Dass die Krise auch sie erwischen wird, begreift Claire Leonard irgendwann im Frühjahr. Ein Mieter nach dem anderen kann sich die Konzession für ihre Pizzarestaurants nicht mehr leisten, immer mehr geben auf und lassen sie ohne Einnahmen. Sie verkauft ihr Haus, ihren Stolz auf dem Hügel mit Fernblick, und zieht in eine Wohnung. Das Geld steckt sie aber weiter in die kleine Restaurantkette. Die Leute werden doch weiter Pizza essen, sie glaubt daran.
Vergangene Woche aber begreift Leonard, dass alles noch viel schlimmer ist. Der Staat könnte auch pleitegehen, nicht nur die Banken. Deswegen steht sie jetzt mit einem Plakat vor dem Finanzministerium und schreit sich die Seele aus dem Leib, immer wenn ein paar Anzugträger an ihr vorbeilaufen. "Was hier passiert, ist illegal", brüllt sie. "Es ist gegen die Verfassung, Irland muss unabhängig bleiben!"
"Ich bin der Krawall"
Dublin, Irlands Hauptstadt im späten November 2010. Es ist der Tag, an dem Premierminister Brian Cowen nach tagelangen, immer unglaubwürdiger klingenden Dementis zugibt, dass sein Land allein nicht mehr weiterweiß. Dass es viel Geld braucht. Und dass es das nur bekommen kann, wenn es harte Auflagen erfüllt. Es ist der Tag, an dem Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Zentralbank und der EU-Kommission im irischen Finanzministerium einrücken, um zu prüfen, wie viele Milliarden nötig sein werden, um den Inselstaat vor dem Bankrott zu retten. Und welche Einschnitte der Bevölkerung noch zuzumuten sind.
Doch Dublin ist nicht Athen, und Irland ist nicht Griechenland. Es gibt keine Massendemonstrationen, keine Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei, keine Backsteine fliegen in die Glasfassaden der Banken. Irlands Krise spielt sich wie in Zeitlupe ab. Das Land wirkt wie betäubt, ungläubig, dass es so weit kommen konnte.
Leonard protestiert allein. "Ich bin der Krawall", sagt die Pizzeriabesitzerin. Außer ihr hängen vor dem Finanzministerium noch ein paar Fotografen herum. Wenn ein Mensch im dunklen Anzug daherkommt, schreit sie auf und die Fotografen knipsen.
Verfall einer Nation
Der Verfall einer Nation, er lässt sich dieser Tage an vielen Orten in Irland beobachten. Wie in Roosky, gut zwei Autostunden von Dublin entfernt. Die untergehende Sonne taucht die Doppelhaushälften mit Giebeldächern und den Bootssteg unten am Fluss Shannon in ein weiches Rot. Es sollte einmal eine schmucke Siedlung werden. Doch in den Vorgärten wuchert das Unkraut, ein paar Fensterscheiben fehlen, fast alle Haustüren stehen offen. Drinnen liegen noch die Farbeimer, die die Maler stehen lassen haben, als sie erfuhren, dass sie nicht bezahlt würden. Mehr als 500.000 Euro sollte eine der gut 40 Doppelhaushälften hier kosten. Aber niemand kaufte, und der Projektentwickler ging pleite.
Bis 2010 finanzierte die Regierung in Dublin solche Siedlungen noch durch Steuererleichterungen, nun rotten sie dahin. Mehr als 600 Geistersiedlungen gibt es in Irland, sie sind zum Symbol für die wahnsinnige Immobilienspekulation geworden, die dem Land am Ende das Genick brach. "Ziemlich trostlos, oder?", zuckt John McCartin mit den Schultern. Er sitzt im Kreistag hier, und sein Landkreis hat mehr Geistersiedlungen pro Einwohner als jede andere im Land. "Hier liegen unsere 50 Mrd. Euro, und wenn man will, kann man auch Angela Merkels Milliarden hier betrauern", sagt er.
Es wird duster in der Geisterstadt
Die Nacht bricht heran, und es wird stockduster, weil von den Straßenlaternen nur die Masten da sind, die Lampen hat niemand mehr eingebaut, und in den leer stehenden Häusern brennt auch kein Licht. "Wenn das hier unbewohnt bleibt, dann verfallen die Häuser in fünf, sechs Jahren. Wir werden sie abreißen müssen", sagt McCartin. "Die sind doch verrückt in der Regierung, diesen Unsinn zu finanzieren, und dann wollen sie uns wahrscheinlich noch auf den Abrisskosten sitzen lassen", sagt er.
Die Verlierer dieser Krise sind die Hausbesitzer, die nun auf ihren Schulden sitzen, und die Banken, die ihre Kredite nicht zurückbekommen. Es sind die Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, die Alten, deren Rente gekürzt wird, und die Jungen, die nicht mehr an ihre Zukunft glauben mögen.
Irland stürzt immer tiefer in die Krise. Doch einige Probleme sind hausgemacht und waren deshalb vorhersehbar. Lesen Sie mehr auf der nächsten Seite!
Schlangen an der Essensausgabe
Die, die es am härtesten trifft, stehen ab neun Uhr morgens vor der Essensausgabe der Kapuzinerbruderschaft in Dublins Stadtteil Smithfield und warten auf kostenlose Würstchen und Toast, Haferbrei und warmen Kaffee. Andrew mit dem Vollbart hat seinen Job in der Videothek verloren, konnte seine Miete nicht mehr bezahlen, wohnt im Obdachlosenheim und findet keine Arbeit, obwohl er sechs bis sieben Bewerbungen pro Woche schreibt. Paul mit der rötlichen Gesichtshaut arbeitet als Parkplatzwächter für eine Sicherheitsfirma, doch es reicht nicht, um alle Rechnungen zu bezahlen. Sean mit der Sonnenbrille reicht die Rente nicht, auch weil die Regierung sie gekürzt hat, und er ist mit 78 zu alt, um nebenher zu arbeiten.
Jeden Tag kommen morgens rund 150 Menschen hierher, zum Mittagstisch zwischen 400 und 500 Leute. "Es werden jeden Tag mehr", sagt Bruder Kevin Crowley, der die Essensausgabe leitet. 1,2 Mio. Euro im Jahr braucht er, um Produkte zu kaufen und Personal zu bezahlen. Gut ein Drittel von dem Geld kommt vom Staat, der Rest von Spendern. "Ich habe Angst, dass die Regierung ihre Zuschüsse streicht, dann wird es schwer", sagt Crowley.
Verliert Irland seine Unabhängigkeit?
Dass ein drakonisches Sparprogramm die Voraussetzung für Auslandshilfen ist, weiß hier jeder. Trotz allem versucht die Regierung den Anschein von Handlungsfähigkeit zu erwecken. Erst als die ersten IWF-Vertreter in Dublin eintreffen, gibt Premierminister Cowen kleinlaut zu: Es gibt "Diskussionen über den besten Plan für Irland" oder einen "Eventualfallfonds". Cowen will an diesem Tag eigentlich eine Rede zu Ehren eines von der Computerfirma IBM ausgelobten Unternehmerpreises halten, doch niemand interessiert sich dafür. Sein Doppelkinn hängt wie immer über den Hemdkragen, wie immer scheint er die Kontrolle über seine Unterlippe verloren zu haben, wie immer reagiert er patzig auf die Fragen der Presse. Am Morgen hat der irische Zentralbankchef im Radio gesagt, Irland brauche "mehrere zehn Milliarden" als Finanzstütze. Nun ist Cowen in die Enge getrieben, kann es nicht mehr leugnen. Der Zentralbankchef "hat das Recht, seine Meinung zu sagen", motzt er müde, er werde seine Ansicht später bekannt geben. "Es gibt keinen Grund für das irische Volk, sich zu schämen oder erniedrigt zu fühlen", fügt er hinzu. Und: "Irlands Unabhängigkeit ist nicht gefährdet."
Irland, das Unternehmerparadies
In den Zeitungen, im Radio und auf der Straße gibt es dennoch nur ein Thema: Verliert Irland, nach Jahrhunderten unter englischem Joch, nun seine Unabhängigkeit an den IWF und Brüssel?
"Holy fuck", ruft Colm Toibin, "das ist doch verrückt." Der Mann mit der Glatze und den zitternden Händen ist einer der bekanntesten Schriftsteller Irlands, und er glaubt, man hätte die Krise viel früher erkennen müssen, der Immobilienbonanza und den unregulierten Banken Einhalt gebieten. "Ich habe mir 2006 ein paar Zahlen aus dem Internet runtergeladen und sofort verstanden, dass das nicht gut gehen kann. Aus dem Internet!", sagt er. "Jetzt haben wir eine Debatte über die Eigenständigkeit der Nation wegen Unternehmenssteuern. Fuck!" Mit der flachen Hand imitiert er einen Scheibenwischer vor seinem Gesicht, für so absurd hält er die Diskussion, die sich darauf kapriziert, ob Irland im Tausch für die Nothilfe den Unternehmenssteuersatz von derzeit 12,5 Prozent erhöhen muss. "Na und", grummelt Toibin, "der Steuersatz ist sowieso das uneuropäischste Ding überhaupt."
Ein Land sieht schwarz
Doch nur wenige Iren sehen das so. "Ich glaube nicht, dass man die Regierung zwingen wird, den Steuersatz zu heben. Die internationalen Konzerne würden abwandern, und das wäre eine Katastrophe für die Wirtschaft - Irland könnte seine Kredite dann erst recht nicht zurückzahlen", sagt Conor Foley, der Gründer des Finanzdienstleisters Worldspreads.
Foley war einer der Ersten, die aussprachen, wie schlecht es um die Finanzen der Regierung in Dublin bestellt sein könnte. Auf rund 80 Mrd. Euro diagnostizierte er den Geldbedarf wegen der Schieflage der irischen Banken, während die Regierung seiner Ansicht nach "ziemliche Schwierigkeiten hatte, den Bedarf zu quantifizieren". Nun sitzt er in der Bar des Shelbourne-Hotels, an einem Platz, an dem man denken könnte, die Krise sei weit weg. Prächtige Kronleuchter hängen von den hohen Stuckdecken, die Wände sind mit Malereien verziert. Doch der Besitzer ging pleite, das Fünfsternehotel ist nun in den Händen der staatlichen Bad Bank Nama.
Am Nebentisch trinkt Brian O'Driscoll mit ein paar Mannschaftskameraden Kaffee. O'Driscoll ist der Kapitän von Irlands Rugbynationalteam und eine nationale Identifikationsfigur. Es ist der Tag vor dem Spiel gegen Neuseeland, und außer der Krise gibt es auch noch Rugby. 1978 hat ein Provinzteam aus Irland die übermächtigen Kiwis geschlagen, die Nationalmannschaft aber noch nie.
Kann ein Sieg über Neuseeland die gebeutelte Moral im Land wieder aufrichten? "Ehrlich gesagt", sagt O'Driscoll, "muss ich meine Lippen vor diesem Spiel versiegelt halten." Er darf die Erwartungen jetzt nicht hochschrauben, aber pessimistisch darf er auch nicht sein. Also sagt er lieber nichts.
Einen Tag später liegt das Wunder in der Luft. Das Stadion bebt, als Irland in Führung geht, die Sensation inmitten der Krise scheint greifbar. O'Driscoll kämpft und rennt und brüllt und reißt sein Team mit. Er macht ein gutes Spiel, und ihm gelingt sogar ein "Try", das gibt fünf Punkte. Am Ende aber walzt Neuseeland Irland mit 38:18 nieder. Auf der Grünen Insel ist wieder alles wie die Trikotfarbe der Neuseeländer. All Black. Ganz schwarz.