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Wikileaks-Gründer Julian Assange und die Geschichte hinter seiner "geheimen Familie"

Julian Assange, Stella Moris und ihre gemeinsamen Söhne Max und Gabriel
Links: Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft (2016). Rechts: Stella Moris mit den gemeinsamen Söhnen Max (l.) und Gabriel (r.) 
© BEN STANSALL/Aaron Chown/PA Wire / AFP / DPA
Julian Assange droht die Auslieferung in die USA. Es dürfte kein Zufall sein, dass sich ausgerechnet jetzt Stella Moris ausführlich zu Wort meldet – seine Verlobte und die Mutter seiner beiden Söhne. 

Julian Assange sagte im Jahr 2014, dass er die ecuardorianische Botschaft "bald" verlassen wolle. Er verließ sie im April 2019. Nach sechs Jahren, neun Monaten und 24 Tagen.

Britische Polizisten haben ihm vom Botschaftsgelände in London abgeführt, wo er aus Furcht vor einer Auslieferung in die USA Zuflucht gesucht hatte. Die Botschaft entzog ihm das Asylrecht, wegen des Verstoßes gegen Kautionsauflagen wurde er verhaftet. Noch am selben Tag stellten die USA den Antrag auf Auslieferung. Assange musste die immer selben vier Wände verlassen, rund 35 Quadratmeter, die für fast sieben Jahre seine kleine Welt gewesen waren. 

Diese kleine Welt ist vermutlich einer noch kleineren gewichen. Seit mehr als einem Jahr ist er in einer Zelle im Londoner Hochsicherheitsgefänigs Belmarsh inhaftiert, wo der 49-Jährige das Auslieferungsverfahren abwartet.

Die USA werfen dem Wikileaks-Gründer Geheimnisverrat vor. Er soll der Whistleblowerin Chelsea Manning geholfen haben, geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan zu veröffentlichen. Die Veröffentlichungen auf der Enthüllungsplattform hatten auch zur Aufdeckung von Kriegsverbrechen durch amerikanische Soldaten geführt. 

An diesem Montag wird die Verhandlung zum US-Antrag auf Auslieferung Assanges fortgesetzt. Bei einer Verurteilung in allen Anklagepunkten drohen ihm bis zu 175 Jahre Haft. 

Es dürfte kein Zufall sein, dass sich ausgerechnet jetzt Stella Moris ausführlich zu Wort meldet. Die 37-Jährige hat Assange jahrelang begleitet: zunächst als Juristin in seinem Anwaltsteam, später als Freundin – und schließlich Partnerin, Verlobte und Mutter seiner Kinder.

"Für Julian wäre die Auslieferung ein Todesurteil", sagt Moris im ausführlichen Gespräch mit der britischen "Sunday Times". Sie befürchtet, dass sich Assange das Leben nehmen könne. "Für den Rest der Familie bedeutet es etwas, das nicht weit davon entfernt ist."

Liebe unter widrigen Umständen

Moris gewährt sehr private Einblicke in ihre "geheime Familie", wie die "Sunday Times" die Schilderungen überschreibt, über die erst im April dieses Jahres erste Informationen durchgesickert sind. Für sie sitzt auf der Anklagebank nicht der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, sondern der Vater ihrer mittlerweile zwei Söhne – der eine drei Jahre, der andere ein Jahr. Und ein Mann, über den ein UN-Rechtsexperte gesagt hat, er zeige alle Symptome eines psychisch gefolterten Menschen.

Die Anhörung am Zentralen Strafgerichtshof in London wird voraussichtlich drei bis vier Wochen dauern. Ursprünglich sollte das Verfahren im April fortgesetzt werden, wegen der Corona-Pandemie musste es jedoch unterbrochen werden. Moris fordert erneut seine Freilassung. Assange sei in schlechter körperlicher Verfassung, sagt sie.

Ihre Sorge vor einer Auslieferung ist groß. "Meine Kinder wären vaterlos und ich würde den Mann verlieren, den ich für immer liebe", sagt Moris der Zeitung. "Nicht einmal jetzt weiß ich, ob meine Kinder jemals wieder in den Armen ihres Vaters gehalten werden."

Ob sie sich nicht dem Risiko bewusst gewesen sein müsste, wenn sie und Assange Kinder bekämen? "Wir haben uns viele Jahre gekannt", erklärt sie. "Wir haben uns verliebt." Sie hätten eine stabile, langfristige Beziehung gehabt und wollten eine Familie gründen. "Es ging darum, die Kontrolle zu erlangen. Dies war keine Entscheidung, die jemand stören konnte. Es war sehr elementar." Auch Menschen, die in Kriegsgebieten waren, würden sich verlieben und Kinder wünschen. Allen Umständen zum Trotz.

Die Umstände von Assanges und Moris' Liebe waren durchaus eine Herausforderung, mitunter eine Zumutung. Die Juristin mit spanischer und schwedischer Staatsbürgerschaft, spezialisiert auf Menschen- und Flüchtlingsrechte, lernte Assange 2011 kennen. Sie wurde Teil seines Anwaltsteams. Damals ging es um die Vergewaltigungsvorwürfe in Schweden, die zwei Frauen gegen ihn erhoben hatten. Es lag ein europäischer Haftbefehl gegen Assange vor. Die Ermittlungen wurden zwar eingestellt, doch seine Angst vor Auslieferung an die USA blieb – und Assange folglich in der ecuadorianischen Botschaft. 2015 wurden Moris und Assange ein Paar. Viel Privatsphäre hatten sie dort nicht. 

"Da waren 24/7 Sicherheitsleute und Überwachungskameras, außer in seinem Schlaf- oder Arbeitszimmer", so Moris. Offiziell. Dabei soll geradezu jeder Winkelzug seiner vier Wände verwanzt gewesen sein, wie unter anderem eine Recherche von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" nahelegen. Das glaubt auch Morris. "Doch alles private oder geheime habe ich auf einen Papierzettel geschrieben. So habe ich Julian gesagt, dass ich schwanger bin." Die Geburt seiner Söhne habe er im Video und am Telefonhörer gesehen beziehungsweise gehört.

Sie hätten viel getrickst, um die Schwangerschaften vor dem Botschaftspersonal zu verbergen und einen möglichen Vorwand zu verhindern, Assange rauszuschmeißen. Bei jedem Besuch, sowohl bei der Schwangerschaft mit Gabriel, drei, als auch mit Max, eins, habe sie versucht ihren Babybauch durch zahlreiche Klamottenschichten zu kaschieren. In der Botschaft habe sie dann demonstrativ und lauthals geklagt, dass sie an Gewicht zugenommen habe – damit die Mikrofone es mitschneiden.

Nachdem Gabriel geboren wurde, der erste Sohn, habe ihn Stephen Hu in die Botschaft getragen. Ein Schauspieler und Freund von Moris, der vorgab, Vater des Jungen zu sein. Moris habe ihre Ankunft später geplant. So konnte die Familie beisammen sein, ohne dass jemand Verdacht schöpft. Als Max geboren wurde, der zweite Sohn, wurden dem Paar die mittelbaren Besuche zu riskant. Es wurden bereits erste Berichte über Assanges zunehmend erratisches Verhalten durchgestochen. 

Und so habe Assange seinen neugeborenen Sohn Max erst im Hochsicherheitsgefängnis in Belmarsh kennengelernt. Seit März diesen Jahres, mit Beginn der Corona-Pandemie, seien auch diese Besuche passé. "Für Max", sagt Moris, "ist Daddy eine körperlose Stimme am Telefon." Videotelefonate seien nicht erlaubt. Assange habe zwar Zugriff auf das Gefängnistelefon, allerdings nur zu bestimmten Uhrzeiten und jeweils nur für zehn Minuten.

"Willst du mich heiraten?"

Während des Treffens mit der "Sunday Times" habe Assange drei Mal bei Moris angerufen, schreibt die Reporterin. Eine Woche nach dem Treffen wurde Moris und den Söhnen ein Besuch im Gefängnis gestattet worden. Der erste seit März. Sie hätten 45 Minuten Zeit gehabt, hätten Mund-Nasen-Schutz und zerkratzte Visiere tragen müssen – Moris habe Assange kaum sehen und hören können. Die Kinder hätten still auf ihren Stühlen sitzen müssen, so Moris: Wären sie Assange zu nahe gekommen, habe ein Wärter gedroht, wäre das Treffen abgebrochen und Assange für zwei Wochen in Isolation gesteckt worden.

Eine normale Beziehung bleibt ihnen schon seit Jahren verwährt. Den Hochzeitsantrag habe Assange während der ersten Schwangerschaft gemacht, mithilfe eines Virtual-Reality-Headsets. Ein Haus, Ballons und ein Strand warteten in der virtuellen Welt auf sie, so Moris. Im Himmel stand geschrieben: "Willst Du mich heiraten?" Die Hochzeit liegt wegen der Pandemie auf Eis.

Erstmals getroffen hätten sie sich 2011. Moris sollte Teil des Anwaltsteams werden, das Assange gegen die Vergewaltigungsvorwürfe in Schweden verteidigt. Assange hielt sie zunächst für eine Journalistin. Nein, Liebe auf den ersten Blick war es nicht, so Moris. Die ersten vier Jahre sei ihre Verhältnis zueinander rein professionell gewesen. Vor 2015 seien sie nicht intim geworden.

Hätten Moris die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange nicht gestört? "Ich spreche fließend schwedisch und habe die Polizeiakte vor unserem ersten Treffen gelesen", sagt sie zur "Sunday Times". "Es ist ein 80-seitiges Dokument und ich habe die Berichterstattung in den schwedischen Medien verfolgt. Es war sehr klar für mich, dass dieser Fall politisiert wird." 

Günter Wallraff kämpft für Julian Assange Freiheit – und für die Pressefreiheit

Assanges Aufstieg war spektakulär, so auch sein Fall: 2011 wurde die Enthüllungsplattform Wikileaks für den Friedensnobelpreis nominiert, der Gründer der Enthüllungsplattform mit Journalistenpreisen überhäuft. Dann kamen die Vergewaltigungsvorwürfe. Aus dem radikalen Verteidiger der Meinungsfreiheit und Transparenz wurde in der öffentlichen Wahrnehmung ein Mann, der Frauen schlecht behandelt.  

Moris hielt ihm auch in dieser Zeit die Treue, wenn auch professionell. Und privat? Was dachte sie, als Fürsprecher Assanges – wie etwa Ex-"Baywatch"-Star Pamela Anderson oder die Musikerin Lady Gaga – ihn in der Botschaft besuchten? Eifersucht? "Ich möchte lieber, dass über Pamelas Besuch berichtet wird als über meine Schwangerschaft", so Moris, "und es hat dafür gesorgt, dass Pamela ins Fernsehen kommt, und sie redet sehr artikuliert." 

Ihre Beziehung wurde bis zu einer Anhörung Ende März diesen Jahres nicht öffentlich. Moris hatte Sorge, dass sich Assange – durch seinen Aufenthalt in der Botschaft gesundheitlich gezeichnet – im Gefängnis mit Covid-19 infizieren könnte und erbat in einem Statement, ob sie bis zum Auslieferungsprozess nicht zusammen in West-London leben könnten. Das Anliegen wurde abgelehnt, doch das Statement vor Gericht wurde öffentlich. Die Katze war aus dem Sack.

Seitdem hat sich Moris häufiger an die Öffentlichkeit gewandt und die Freilassung Assanges gefordert. Ob sie zuversichtlich sei, dass die Justiz in Großbritannien das Ersuchen der USA ablehne, will die Reporterin wissen. "Ja", so Morris. Sie habe die Hoffnung, dass Großbritannien an seinen Werten festhalte. Die Reporterin der "Sunday Times" habe Moris daraufhin viel Glück gewünscht, schreibt sie. Assange habe Glück, Moris an seiner Seite zu haben. "Das sagt er", sagt Moris. 

fs / Mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP

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