Rückkehrer aus Libyen "Die Lage in Tripolis ist wahnsinnig"

Die Welt blickt fassungslos nach Libyen: Italienische Rückkehrer berichten von Lynchversuchen und wilden Schießereien. Experten befürchten nun, dass das Land in einem Bürgerkrieg versinkt.

Gewalt und Horrorszenen auf den Straßen von Tripolis, absolutes Chaos auf dem Flughafen der libyschen Metropole - die ersten in ihre Heimat zurückgeflogenen Italiener berichten von Tagen des Schreckens in dem vom Umsturz erfassten nordafrikanischen Land. "Auf der Fahrt von Sabratha nach Tripolis haben sie versucht, uns zu lynchen, es war entsetzlich", so ein Passagier noch mit Angst in den Augen, wie die Zeitung "La Repubblica" berichtete. Er war unter den ersten 175 nach Rom ausgeflogenen Italienern.

"Im ganzen Land gibt es Kämpfe, überall wird geschossen", sagt der Italiener Fabrizio Carelli bewegt. "Die Lage in Tripolis ist wahnsinnig, die Straßen sind leer, und die Privattruppen Gaddafis schießen auf alles", sagt der dem Chaos entkommende Libyer Mohammed Sherif. Von allen Seiten seien Schüsse zu hören gewesen, man habe sich nicht auf die Straße gewagt, so sagen auch andere. "Angst hatten wir nicht, sie führen Krieg unter sich, zu uns (Ausländern) sind sie freundlich", berichtete ein Italiener. Dass sich nicht alle Ausländer sich bedroht fühlen, bestätigt auch ein Mitarbeiter einer Hamburger Firma stern.de.

"Es mangelt an Wasser und Essen"

Kritik äußerten einige Rückkehrer an der italienischen Botschaft, von der sie sich alleingelassen fühlten. Der Flughafen von Tripolis sei jetzt eine Art Flüchtlingslager, "es mangelt an Wasser und Essen, während Tausende darauf warten, abfliegen zu können", wird in der Zeitung "Corriere della Sera" berichtet. Man müsse sich drängelnd Platz verschaffen und für das Einchecken über die Leute steigen.

Libyens Vizebotschafter bei der UN, Ibrahim Dabbashi, der sich am Tag zuvor von Gaddafi losgesagt hatte, sprach im UN-Sicherheitsrat von einem "beginnenden Völkermord". Der Machthaber setze auch Söldner "aus vielen afrikanischen Ländern" ein. UN-Untergeneralsekretär Lynn Pascoe bestätigte, dass es in Libyen Gerüchte über den Einsatz ausländischer Soldaten gegen Demonstranten gebe. "Die Menschen auf der Straße glauben, dass solche Söldner eingesetzt werden. Unsere Mitarbeiter sind sehr besorgt." Die UN seien aber nicht in der Lage, diese Berichte zu bestätigen.

Flüchtlingswelle "biblischen Ausmaßes"

Die italienische Regierung, seit langem schon einer der engeren westlichen Verbündeten mit den Machthabern in Tripolis, sieht wegen der Unruhen eine Flüchtlingswelle "biblischen Ausmaßes" auf sich zukommen. Bis zu 300.000 Migranten aus dem nordafrikanischen Land könnten nach Italien fliehen, sagte Außenminister Franco Frattini der "Corriere della Sera". Rund ein Drittel der Bevölkerung Libyens oder 2,5 Millionen Menschen seien Einwanderer aus Afrika südlich der Sahara und diese könnten nach Einschätzung des Ministers ebenfalls fliehen, sollte Machthaber Muammar al Gaddafi gestürzt werden. "Wir wissen, was zu erwarten ist, wenn das libysche System zusammenbricht - eine abnormale Welle von 200.000 bis 300.000 Immigranten, oder eher das Zehnfache des albanischen Flüchtlingsphänomens, das wir in den 1990er Jahren erlebt haben", so Frattini. "Dies sind Schätzungen und auch eher konservative. Es ist ein biblischer Exodus", sagte er.

Im Laufe des Tages kommen in Rom die Innenminister aus Italien, Zypern, Frankreich, Griechenland, Malta und Spanien zusammen. Die Minister wollen ihre politische Reaktion auf die Ereignisse in Libyen abstimmen und eine Empfehlung an die Europäische Kommission abgeben. Die internationale Gemeinschaft zieht nach den Worten des wichtigsten diplomatischen Beraters von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy allerdings keine Militärintervention in Libyen in Betracht. Über Sanktionen seitens Europas müsse aber nachgedacht werden, sagt Jean-David Levitte auf einer Pressekonferenz in Paris. Dazu zählten Reiseverbote und das Einfrieren von Vermögen.

"Libyen droht ein langer Bürgerkrieg"

Nach Einschätzung eines Experten droht dem Land ein langer und blutiger Bürgerkrieg. Der in Bedrängnis geratene Machthaber habe genügend Rückhalt, sagte der Deutschlandkorrespondent des arabischen Senders al Dschasira, Aktham Suliman, im ZDF-"Morgenmagazin". "Er beherrscht immer noch einen Teil des Landes, ein Teil der Armee ist ihm immer noch loyal", so Suliman. Die Informationen und Einschätzungen seines Senders gelten derzeit als eine der wichtigsten Quellen für die Lage in dem nordafrikanischen Land.

Selbst ein erfolgreicher Putsch gegen Gaddafi werde die Lage in Libyen möglicherweise nicht beruhigen. Dafür seien die Anhänger und Söldner des Machthabers zu stark, sagte Suliman. "Auch, wenn er abgesetzt werden sollte in den nächsten Stunden und Tagen, stehen sich die zwei Gruppen gegenüber - mit viel viel Blut dazwischen." Der Journalist warnte auch, Gaddafi wegen seiner oft verrückt und verwirrt wirkenden Auftritte zu belächeln. Die Geschichte zeige, dass gerade unberechenbare Diktatoren die gefährlichsten seien. "Das Problem ist, wenn man sie nicht ernst nimmt und sie es ernst meinen."

Totgesagter Innenminister läuft über

Innenminister Abdel Fatah Junes, der von Gaddafi totgesagt war, hat seinen Rücktritt und die Unterstützung der Opposition bekanntgegeben. "Als Antwort auf die Revolution gebe ich hiermit meinen Rückzug von allen Funktionen bekannt", sagte Junes am Dienstagabend im Fernsehsender Al Dschasira. Gaddafi hatte am Nachmittag in einer Fernsehansprache behauptet, Aufständische in der östlichen Stadt Bengasi hätten den Innenminister getötet. Junes sagte dagegen in einem Telefoninterview mit dem Nachrichtensender al Arabija, ein Anhänger von Gaddafi habe versucht, ihn zu erschießen. Der Schütze habe ihn jedoch verfehlt und stattdessen einen Verwandten des Ministers verletzt. Er sei nun kein Minister mehr, sondern ein Soldat im Dienste des Volkes.

DPA · Reuters
nik/DPA/AFP/Reuters