Internationale Pressestimmen "Niemand sollte sich ein zerfallendes Russland wünschen"

Jewgeni Prigoschin wagte eine offene Meuterei gegen Wladimir Putin. 
Ein Panzer der Wagner-Söldner mit der Aufschrift "Sibirien". Jewgeni Prigoschin wagte eine offene Meuterei gegen Wladimir Putin. 
©  Erik Romanenko/TASS PUBLICATION / Imago Images
Der gescheiterte Putschversuch von Jewgeni Prigoschin und seinen Wagner-Söldnern in Russland wird in den Kommentarspalten der Zeitungen heiß diskutiert. So bewertet die internationale Presse die Ereignisse und deren mögliche Folgen.

Nach dem offenen Machtkampf zwischen Wagnerchef Jewgeni Prigoschin und Russlands Präsident Wladimir Putin hat sich die Lage in Russland zumindest nach Außen hin wieder beruhigt. Die Söldnertruppen haben sich zurückgezogen und ihr Anführer ist untergetaucht – mutmaßlich in Weißrussland, dessen Präsident Alexander Lukaschenko das schnelle Ende des Putschversuchs ausgehandelt haben soll. In Moskau wurden die Anti-Terror-Maßnahmen aufgehoben. Verteidigungsminister Sergej Schoigu, den Prigoschin besonders attackiert hatte, zeigte sich nach offiziellen Angaben erstmals seit der Rebellion öffentlich bei einem Truppenbesuch.

Dennoch herrscht bei Experten und Politikern international Einigkeit, dass der Aufstand Putins Machtstellung erschüttert hat. Die Presse in Europa sieht das ähnlich, warnt aber zugleich vor den möglichen Konsequenzen aus der Schwäche des Kremlchefs.

So kommentiert die internationale Presse den Wagner-Aufstand:

"The Guardian" (Großbritannien): "Der russische Staatschef zog am Samstag Parallelen zu den Kriegsereignissen im Jahr 1917, die zur 'Zerstörung der Armee und des Staates' führten. Andere verwiesen auf 1991: Michail Gorbatschow konnte einen Putsch abwenden, aber weder seine Regierung noch die Sowjetunion überlebten den Rest des Jahres. Nur wenige gehen davon aus, dass Putin das gleiche Schicksal widerfährt. Aber seine Herrschaft über das Land war noch nie so bedroht wie heute.

In den vergangenen 18 Monaten hat er zwei schwere Rückschläge einstecken müssen, die er selbst verursacht hat: den gescheiterten Versuch, Kiew einzunehmen und die Ukraine zu unterwerfen, und nun die Rebellion seines Schützlings mit Kräften, die Putin selbst in die Lage dazu versetzt hatte. Die Unsicherheit und die Demütigung könnten ihn noch gefährlicher machen. Prigoschins Aufstand scheint zwar beendet zu sein, aber die Folgen davon beginnen sich gerade erst zu entfalten."

"Niemand sollte sich ein zerfallendes Russland wünschen"

"The Telegraph" (Großbritannien): "Die unmittelbare Gefahr für Wladimir Putin ist gebannt, auch wenn allgemein davon ausgegangen wird, dass er geschwächt wurde. Die russische Bevölkerung, die von Anfang an mit Lügen über die Invasion in der Ukraine gefüttert wurde, muss sich allerdings fragen, wie es sein kann, dass eine schwer bewaffnete Truppe eine Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern fast unbehelligt einnimmt.

Präsident Putins Unbehagen ist zwar erfreulich, aber niemand sollte sich ein zerfallendes Russland wünschen. Wenn das Chaos regiert, was wird dann aus dem russischen Atomwaffenarsenal? Zumindest während des Kalten Krieges wusste man, dass es unter starker zentraler Kontrolle stand. Prigoschins Rebellion zeigt, dass diese Waffen in die Hände einer bunt zusammengewürfelten Bande von Söldnern fallen könnten, die offenbar in der Lage sind, das Land nach Belieben zu durchqueren. Putin droht immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen, was nur von wenigen Analysten ernst genommen wird. Aber wissen wir, wie sicher die Bestände des Landes sind?"

"Libération" (Frankreich): "(...) Die ganze Welt blickte – zum ersten Mal in seiner langen Regierungszeit – auf einen wankenden Wladimir Putin. (...) Nicht nur, dass die Warnungen seiner Geheimdienste nicht funktionierten, auch (...) dass seine Truppen bei einer Invasion, die innerhalb von drei Tagen zusammengefaltet werden sollte, versagt haben, ist kein Geheimnis mehr. Der gedemütigte Wladimir Putin hat realen Grund, paranoid zu werden. Er weiß, dass seine Feinde auch auf seinem eigenen Territorium lauern. Und seit dem Aufstand von Prigoschin ist die ganze Welt zu dem Schluss gekommen, dass er sie nicht mehr unter Kontrolle hat. Die Ereignisse des 24. Juni könnten sich wiederholen. Clans, Fraktionen oder Privatarmeen ... Wer von seinen inneren Dämonen wird als nächstes auf Moskau marschieren?"

"Corriere della Sera" (Italien): "Moskau und seine Symbole werden nicht mehr attackiert. Es scheint sogar, dass sie es nie wurden. Nichts bleibt von diesem dramatischen Tag übrig, der eine Seite der Geschichte zu schreiben schien. Die Staatsnachrichten sind zu den üblichen Meldungen zurückgekehrt, am Morgen danach gibt es Kochsendungen. (...)

Was von Wagners Marsch auf Moskau wirklich übrig geblieben ist, kann man mit bloßem Auge nicht sehen, aber man kann es spüren. Trotz seiner Kürze hat der Aufstand die Verwundbarkeit des Machtsystems von Putin gezeigt, indem er den Kern seiner Stärke getroffen hat. (...) Das Unentschieden, mit dem der Showdown endete, ändert nichts am Ausmaß dieser Wunde."

"Scheitert Putin, droht in Russland ein Bürgerkrieg"

"Der Standard" (Österreich): "Was geschieht nun? Unwahrscheinlich, dass sich die Wagner-Kämpfer der regulären Armee unterstellen werden. Eher werden sie sich in Belarus unter ihrem Chef Prigoschin versammeln. Zu welchem Zweck auch immer. Nicht unwahrscheinlich ist, dass Putin seinen Verteidigungsminister Schoigu und dessen Generalstabschef Gerassimow entlässt. Hardliner könnten an die Macht kommen. Für die Ukraine wäre das keine gute Perspektive. Und für Putin eine nicht sehr populäre Entscheidung, nicht einmal ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl. Die Wahl wird er wohl gewinnen, einen wirklichen Nachfolger gibt es nicht. Aber was kommt dann? Scheitert Putin, droht in Russland ein Bürgerkrieg. Das Gespenst des Chaos der 90er-Jahre steht im Raum. Machtkämpfe, politische Morde. Diesmal allerdings mit diversen Privatarmeen. Dann würde sich der Westen Putin wohl händeringend zurückwünschen. Auch damit die Atomwaffen unter Kontrolle blieben."

"Nepszava" (Ungarn): "Ein paar Tausend Söldner besetzten kampflos Rostow am Don, den Sitz des Oberkommandos, das unmittelbar den Krieg lenkt. Die Garnison, die Nationalgarde, die Polizei und wer sonst noch infrage gekommen wäre – keiner leistete Widerstand. Danach zog die Wagner-Kolonne weiter Richtung Moskau (...). Das lässt darauf schließen, dass Prigoschin über Unterstützung in den Streitkräften verfügte, auch wenn keine kompletten Einheiten zu ihm überliefen, wie er es sich wohl erhofft hatte. (...) Auch stellte sich heraus, dass die russische Justiz – wenn Putin es so will – über das schwerste Verbrechen gegen den Staat beziehungsweise den Tod von 15 bis 20 Piloten aufgrund des Abschusses durch die Putschisten gnädig hinwegsieht (und den Aufständischen Straffreiheit gewährt). Das Wesentliche: Vor der gesamten Welt wurde entlarvt, dass Russland fragil ist – und sein allmächtig geglaubter Präsident wiederum schwach und verwundbar."

"De Tijd" (Belgien): "Wie der ukrainische Präsident Selenskyj erklärte, hat die Meuterei deutlich gemacht, dass Putin nicht unantastbar ist. Fast ein Vierteljahrhundert lang hat der russische Staatschef alles getan, um seine Macht zu festigen. Oligarchen mit politischen Ambitionen wurden aus dem Weg geräumt oder eingesperrt, die Opposition wurde erfolgreich zum Schweigen gebracht und die Bevölkerung wurde durch Repressionen und staatliche Propaganda in Schach gehalten. (...)

Prigoschin verschaffte sich mit seiner unverblümten Kritik eine Anhängerschaft, insbesondere unter russischen Nationalisten und Extremisten. Wichtig war auch, dass er sich immer wieder an der Front in der Ukraine filmen ließ, wo er mit seinen Männern unter Beschuss stand. Damit unterschied er sich deutlich von den "Sesselgenerälen", die von weit hinter der Front aus Soldaten in den sicheren Tod schicken. (...)

In den kommenden Tagen wird sich zeigen, wie groß der Schaden ist. Mit besonderer Spannung wird das Schicksal von Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow beobachtet, die sich übrigens am Samstag nicht gezeigt haben. Werden sie die Rebellion überleben oder wird Putin sie opfern?"

"de Volkskrant" (Niederlande): "Die Auswirkungen auf den Krieg gegen die Ukraine sind noch unklar. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Sonntag, der Aufstand von Prigoschin beweise, dass Putin "keine Kontrolle" über Russland und "offensichtlich große Angst" habe. (...) Doch außer Prigoschin scheint Putin vorerst keine Verbündeten innerhalb seines Sicherheitsapparates verloren zu haben. Putins Sprecher Dmitri Peskow sagte am Sonntag, der Krieg gegen die Ukraine gehe unverändert weiter. Er weigerte sich, zu Gerüchten über bevorstehende Entlassungen innerhalb der Armeespitze Stellung zu nehmen – Prigoschin hatte vor allem den Abgang von Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow gefordert.

Man kann davon ausgehen, dass Putin die Repressionen in Russland verschärfen wird, weil er eine Neuauflage der Revolte von Prigoschin befürchtet. Er weiß, dass Revolutionen in Russland manchmal erst im zweiten Anlauf gelingen. Und sein wichtigstes Versprechen an das russische Volk lautet seit 23 Jahren: keine Revolution."

"Russland ist reif für einen Umsturz"

"Pravda" (Slowakei): "Der Aufstand, der in Russland unerwartet entbrannte, ging ebenso unerwartet zu Ende. Putin hat sich offensichtlich ein Monster erschaffen, das seinen Händen entglitten ist. Und auch wenn Jewgeni Prigoschin scheiterte, zeigte er mit seiner gewagten Tat die Schwäche Putins auf. Unklar bleibt weiterhin, was den Chef der Söldnertruppe Wagner auf die wahnwitzige Idee brachte, einen Feldzug gegen Moskau zu beginnen. Einerseits musste doch jedem klar sein, dass er mit seiner Privatarmee von 50.000 Mann nicht erfolgreich sein konnte.

Andererseits war überraschend, wie leicht es ihm gelang, Hunderte Kilometer in Richtung Moskau zu ziehen und wie wenig ihn die Sicherheitskräfte daran hinderten. Ebenso überraschend ist das Ausmaß der Apathie, die offenbar im Land herrscht und seine eigene Existenz bedroht. (...) Doch auch wenn das Putin-Regime ekelhaft ist, kann sich in Wirklichkeit niemand einen Zerfall Russlands wünschen. Denn der würde ein riesiges Chaos bewirken und vor allem Europa destabilisieren. (...) Die Ukraine frohlockt zweifellos über die Entwicklung. Aber für Freudenfeiern ist es zu früh, denn die Angst ist berechtigt, dass das, was nach Putins Sturz kommt, womöglich noch schlimmer ist."

"Sme" (Slowakei): "Auch wenn Prigoschins Aufstand keine 24 Stunden dauerte, es zu keinem schwereren bewaffneten Konflikt zwischen den verschiedenen Lagern in Russland kam und der seltsame Haufen schlussendlich den Schwanz einzog, lässt sich nicht von einem klaren Sieg Wladimir Putins sprechen. Denn es geschah etwas, das die vergangenen zwanzig Jahre in Russland unvorstellbar war: ein offener, noch dazu bewaffneter Aufruhr gegen das Machtzentrum im Kreml. Und es zeigte obendrein, dass diese Macht in einem Land der Privatarmeen und Oligarchen sehr labil ist. (...)

Es lässt sich sagen, dass die Erwartungen Prigoschins zu groß waren und er sich verrechnet hat. Niemand von der russischen Elite hat ihn öffentlich unterstützt. Und so blieb ihm nichts anderes, als zum Rückzug zu blasen. Auch wenn er sich eine Art Amnestie und Exil in Belarus aushandelte, wird er wohl nie mehr ruhig schlafen können. Denn Putin verzeiht keinen Verrat und muss das auch anderen zeigen. Das Land ist reif für einen Umsturz. Mit Wunschvorstellungen sollten wir aber aufpassen. Denn gerade Prigoschin ist ein Beispiel dafür, dass im Kreml ein noch viel größerer Irrer sitzen könnte als Putin."

"Hospodarske noviny" (Tschechien): "Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ist das ein erheblicher Prestigeverlust – nicht nur, weil eine Söldnertruppe bereits auf dem Weg nach Moskau war. In dem Konflikt vermittelte mit dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko jemand, der in den Augen gewöhnlicher Russen bisher nur ein treuer Vasall des Kremls war. Wann wird sich die russische Armee an Lukaschenko mit der Bitte wenden, zum Beispiel einen Waffenstillstand in der Ukraine auszuhandeln oder einen friedlichen Rückzug Putins aus dem Amt zu arrangieren? Auf einmal erscheinen solche Überlegungen nicht mehr als reines Wunschdenken, sondern als etwas, das unter bestimmten Umständen eintreten könnte."

"Verdens Gang" (Norwegen): "Die Spuren dieses Tages lassen sich nicht wegwischen. Alle konnten sehen, dass Putin unter gewaltigen Druck gesetzt wurde. Der Propagandaapparat konnte nicht länger verbergen, dass Russland gespalten und die Unzufriedenheit mit dem Krieg groß ist. Putin wirkte verletzlicher als jemals zuvor in seiner Zeit als Präsident. Und kaum etwas ist für einen Autokraten demütigender, als verletzlich zu wirken. Er wurde gezwungen, denjenigen Straffreiheit zu geben, denen er wenige Stunden zuvor noch Verrat vorgeworfen hatte. Er musste stillschweigend akzeptieren, dass Prigoschin den Russen die Wahrheit über die falsche Begründung für den Krieg erzählt hat.

Putin wollte Kiew einnehmen und ein gehorsames und autoritäres Regime einsetzen. An diesem Wochenende waren russische Stärken auf dem raschen Vormarsch zu seiner Bastion, dem Kreml. Man kann sich kaum ein deutlicheres Zeichen dafür vorstellen, wie schlecht der Krieg für Russland läuft."

"Wall Street Journal" (USA): "Der Moment scheint reif für die Ukraine, ihre Sommeroffensive zu beschleunigen und weitere Gebiete von den Invasoren zurückzuerobern. Hätten die USA früher modernere Waffen bereitgestellt, wäre die Ukraine dazu besser in der Lage. Präsident (Joe) Biden beriet sich am Samstag mit den Staats- und Regierungschefs der G7 und bekräftigte seine unerschütterliche Unterstützung für die Ukraine. Das ist die richtige Botschaft, aber F-16-Jets und andere Mittel sind noch Wochen oder länger von der Bereitstellung entfernt.(...)

Und wer weiß, ob Putin Russland mit seinen unterschiedlichen ethnischen Gruppen und der Frustration über die Verluste und Opfer des Krieges zusammenhalten kann. Das Ziel der westlichen Politik besteht nicht darin, das zu zerstören, was schon immer ein künstliches Imperium war. Aber die USA können nicht kontrollieren, was passiert, und es sollte keine Anstrengung unternommen werden, die Russische Föderation zusammenzuhalten. Das beste Ergebnis dieses kostspieligen, tragischen Krieges wäre ein stärkeres westliches Bündnis (...)."

DPA
mad