Ex-US-Botschafter Robert Ford "Die Leute in Syrien brauchen unsere Hilfe"

Der Westen soll Syriens Rebellen aufrüsten, sagt Robert Ford, einst US-Botschafter in Damaskus, im stern-Interview. Bomben gegen den IS hingegen stärken nur das Assad-Regime.

Herr Botschafter, Sie sind 56 Jahre alt, Sie dienten über 30 Jahre als US-Diplomat. Sie arbeiteten in der Türkei, in Ägypten, Bahrain, Algerien und zuletzt lange im Irak und in Syrien. Warum gingen Sie in Frührente?
Mein Gefühl war: Es reicht, ich kann nicht länger. Wir mussten die Botschaft in Damaskus im Februar 2012 aus Sicherheitsgründen schließen. Es gab Drohungen. Ich kümmerte mich dann von Washington aus um Syrien. Leider war unsere Politik ein großer Misserfolg. Es war sinnlos. Ich wollte nicht mehr.

Was genau war das Ziel der US-Politik?


Die US-Position lautete: Dies ist nicht unser Bürgerkrieg. Syrien soll stabil bleiben. Das Land darf nicht zur Basis für Terroristen werden. Und wir würden es auch gern sehen, wenn im Land die Freiheit und Würde der Menschen gewahrt blieben.

Mit welchem Teil der Vorgaben waren Sie denn nicht einverstanden?


Die US-Regierung dachte – und sie denkt auch heute noch so –, dass es eine politische Einigung zwischen Opposition und Assad-Regime geben sollte, sodass eine nationale Einheitsregierung entstehen kann. Dieser Regierung sollten dann einige Leute des Regimes, einige von der Opposition und ein paar Unabhängige angehören. Ich fand das gut. Aber wir haben nichts, gar nichts getan, um dieses Ziel zu erreichen. Wir hatten keine Taktik, keine Strategie. Ich fand das unmöglich. Ich konnte es nicht länger ertragen.

Heute fliegen US-Flugzeuge und Drohnen in Syrien und auch im Irak Angriffe gegen den "Islamischen Staat" (IS). Wie beurteilen Sie die Lage?


Der IS ist extremer, radikaler als al-Qaida. Seine Kämpfer massakrieren Hunderte Dorfbewohner, nur weil sie einem bestimmten Stamm angehören. Sie verkaufen jesidische Frauen als Sexsklavinnen. Sie bringen unzählige Schiiten um. Sie köpfen westliche Geiseln. Der IS ist eine Gefahr für Europa und auch für uns in den USA. Wir sollten ihnen glauben, wenn sie auf ihren Webseiten ankündigen, dass sie uns angreifen werden.

Helfen Bomben gegen den IS?


Luftangriffe sind keine Lösung. Es braucht eine politische Lösung, in beiden Ländern, im Irak und in Syrien. In beiden Ländern müssen sich die Menschen zusammenschließen und gegen den IS vorgehen. Das ist keine Aufgabe, die von der US-Luftwaffe oder von Kampfjets aus England oder Saudi-Arabien erledigt werden kann.

Wird Assad durch die Luftangriffe auf den IS gestärkt?


Eindeutig ja.

Inwiefern?


Ich gebe Ihnen ein Beispiel. In der östlichen Hälfte Syriens hat das Assad-Regime noch eine einzige Militärbasis. Der IS stand kurz davor, den Komplex zu erobern. Die US-Luftwaffe hat die IS-Kämpfer schwer bombardiert und zurückgeschlagen. Das hilft dem Assad-Regime.

Helfen die Luftschläge auch den Rebellen in Syrien? Die kämpfen einen Krieg an zwei Fronten, gegen das Assad-Regime und gegen den IS.


Ich glaube nicht.

Soll der Westen die Rebellen in Syrien mit modernen Waffen aufrüsten?
Ja.

Warum?


Der Druck auf das Assad-Regime muss erhöht werden. Sonst kommt es nie zu Verhandlungen.

Das heißt mehr Kämpfe, mehr Tote?


Es tut mir leid. Es ist unvermeidbar. Ich sehe keinen anderen Weg, um das Assad-Regime irgendwann wieder an den Verhandlungstisch zu bekommen.

Welche Waffen wollen Sie den Rebellen geben? Boden-Luft-Raketen?


Nein, keine Raketen. Sie brauchen mehr und bessere Munition, panzerbrechende Waffen und – ganz wichtig – viel mehr Geld.

Warum Geld?


Jede Seite muss ihre Kämpfer bezahlen. Wer besser zahlt und wer das bessere Essen, die bessere Versorgung bietet, hat mehr Kämpfer.

Geld entscheidet den Krieg?


Ja.

Wie viel kostet ein Kämpfer?


Etwa 125 US-Dollar im Monat.

Oft heißt es, die Krieger aller Seiten seien ideologisch oder religiös verblendet.


Ich kann nicht für alle sprechen. Ich bin aber sicher, dass viele junge Männer in den Krieg ziehen, um ihre Eltern, ihre Frauen, ihre Kinder zu unterstützen. Ich habe in zahlreichen arabischen Staaten gelebt und gearbeitet, die Familie bedeutet alles. Wenn ich die Krieger auf den Geländewagen sehe, denke ich oft daran, dass sie zu Hause Familien haben, die auf das Geld warten.

Koordinieren die Amerikaner ihre Angriffe mit den Rebellen in Syrien?


Nein.

Warum nicht?


Ich kenne die Antwort nicht.

Sie sind für die Bewaffnung der Freien Syrischen Armee. Kann der Westen diesen Leuten trauen?

Ja. Da sind moderate Kräfte. Diese Leute brauchen unsere Hilfe, sie brauchen Waffen und Geld. Die Medien im Westen berichten zu wenig über diese Gruppen. Man kennt sie nicht, weil fast alle nur Arabisch, kein Englisch sprechen. Weil sie keine Ahnung davon haben, wie internationale Politik funktioniert.

Sind Sie sicher, dass Geld und Waffen in gute Hände geraten?

In den USA sieht man die Dinge gern schwarz oder weiß. Entweder etwas ist gut oder böse. Der Nahe Osten ist garantiert nicht schwarz oder weiß. Da gibt es viele Schattierungen in Grau. Von sehr dunkel bis hell. Und die Frage ist, welche Grautöne kann ich akzeptieren? Was ist der Preis dafür? Das wäre eine intelligente Diskussion. Sie fragten vorhin, kann man den Rebellen trauen? Da sage ich: Ja, sicher.

Wie sehr?

Das hängt davon ab, mit wie viel Grau man leben kann.

Und Sie sagen: Man kann Grautöne in Syrien kaufen. Je mehr Geld, desto heller wird das Grau.

In Syrien gibt es viele Kaufleute. Es geht darum, genug Leute in Grau zu bekommen, die Druck auf das Regime machen. Nur so kann ein Deal gelingen.

Ein Deal? Mit oder ohne Assad?

Mit Assad wird es keinen Deal geben. Aber mit Leuten in Assads Umgebung ist ein Geschäft vielleicht möglich. Ich weiß, dass es innerhalb des Regimes Meinungsverschiedenheiten gibt. Diese sollten wir ausnutzen.

Oder gibt es womöglich ein stilles Einvernehmen in der Obama-Regierung, Assad zu schonen?

Ich kann dazu nur so viel sagen: Es ist ganz leicht zu verstehen, warum Sie diese Frage stellen. Hier in Washington wäre es eine schreckliche Niederlage für den Präsidenten und die Demokraten, wenn sie ihre Position um 180 Grad ändern müssten. Sie müssten zugeben, mit einem Diktator zu kooperieren, der im industriellen Ausmaß Chemiewaffen einsetzt, foltern und töten lässt. Das ist nicht vorstellbar.

Verfügt Assad noch immer über Chemiewaffen? Es heißt, das Regime wirft Chlorgasbomben aus Hubschraubern ab und bringt die eigene Bevölkerung um.

Exakt so ist es.

Noch in der vergangenen Woche soll er ein Flüchtlingscamp in der Provinz Idlib mit sogenannten Fassbomben bekämpfen lassen haben. Dutzende Menschen seien gestorben.

Gehört habe ich das auch, aber ich habe keine Informationen aus unabhängigen Quellen darüber. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass es stimmt. Das Regime hat schon früher absichtlich zivile Ziele bombardiert, Schulen, Krankenhäuser, Bäckereien. Dies ist einer der Gründe, warum der UN-Hochkommissar für Menschenrechte sagt, dass das Assad- Regime sich wahrscheinlich Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat. Und dafür zur Verantwortung gezogen werden sollte.

Chemiewaffen, Angriffe auf Zivilisten: Warum akzeptiert Ihr Präsident Obama das? Das ist doch weit über seiner "roten Linie"?

Es ist furchtbar, dass die Obama-Regierung darüber nicht offiziell spricht. Die Einzige, die es tut, ist Samantha Power, die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen in New York. Sie hat Courage, sie verteidigt die Menschenrechte.

Warum spricht in Washington niemand darüber?

Auf diese Frage würden Ihnen die Juristen im US-Außenministerium so antworten: "Die Vorprodukte für Chlorgas sind nicht illegal."

Das heißt: kein Thema für die USA.

Mir ist völlig unverständlich, warum internationales Recht es zulässt, dass Assad in seinem Land Zehntausende Menschen straflos ermorden kann. Kein Jurist hat mir bisher darauf eine befriedigende Antwort geben können.

Ihr Kollege Ryan Crocker, einst US-Botschafter in Afghanistan und im Irak, sagte noch vor einem Jahr: "Bei uns im Westen Amerikas gibt es ab und zu riesige Waldbrände. Man kann sie nicht löschen. Man kann sie nur eindämmen und ausbrennen lassen. So ist es auch mit Syrien." Denken viele in der US-Regierung so über die Kriege im Nahen Osten?

Es gab eine Zeit, da haben wichtige Leute in Washington so gedacht. Das hat sich geändert. Spätestens als die irakische Stadt Mossul in die Hände des IS gefallen ist.

Wie beurteilen Sie die Lage im Irak?

Sie ist schlimm.

Warum?

Sunniten und Schiiten müssen sich schnell einig werden und gemeinsam gegen den IS kämpfen. Passiert das nicht, wird der Irak als Land nicht mehr lange existieren. Der Irak ist dann erledigt. Ich rate auch sehr dazu, die schiitischen Milizen und kurdischen Verbände genau zu beobachten, ob sie die Menschenrechte einhalten. Wenn das nicht geschieht, werden alle Anstrengungen untergraben, die dritte wichtige Gruppe, die Sunniten, für den Kampf gegen den IS zu gewinnen.

Haben Sie Grund, am Verhalten der Kurden und Schiiten zu zweifeln?

Es gibt bereits Berichte, dass schiitische Milizen in der Nähe von Abu Ghraib Geiseln nehmen, um Lösegeld zu erpressen. Amnesty International wies vor zwei Wochen darauf hin, dass sunnitische Zivilisten in der Provinz Dijala von schiitischen Milizen ermordet wurden. In der Bevölkerung dort heißt es: "Wenn der IS hierherkommt und die schiitischen Kämpfer vertreibt, dann unterstützen wir das."

Die deutsche Regierung will die Kurden im Irak mit Waffen unterstützen. Ein richtiger Schritt?

Ja. Das ist gut. Aber man muss aufpassen, dass die Peschmerga-Kämpfer in ihrem Gebiet die arabischen Sunniten nicht ausgrenzen, sie stattdessen als Verbündete gewinnen.

Sollten die USA und ihre Verbündeten im Irak scheitern, wird es dann einen kurdischen Staat geben?

Das ist möglich. Aber das hängt nicht so sehr von den Kurden selbst ab. Da spielen die Türkei, der Iran, der Irak und die Europäer eine große Rolle.

Obama sagt: "Wenn es irgendwo auf der Welt Probleme gibt, dann wird nicht Peking gerufen. Auch nicht Moskau. Sie rufen uns." Hat der Präsident Recht?

Ich trat 1985 in den diplomatischen Dienst ein. Damals gab es noch die Sowjetunion, und die Mauer in Berlin stand noch. Damals stimmte das. Heute, 2014, ist China eine Großmacht, in Europa ist Deutschland sehr stark. Die USA spielen immer noch eine große Rolle. Aber in einer multipolaren Welt müssen Amerikaner und Europäer mit vielen Partnern auf der Welt zusammenarbeiten. Manchmal müssen die USA führen. Aber nicht immer und nicht einseitig, nicht unilateral.

Ist die internationale Koalition gegen den IS daher ein gutes Beispiel für kluge Außenpolitik?

Ja.

Interview: Norbert Höfler, New York