doch im Streit um die Justizreform hat sich der israelische Ministerpräsident in eine Ecke manövriert, aus der es schließlich keinen einfachen Ausweg gab. Am Ende blieben ihm nur schlechte Optionen: Hielte er an dem umstrittenen Vorhaben zur Begrenzung der Befugnisse des Obersten Gerichts fest, liefe er Gefahr, dass das Land durch die Proteste der Gegner komplett gelähmt würde. Gäbe er hingegen ihren Forderungen nach einem Stopp der Reform nach, drohte seine Koalition zu platzen.

Dass Netanjahu nun eingelenkt und die Reform zumindest vorläufig auf Eis gelegt hat, ist richtig. Ein echter und ehrlicher Dialog mit den Gegnern ist überfällig. Es sind keineswegs nur säkulare Linke, die gegen die Reform demonstrieren, wie es das Regierungslager behauptet. Auch viele Religiöse und Rechte sind besorgt, dass die Regierung zu viel Macht erhielte, wenn sie mit einfacher Mehrheit in der Knesset jeden Beschluss des Obersten Gerichts überstimmen könnte. Doch die Reform ist nur verschoben, nicht aufgehoben. Gelöst ist der Konflikt damit nicht."

"La Vanguardia" (Spanien): "Netanjahu versucht, die Spannungen zu entschärfen und Zeit zu gewinnen, gibt die Reform aber nicht auf. [...] Israel ist eine Demokratie, aber ohne ein wirksames System der gegenseitigen Kontrolle der Staatsgewalten könnte es diese Eigenschaft verlieren. Das Land hat keine Verfassung und keine zweite Parlamentskammer, so dass die Judikative und der Oberste Gerichtshof die einzigen sind, die den Auswüchsen der politischen Macht Einhalt gebieten können. Die (rechtskonservative) Likud-Partei und ihre Partner wollen das Verfahren zur Auswahl der Richter kontrollieren, womit die Regierung kaum noch einer Kontrolle unterzogen sein würde. Die extreme Polarisierung der israelischen Gesellschaft kann zu gewalttätigen Unruhen führen, die das Land in eine gefährliche Grenzsituation bringen würden, sollte die Justizreform noch verabschiedet werden. Israel befindet sich am Rande des Abgrunds."

Außerdem ist der Ministerpräsident selbst wegen Korruption angeklagt und hofft, dass er dank der Reform nicht ins Gefängnis muss. Viele bezweifeln, dass Netanjahu bereit ist, seine eigenen Interessen zum Wohle des Landes zu opfern." 

"De Standaard" (Belgien): "Dass sich letztlich ein Kompromiss über eine Verschiebung der Reform abzeichnete, ist wenig beruhigend. Denn die Ultranationalisten knüpfen ihre vorläufige Geduld an die Schaffung einer Nationalgarde, die direkt dem rechtsextremen Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir unterstellt wäre. In der Praxis würde dies auf die offizielle Schaffung einer nationalen Schlägertruppe hinauslaufen, die von Fanatikern vorangetrieben wird, die eine anti-palästinensische und religiöse Gewaltagenda verfolgen. Dieses Szenario wird nicht nur zu Gewalt gegen gemäßigte Israelis und Palästinenser führen, sondern auch so manchen High-Tech-Unternehmer aus dem Land treiben. Israel wird sich dann nicht nur in einer noch nie dagewesenen internationalen Isolation, sondern auch in einem wirtschaftlichen Abwärtsstrudel wiederfinden."

"The Times" (Großbritannien): "Netanjahu muss diese Verzögerung nutzen, um einen Kompromiss zu finden. Viele Israelis akzeptieren die Notwendigkeit einer gewissen Justizreform. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass in Israel über die angemessene Rolle der Gerichte in einer Demokratie diskutiert wird und darüber, wie ein Gleichgewicht zwischen Mehrheitsherrschaft und Minderheitenrechten hergestellt werden kann. Durch die Ablehnung aller bisherigen Kompromissangebote haben Netanjahu und seine Koalitionspartner es jedoch nahezu unmöglich gemacht, einen Konsens zu erzielen. Die größte Gefahr besteht nun darin, neue Gesetze zu verabschieden, die vom Obersten Gerichtshof umgehend abgelehnt werden. Dies würde zu einer Verfassungskrise führen, die die Legitimität der Regierung in Frage stellen und Israel in ein noch größeres Chaos stürzen würde."

yks DPA

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