Erschossene, gefesselte Menschen am Straßenrand, bis auf die Grundmauern zerbombte Kranken- und Wohnhäuser, völlig verwüstete Straßenzüge: Bilder aus Butscha, Borodjanka oder Mariupol gehen in die Geschichte ein. Zum einen stehen sie sinnbildlich für die Brutalität des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Zum anderen sollen sie als Beweise dienen. Als Beweise dafür, dass der Kreml willentlich das Völkerrecht gebrochen und Kriegsverbrechen der eigenen Soldaten entweder forciert, mindestens aber bewusst in Kauf genommen habe.
Juristen sind fest überzeugt, dass bei den Morden von Butscha und anderswo jegliche Grenzen überschritten wurden. "Ohne Zweifel. Das geht aus allem hervor, was wir jeden Tag im Fernsehen sehen", sagt Geoffrey Nice, ehemaliger ein Anwalt am Internationalen Strafgerichtshof, dem US-Sender "ABC News" auf die Frage, ob er Anzeichen für russische Kriegsverbrechen in der Ukraine sehe. Doch, ob sich russische Entscheidungsträger, vielleicht sogar Kremlchef Wladimir Putin selbst eines Tages für die Brutalität seines Militärs verantworten müssen, ist fraglich.
Kriegsverbrechen – eine Definitionsfrage
Wie bei jeder Straftat geht es auch bei Völkerrechtsverstößen zunächst um Definitionsfragen. Denn nicht jeder Angriff auf Zivilisten gilt laut Völkerrecht automatisch als Kriegsverbrechen. Tatsächlich, so das australische Mediennetzwerk "The Conversation", werden im Krieg "Kollateralschäden" bis zu einem gewissen Maße toleriert. So grausam es ist: Im Krieg sterben Menschen. Auch Zivilisten.
Sobald Vorsätzlichkeit ins Spiel komme, sei der Deutungsspielraum allerdings ausgereizt. Insofern ein Zivilgebäude nicht auch für militärische Zwecke genutzt würde, ist ein Angriff ein Kriegsverbrechen. Vergewaltigungen, Hinrichtungen und Folter sind ebenfalls ein klarer Verstoß. Gleiches gelte für "unverhältnismäßige" Angriffe – sprich, wenn zivile Verluste nicht mehr mit militärischem Nutzen zu rechtfertigen sind. Auch der Einsatz bestimmter Waffen und Munition kann ein Kriegsverbrechen sein. Dazu zählt in vielen Fällen Splittermunition oder Vakuumbomben, bei denen der Angreifer den Tod von Zivilisten wahllos in Kauf nimmt.
Internationaler Strafgerichtshof ermittelt seit 2014 in der Ukraine
Im Fall der Ukraine haben Anfang März, eine Woche nach Beginn der russischen Invasion, 39 Staaten das Vorgehen der Invasoren als potenziell völkerrechtswidrig erklärt und den Fall an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag verwiesen. Der nahm unverzüglich die Ermittlungen auf.
Diese Untersuchungen waren allerdings nicht das erste Mal, dass sich der IStGH mit mutmaßlichen (pro-)russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine auseinandersetzt. Bereits 2020 hatte dessen damalige Chefanklägerin, Fatou Bensouda, "eine vernünftige Grundlage für die Annahme" von Kriegsverbrechen in der Ostukraine gesehen, die seit Konfliktbeginn 2014 aufgetreten wären. Angeklagt wurde am Ende niemand.
Acht Jahre später will Bensoudas Nachfolger Karim Khan diese "Annahmen" in die neu aufgenommen Ermittlungen mitaufnehmen. Neben den Untersuchungen des IStGH hat auch der UN-Menschenrechtsrat eine Untersuchungskommission eingesetzt. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte später (nach den Bildern aus Butscha) ebenfalls angekündigt, Ermittler in die Ukraine zu schicken.
Unklare Zuständigkeiten und Befugnisse
Dass Den Haag die Vorwürfe untersuchen will, setzt jedoch voraus, dass das Gericht überhaupt zuständig ist. Denn die Ukraine ist keine Vertragspartei des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshof. Kiew hat aber bereits zweimal dessen Zuständigkeit für alle auf ukrainischem Boden begangenen Völkerrechtsbrüche anerkannt. Dies könnte – zumindest in der Theorie – alle Kriegsverbrechen während der russischen Invasion miteinschließen. Aber nicht nur Zuständigkeitsfragen, auch Befugnisse machen eine Anklage schwierig. Denn der IStGH kann nicht darüber entscheiden, ob die russische Invasion als solche überhaupt unrechtmäßig war, ob Russland als Aggressor angesehen werden kann.
An dieser Stelle geht der Blick in Richtung USA. Zwar erkennt auch Washington den IStGH nicht an. Wie die US-Denkfabrik Council on Foreign Relations jedoch zu bedenken gibt, könnte die Regierung Biden der UN die Einrichtung eines Sondertribunals vorschlagen. Dieses Gremium verfügte über die Macht, an der es dem IStGH mangelt, um russische Entscheidungsträger wegen Aggressionsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen.
Nun leugnet Russland jedoch nicht nur die Vorwürfe und verweigert dementsprechend die Kooperation. Der Kreml erkennt weder den IStGH an, noch wird er sich einer wie auch immer gearteten Sonderkommission beugen. Sollte es zu einem Prozess kommen, fände der aller Wahrscheinlichkeit nach in Abwesenheit der Angeklagten, zumindest aber ohne die Hauptverantwortlichen statt.
Tausende Beweise sichten: Ermittler stehen vor Mammutaufgabe
Doch ist es zwecklos, sich über Zuständigkeiten, Befugnisse und Kompetenzen den Kopf zu zerbrechen, solange nicht ausreichend Beweise für russische Kriegsverbrechen vorliegen. Dabei stehen die Ermittler vor einer Mammutaufgabe: Sie müssen Tausende Fotos, Videos, Zeugenaussagen und Satellitenbilder sammeln und auswerten – während der Krieg weiter wütet.

Neben offiziellen Untersuchungen durch UN- und EU-Ermittler versuchen auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International vor Ort, Beweise für Kriegsverbrechen zu sammeln. "Wir sprechen mit Betroffenen und Augenzeug_innen, sichten Dokumente, sprechen mit Organisationen vor Ort und untersuchen die Überreste von eingesetzten Waffen", erklärt die NGO auf Anfrage des stern. Außerdem dokumentiere und verifiziere das sogenannte "Crisis Evidence Lab" Völkerrechtsverstöße aus der Ferne. Dabei prüfe man vor allem Videos und Fotos aus den Kriegsgebieten, die wiederum mit Augenzeugenberichten, Satellitenbildern und anderen öffentlichen Daten abgeglichen würden.
Auch die ukrainische Justiz selbst bemüht sich, Kriegsverbrechen der russischen Angreifer zu belegen. Wie der britische "Guardian" schreibt, hat allerdings nur das Büro der ukrainischen Generalstaatsanwältin, Iryna Wenediktowa, die Befugnis, Ermittlungen durchzuführen. Das Vertrauen in das staatliche Justizsystem halte sich allerdings im In- wie im Ausland in Grenzen: Jahrelang hatte das Büro der Generalstaatsanwaltschaft mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen.
IStGH kann nur über Personen, nicht über Staaten urteilen
Doch selbst wenn ausreichende, gerichtstaugliche Beweise für russische Kriegsverbrechen gesammelt würden: Der Internationale Strafgerichtshof kann nur Einzelpersonen den Prozess machen, keinen Staaten. Das bedeutet, dass die Anklage nicht nur die Verstöße als solche zweifelsfrei belegen muss. Ob Luftangriff, Hinrichtung oder Vergewaltigung: Jedes Verbrechen muss mit einem konkreten Verantwortlichen in Verbindung gebracht werden. Schließlich sind die Befehlshaber – und damit nicht zuletzt Putin selbst – für die Taten ihrer Soldaten verantwortlich. "Diese Regeln gelten für die gesamte Befehlskette und sogar für die gesamte Befehlskette nach oben", erklärt Tom Dannenbaum, Assistenzprofessor für Internationales Recht an der Tufts University gegenüber "ABC News". Allein diese Suche nach Verbindungen macht die Ermittlungen enorm aufwändig.
Wie die Council on Foreign Relations in einem Bericht Anfang April schrieb, könnte sich immerhin die immense Medienberichterstattung seit Kriegsbeginn als Vorteil vor Gericht entpuppen. Die mediale Dokumentation der Kriegshandlungen könne die Beweislast für die Ankläger verringern und es dem russischen Generalstab schwer machen, sich auf vermeintliche Unwissenheit zu berufen. Auch die USA könnten als Informationszulieferer entscheidend zu den Ermittlungen beitragen. Bereits vor Beginn der Invasion Ende Februar hatten die US-Geheimdienste teils sehr präzise russische Truppenbewegungen und Strategien vorausgesagt. Indem die Regierung Biden weiteres Geheimdienstmaterial veröffentliche, könnte sie den Ermittlern entscheidende Beweise für russische Kriegsverbrechen liefern.
Eroberer landen selten auf der Anklagebank
Bis eine Untersuchung abgeschlossen und Anklage erhoben werden kann, wird es Jahre dauern. Selbst wenn am Ende russische Entscheidungsträger für konkrete Verstöße angeklagt würden – verhaften ließen sich die Beschuldigten nicht, solange sie sich auf russischem Boden aufhalten. Und ausliefern wird der Kreml sicherlich niemanden. Die ernüchternde Wahrheit: Der IStGH hat in den vergangenen 20 Jahren nur zehn Personen verurteilt. "In der Vergangenheit blieb die völkerrechtliche Rechenschaftspflicht für begangenes Unrecht viel zu oft auf der Strecke", meint auch Amnesty International gegenüber dem stern. Die russischen Aggressionen und Kriegsverbrechen seien ein "Ausdruck einer zunehmenden Erosion und einer mangelnden Durchsetzung der globalen Ordnung", so die Organisation weiter.
Solange das Kabinett Putin an der Macht sei, hätten Anklagen – egal wie gut sie belegt seien – nur symbolischen Charakter, schreibt die "New York Times". "Wenn die Machthaber so tun, als seien sie gegen die Gesetze des Krieges immun, dann liegt das vielleicht daran, dass sie es oft sind."
Dazu ein Beispiel: 2010, so berichtet die "New York Times", leitete der IStGH eine Untersuchung zu gewaltsamen Ausschreitungen bei Wahlen in Kenia ein. 1000 Menschen starben. Verantwortlich machte Den Haag dafür den Politiker Uhuru Kenyatta – nur gewann eben der die Wahlen. Nach dessen Einzug in den Präsidentenpalast stellte der IStGH die Ermittlungen ein. Es gebe keine Möglichkeit mehr, die Vorwürfe unabhängig zu prüfen.
Ein Einzelfall ist das nicht. Ob in Ruanda, Myanmar, Sierra Leone oder auch bei der US-Invasion in Afghanistan– die Vergangenheit hat gezeigt: Gerechtigkeit ist das eine, Realität das andere. Sollte Putin den Krieg in der Ukraine am Ende als Sieg verkaufen können, wird sich weder er selbst, noch jemand aus seinem Dunstkreis für die Gräueltaten von Butscha, Borodjanka oder Mariupol rechtfertigen müssen. Am Ende wird die Geschichte vom Sieger geschrieben. Und die landen nicht auf der Anklagebank.
Quellen: "The Conversation"; "Guardian"; "New York Times"; "Council on Foreign Relations"; "ABC News"