Der Bauer Hazrat Gul hat es geschafft. Tagelang war der 40-Jährige mit seiner Großfamilie unterwegs, um vor der neuen Offensive der pakistanischen Armee gegen die Taliban im Stammesgebiet Süd-Waziristan zu fliehen - zunächst per Lastwagen, dann mussten sie sich zu Fuß durchschlagen. Der Gewalt konnten Gul und seine 24 Angehörigen entkommen. Doch nun beginnt für die Flüchtlinge ein Überlebenskampf, auf den sie nicht vorbereitet sind. «Wir haben unsere Heimat mit leeren Händen verlassen», klagt Gul.
Seit Beginn der Militäraktion am vergangenen Wochenende haben Zehntausende Süd-Waziristan in Richtung der Nachbardistrikte Dera Ismail Khan und Tank verlassen. «Bislang sind 32 000 Neuankömmlinge registriert», sagt die Sprecherin des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) in Islamabad, Ariane Rummery. Hinzu kämmen die 80 000 Zivilisten, die Süd-Waziristan bereits seit Mai verlassen hätten. Damals intensivierte die pakistanische Luftwaffe die Angriffe gegen Stellungen der radikal-islamischen Aufständischen. Zudem gab es regelmäßig Beschuss mit Raketen durch unbemannte US-Drohnen.
Nun stehen sich in der Grenzregion zu Afghanistan mehr als 30 000 Sicherheitskräfte und etwa 15 000 schwer bewaffnete Extremisten gegenüber, darunter Kämpfer der Bewegung «Tehrik-e-Taliban Pakistan» von Hakimullah Mehsud sowie Angehörige des Terrornetzwerks El Kaida. Nach Militärangaben vom Dienstag starben bei den Gefechten bislang fast 100 Aufständische und 11 Regierungssoldaten.
Zwischen die Fronten geraten auch immer mehr Zivilisten. «Wir sind auf 250 000 Flüchtlinge vorbereitet», sagt UN-Sprecherin Rummery. Derzeit könne jedoch niemand eine genaue Prognose abgeben, wie viele Menschen sich tatsächlich noch zur Flucht aus Waziristan entschließen werden. Noch gebe es keine Auffanglager, die meisten Menschen seien bei Gastfamilien untergebracht. Dort würden sie von UNHCR und anderen Hilfsorganisationen mit Lebensmitteln, Decken und Sanitärartikeln versorgt. Das UNHCR sei jedoch darauf vorbereitet, bei Bedarf in Kooperation mit den pakistanischen Behörden Lager einzurichten.
Saifur Rehman von der pakistanischen Hilfsorganisation FIDA sieht diesen Bedarf schon heute. Hunderttausende seien in Bewegung. Doch UNHCR und Regierung schauten mehr oder weniger tatenlos zu. «In den nächsten Wochen rechnen wir mit bis zu 40 000 Flüchtlingsfamilien, jede davon mit etwa zehn Mitgliedern», sagt Rehman. «Daher brauchen wir dringend Zeltstädte für alle, die keine Verwandten haben oder sich die Miete für ein Zimmer nicht leisten können. Ansonsten werden immer mehr Menschen gezwungen sein, unter freiem Himmel zu schlafen.»
Hazrat Guls Großfamilie hat in der Stadt Dera Ismail Khan ein Dach über dem Kopf gefunden. Die beiden Zwölf-Quadratmeter-Zimmer seien jedoch viel zu klein für ihn und seine Verwandten. «Wir haben auf einem großen Gehöft, nahe der Natur gelebt», berichtet Gul. «Hier ist alles erstickend eng, und beim Schlafen müssen wir uns abwechseln».
Ariane Rummery vom UNHCR sagt: «Die pakistanische Regierung ist dabei, sich ein genaues Bild von der Lage zu machen.» Die Vereinten Nationen stünden in engem Kontakt mit den Behörden und könnten im Moment noch nicht von einer Katastrophe sprechen. Es handele sich aber ohne Zweifel um eine «Notsituation», auf die angemessen reagiert werde. Hazrat Gul kann da nur den Kopf schütteln. «Wir haben weder Lebensmittel noch Geld. Und die Regierung tut nichts.»