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Perlen der Kreml-Propaganda Putin in Mariupol – was ein Heldenauftritt werden sollte, endet in peinlicher Scharade

Für die Propaganda organisierte der Kreml eine Visite Wladimir Putins im besetzten Mariupol.
Für die Propaganda organisierte der Kreml eine Visite Wladimir Putins im besetzten Mariupol. Allerdings hatte der Auftritt nichts heldenhaftes an sich. 
© Stanislav Krasilnikov/TASS PUBLICATION/stern / Imago Images
Ein Traktor, eine rote Ampel und sogar echte Einwohner – für einen glorreichen Auftritt Wladimir Putins in Mariupol hat die Propaganda-Maschine des Kremls viel gewagt. Genützt hat es allerdings wenig. 

Es war bereits dunkel, als Wladimir Putin am vergangenen Samstag in Mariupol auftauchte. Mit einem Hubschrauber soll der Kreml-Chef in die besetzte ukrainische Stadt gebracht worden sein. Eine Nacht-und-Nebel-Aktion, um den Russen einen mutigen Anführer präsentieren zu können, der scheinbar die Nähe zur Front nicht scheut. Tatsächlich war es das erste Mal, dass Putin sich auf dem besetzten Gebiet in der Ukraine blicken ließ. Der Besuch Joe Bidens in Kiew dürfte Putin aus Moskau herausgelockt haben. Wenn ein US-Präsident seelenruhig durch Kiew spazieren kann, dann sollte der russische Präsident wenigstens einmal seine Füße auf jene Territorien setzen, die er so gern als "ur-russisch" bezeichnet, dachte man wohl im Kreml. 

Der Jahrestag der Annexion der Krim-Halbinsel vor neun Jahren bot den passenden Anlass. Putin hockte sich selbst hinter das Lenkrad eines Wagens und kurvte durch die dunklen Straßen von Mariupol, ließ sich die neuen Bauten vorführen und warf sogar einen Blick in die bescheidenen Domizile seiner neuen Untertanen. 

Die plötzliche Visite Putins in Mariupol war im russischen Staats-TV am Sonntag das beherrschende Thema. Das vollständige Propaganda-Theater präsentierte aber Dmitri Kisseljow erst am Abend. In seiner Sendung "Westi Nedeli" ("Nachrichten der Woche") führte er den Zuschauern die Visite Putins vor – für die Propaganda eine Heldentat. Doch achtet man auf die Details, verwandelt sich der glorreiche Auftritt in eine peinliche Scharade.

Die Fahrkünste des Wladimir Putin 

Mit besonderem Stolz demonstrierten die Propagandisten etwa die Fahrkünste des Kreml-Chefs. "Der Präsident fährt selbst und beachtet alle Verkehrsregeln", verkündete man den Zuschauern, während sie Putin über die Schulter gucken konnten. "Auf den Straßen gibt es nicht wenig Gegenverkehr. Die Ampeln funktionieren. Auf Rot hielt Wladimir Putin an, ließ einen Lkw und einen Traktor passieren!", lauten die begeisterten Worte des Sprechers zu den entsprechenden Bildern. Die Botschaft ist deutlich: Putin hat's drauf und ist keineswegs senil, wie manch einer seiner Kritiker behauptet. 

Die Bilder von den dunklen Straßen Mariupols sind in der Tat auf ihre eigene Art erstaunlich. Nicht weil Putin hinter dem Lenkrad nicht senil wirken würde, sondern weil die Propaganda ungewöhnlich viel Mühe in dieses Werk investiert zu haben scheint. Bei Auftritten Putins dieser Art wird nichts dem Zufall überlassen, Straßen werden gesperrt, ganze Blöcke geräumt. Als der Kreml-Chef im vergangenen Dezember die wieder in Stand gesetzte Krim-Brücke besichtigte, war weit und breit kein einziges Fahrzeug zu sehen. Als er in der vergangenen Woche eine Rüstungsfabrik besuchte, mussten die Arbeiter in eine zweiwöchige Quarantäne – und das obwohl nur Mitarbeiter seines persönlichen Sicherheitsdienstes in die Nähe des Präsidenten durften. 

In Mariupol soll nun Putin aber spontan die Einwohner der aus dem Boden gestampften Neubau-Siedlungen besucht haben, versucht die Propaganda der Öffentlichkeit weiszumachen. Angetan mit einer kugelsicheren Weste unter seiner Jacke schüttelte er die Hände der vor ihm aufgereihten Leute, die verlegen von einem Bein auf das andere traten. 

Ausgesuchte Untertanen beten Putin an 

Doch genauso wie der Traktor und die rote Ampel war die Anwesenheit dieser Leute kein Zufall. Der Traktor sollte der propagandistischen Idee zufolge die Illusion von Normalität erwecken; die rote Ampel Putins Gesetzestreue demonstrieren, die geschüttelten Hände seine Nähe zum einfachen Volk.

In den sozialen Netzwerken wurden aber die Leute, die mitten in der Nacht dem Kreml-Chef gegenübertreten durften, schnell identifiziert. Immerhin gab sich der Kreml hier offenbar die Mühe, echte Bewohner von Mariupol für das Schauspiel zu gewinnen. Der Hauptakteur entpuppte sich als ein gewisser Nikolai Lotkow. Er bedankte sich überschwänglich bei Putin für seine neue Dreizimmer-Wohnung, die er als Ersatz für seine alte bekommen habe. Sein Sohn Dmitri, seine Schwiegertochter Jekaterina und der Freund der Familie Alexej Bondarenko sollen die Szenerie abgerundet haben. Auf dem lokalen Telegramm-Kanal "Mariupol.Sprotiv" erzählen sich die Nutzer, Dmitri und Jekaterina Lotkow hätten sich während der Bombenangriffe auf Mariupol an Plünderungen beteiligt. Nun verdingen sie sich offenbar als Putins Statisten.

"Danke Ihnen für den Sieg! Halten Sie durch! Gesundheit und Glück für Sie! Wir beten für Sie. Wir haben so lange auf Sie gewartet", pries Jekaterina ihren Präsidenten an, währende sie die Hände wie zum Gebet faltete. "Wir haben hier jetzt ein kleines Stückchen Paradies", beteuerte sie und versuchte ein paar Tränen hervorzubringen. Hinter ihrem "Stückchen Paradies" verbarg unterdessen die Dunkelheit die Trümmer von Mariupol. Der nächtliche Zeitpunkt der Putin-Visite war wie das Publikum sorgfältig gewählt. Nichts sollte dem neuen Mythos von einem wiederaufgebauten Mariupol im Weg stehen, den Putin nun verbreiten will. 

Zwischenruf zerstört Propaganda-Inszenierung 

Ein Traktor, eine rote Ampel und sogar echte Bewohner von Mariupol – der Kreml hat viel gewagt, um für Putin einen glorreichen Auftritt im wiederaufgebauten Mariupol zu inszenieren. Und er hat verloren. Während der Kreml-Chef sich die Lobeshymnen der instruierten Bewunderer anhörte, rief eine Frauenstimme laut über den Hof: "Das stimmt alles nicht! Es ist zum Vorzeigen". (Auf dem Video ist der Ruf bei Sekunde 19 zu hören.)

Auf dem Video ist zu sehen, wie die Männer um Putin irritiert nach der Quelle des Rufs Ausschau halten. Während die Nachrichtenagentur Tass den Zwischenfall aus ihrem Material entfernte, ist der Ruf auf den Aufnahmen von Ria zu hören. Und auch in der Abendsendung von Kisseljow versäumte man es, die entsprechende Passage herauszuschneiden. 

Schweißnasses Haar und einsamer Reiseführer 

Tatsächlich werden nur die wenigsten TV-Zuschauer den Ruf beachtet haben. Doch das Bild, das Putin in Mariupol geboten hat, war auch ohne den entlarvenden Kommentar alles andere als glorreich: Die schwere Schutzweste drückte sichtlich auf die Schultern des Kreml-Chefs. Immer wieder rückte er sie zurecht und versuchte seine Knochen zu entlasten. Schweißnasse Haarsträhnen klebten an seinem Hinterkopf, während er durch die kalte Nacht schlich. 

Begleitet wurde Putin lediglich von Marat Chusnullin, der seit 2020 als stellvertretender Ministerpräsident Russlands für Bauwesen und regionale Entwicklung fungiert. Von der lokalen von Moskau eingesetzten Regierung war weit und breit keine Spur zu sehen. Chusnullin war derjenige, der Putin die wiederaufgebaute Philharmonie präsentierte. Er war derjenige, der seinem Chef die großartigen neuen Straßen zeigte. Er war auch derjenige, der Putin erzählte, dass es die ukrainischen Streitkräfte waren, die Mariupol in Schutt und Asche gelegt haben – eine der zentralen Propaganda-Mären in diesem Krieg.

"Da wo wir vorgerückt sind, gibt es keine Einschläge. Gar keine. Von deren Seite feuerten die Panzer direkt. Man sieht richtig: Da wo sie zurückgewichen sind, haben sie direkt auf die Häuser gefeuert. Das sage ich als Baumeister. Ich habe jedes Haus gesehen", erzählte Chusnullin Putin mit einer Hand auf dem Herzen – eine Geste so glaubwürdig wie der Rest der Darbietung. Der feierliche Besuch Joe Bidens unter dem blauen Himmel und der strahlenden Sonne Kiews spielt jedenfalls in einer anderen Liga. 

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