10.000 Pariser protestierten im Juni 2010 für seine Freilassung. Er wurde Ehrenbürger der französischen Hauptstadt, Ehrenbürger Roms, Ehrenbürger in San Francisco, Pittsburgh und New Orleans. Der Vatikan schaltete sich ein, sein Vater trat sogar vor die Vereinten Nation. Nach 1942 Tagen dann kam Gilad Schalit frei. Fünf Jahre und vier Monate war der israelische Oberfeldwebel in den Händen der Hamas. Die halbe Welt nahm damals Anteil an seinem Schicksal.
Nicht eine, sondern mehr als 100 Geiseln
Und heute, 13 Jahre später, befinden sich mehr als 100 Menschen in Gefangenschaft der Islamisten, doch protestiert wird nicht für ihre Freilassung, sondern gegen Israel. Oder für die Palästinenser. Nicht unbedingt für die im Gazastreifen herrschende Hamas, aber die Fahnen der Palästinenser wehen an Unis, Autos und Balkonen. Kaum jemand außerhalb Israels scheint sich für die Menschen zu interessieren, die seit vergangenem Oktober in irgendwelchen Verliesen in Todesangst vor sich hinvegetieren.
Mit einer beispiellosen Terrorattacke waren damals Hamas-Kämpfer in Israel eingedrungen, und hatten 1200 Männer, Frauen und Kinder geschändet und getötet, 250 wurden verschleppt. Es war das größte Massaker an Juden seit dem Holocaust. Einige Geiseln wurden mittlerweile freigelassen, andere, wie die Deutsch-Israelin Shani Louk, konnten später nur noch tot geborgen werden. Solidarität mit den noch Lebenden? Mitgefühl? Aufmunterung? Nicht vorhanden.
Geiselvideo schockiert Israel
In Israel selbst protestieren die Menschen zwar regelmäßig und laut für die Freilassung ihrer Leute, doch die Regierung von Benjamin Netanjahu will nicht mit der Hamas verhandeln. Sie möchte die Organisation vernichten, um beinahe jeden Preis. "Wir werden weiterhin alles tun, um die Geiseln nach Hause zu bringen. Die Grausamkeit der Hamas-Terroristen bestärkt mich nur darin, mit aller Kraft für die Eliminierung der Hamas zu kämpfen, damit sich das, was wir heute Abend gesehen haben, niemals wiederholen kann", sagte Ministerpräsident Netanjahu jetzt als Reaktion auf ein fürchterliches Geiselvideo.
Die Eltern von fünf verschleppten Soldatinnen haben Aufnahmen veröffentlicht, die das Land schockieren: Auf dem Video sind verletzte, teilweise blutüberströmte junge Frauen zu sehen. Sie sind auf dem Rücken gefesselt und werden von schwer bewaffneten Terroristen angeschrien und bedroht. Die Bilder stammen vom 7. Oktober, dem Tag des Massakers. Das Forum der Geiselfamilien nennt sie "ein verdammendes Zeugnis für das Versäumnis der Nation, die Geiseln, die 229 Tage lang im Stich gelassen worden sind, nach Hause zu bringen".
1000 Palästinenser gegen einen Israeli
Immerhin: Die verstörenden Aufnahmen haben das israelische Kriegskabinett dazu veranlasst, die Geisel-Verhandlungen wieder aufzunehmen. Doch ob daran ein echtes Interesse besteht, ist zweifelhaft. Denn solche Gespräche würden die Hamas aufwerten und von ihr als Triumph verkauft werden, glauben vor allem die rechten israelischen Regierungsmitglieder, darunter auch Benjamin Netanjahu.
Als schlechtes Beispiel dient ihnen dabei die Befreiung von Gilat Schalit 2011. Damals hatte Israel im Gegenzug mehr als 1000 palästinensische Häftlinge freigelassen. Unter ihnen war auch Jahja Sinwar, der spätere Chef der Hamas im Gazastreifen und Kopf hinter dem Massaker vom 7. Oktober. Ein derart "schlechtes" Geschäft will Netanjahu nicht noch einmal eingehen. Er war auch damals schon Regierungschef des Landes.
Das Schicksal der Geiseln und der Krieg aber werden sein politisches Schicksal besiegeln, ob er will oder nicht. Sollte er es tatsächlich schaffen, die Macht der Hamas zu brechen (was unwahrscheinlich ist), dürften die verbliebenen Gefangenen diesen Sieg Israels kaum überleben. Einen irgendwie gearteten Erfolg der Hamas durch Verhandlungen aber will die Regierung in Tel Aviv auch nicht.
Für die Geiseln oder für den Hamas-Feldzug
Das Dilemma ist so gut wie nicht aufzulösen, weshalb sich Netanjahu und sein Kriegskabinett werden entscheiden müssen: für die Geiseln oder für den weiteren Feldzug gegen die Hamas. Bislang bleibt der Ministerpräsident seinem unrealistischen Ziel treu, durch die Vernichtung der Islamisten die Gefangenen zu befreien. Es ist ein zynisches Endspiel in seinem politischen Überlebenskampf – zumal er weiß: Warum sollte sein Gegner Sinwar irgendein Interesse daran haben, seinen wertvollsten Schatz ohne Not wieder zurückzugeben?
Für die Geiseln gilt das bittere Schicksal: Sie sind nicht nur Manövrier- und Verhandlungsmasse sondern auch noch "falsche" Opfer.