Marcy Borders, Bankangestellte
Dies ist ein guter Tag für Marcy Borders. An guten Tagen ist der Kühlschrank einigermaßen voll, und Marcy traut sich auf die Straße. Besucht vielleicht einen Freund um die Ecke oder ihre Cousine oder Schwester. Oder Tochter Noelle, neun Jahre, die beim Vater lebt, seit die Mutter nur noch weinte und auf dem Sofa lag und beim Grübeln nicht weiter kam als auf den Grund der Bier- und Schnapsflaschen.
Dies ist ein guter Tag für Marcy Borders, weil sie einigermaßen flüssig erzählen kann und nur gelegentlich von Weinkrämpfen geschüttelt wird und niemand anruft, der fragt: "Wie fühlst du dich?" Monate hat sie darauf nur antworten können: "Wie am 12. September." Dies ist auch ein guter Tag, weil die Kopfschmerzen nicht so stark sind wie sonst und sie kein Aspirin schlucken muss, "ich habe nie Aspirin genommen vor dem Elften." An schlechten Tagen wummert der Schädel, und das hat nichts zu tun mit leeren Schnapsflaschen. Marcy trinkt zurzeit nicht mehr. Sagt sie. Der Schädel wummert von der Wucht der Bilder. Ein immer gleicher Film läuft da ab: Tote, Verletzte, Flugzeuge, Menschen, die aus den Türmen springen, bevor die einstürzten. Es ist ihr Film, "ich kriege das nicht aus dem Kopf".
Marcy Borders ist krank. Sie benötigt dringend psychologische Hilfe. Aber da ist niemand, der ihr hilft. Vielleicht wohnt sie im falschen Ort, Bayonne, New Jersey, eine Schlafstadt auf der anderen Seite des Hudson-Flusses. In New York, Luftlinie fünf Meilen, geben sie Abermillionen aus für die psychologische Betreuung von Opfern des 11. September. Marcy Borders ist eine junge, attraktive Frau von 29 Jahren. Ihre Augen sind matt, sie spricht leise mit einer rauchigen Stimme. Sie sagt, dass sie einmal eine fröhliche Frau war: "I was a Party-girl." 1992 hat Marcy ihren Schulabschluss an der Bayonne High School gemacht, sie studierte für kurze Zeit an der New Jersey State University und machte einen Abschluss am "Chubb Institute", einer Schule für Büro-Management. "Ich hatte eine ganze Reihe von Jobs." Marcy Borders konnte immer gut mit Menschen. Dreimal in der Woche ging sie in die Baptisten-Kirche, und gelegentlich half sie in der Suppenküche und teilte Essen aus an Obdachlose. "Ich habe immer gegeben, immer."
Sie lebte ein beschauliches Vorstadtleben im ärmeren Viertel von Bayonne, zog ihre Tochter groß. Und vergangenes Jahr hatte sie Glück. Ihre Zeitarbeitsfirma vermittelte ihr ein Angebot der "Bank of America", New York City, World Trade Center. Marcy mochte New York eigentlich nie. Sie hatte ihr Leben lang Angst vor der großen Stadt auf der anderen Seite des Flusses. Hatte immer Angst, dass etwas passieren könnte, etwa in der U-Bahn. Es gab und gibt zu viele Verrückte in New York City. Marcy Borders war nie im Central Park, nie in der Wall Street, sie hasste die Brücken und Tunnel. Sie kannte Manhattan als Skyline. Sie sagt: "Ich war im ganzen Leben nur zweimal drüben - zum Einkaufen." Aber das Angebot als Büroassistentin war gut, und es hätte ihr 40000 Dollar pro Jahr gebracht und damit finanzielle Sicherheit für sich und die Tochter. Sie willigte ein. Marcy Borders trat ihre Stelle am 12. August an.
"Ich dachte sofort, das ist Krieg"
Sie steht am Kopierer im 81. Stock, als das Flugzeug sich zwölf Etagen höher in den Nordturm bohrt. Der Tower schwankt wie ein Schiff auf hoher See. Sie schreit, "ich dachte sofort, das ist Krieg, eine Rakete hätte eingeschlagen". Ein Kollege kommt auf sie zu und sagt "Beruhige dich. Ein kleines Flugzeug hat uns gestreift." Und nichts würde passieren. Aber Marcy glaubt das nicht. Sie sieht ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Panik erfasst sie, und die Panik rettet ihr das Leben. Marcy beginnt unverzüglich den Abstieg durchs Treppenhaus. Im 44. Stockwerk wollen Sicherheitsleute die Flüchtenden umdirigieren zu einem Fluchtweg. Marcy weigert sich, sie steigt weiter ab. Im 33. Stockwerk trifft sie den ersten Feuerwehrmann. Er hastet an ihr vorbei und mit großer Sicherheit in den Tod. Im 25. Stock tropft Wasser aus den Wänden. Ein Mann hinter ihr kehrt um. Sie geht weiter. "Ich fragte Gott: Was soll ich tun?" Und sie entscheidet sich richtig. Abwärts, nur abwärts. Und sie singt. Immer und immer wieder singt sie ein Gospellied von Kirk Franklin: "My Life is in your hands, You don't have to worry, And don't you be afraid. Oh I know that I can make it." Ich kann es schaffen. Sie singt und singt. Und sie schafft es.
Nach einer Stunde und zwanzig Minuten erreicht die junge Frau den Ausgang. Die Rettungsleute unten sagen: "Keine Panik." Aber sie rennt. Und stolpert und fällt. Steht wieder auf und läuft, fällt wieder. Dann hört sie ein Grummeln, und ein Feuerwehrmann brüllt: "Rennt, rennt, dreht euch nicht um, rennt." Es ist der Moment, in dem der Südturm zusammenstürzt. Sie kreischt: "Ich will nicht sterben!" Die Druckwelle reißt sie von den Beinen. "Alles war schwarz um mich herum. Alles. Ich glaubte ganz sicher, ich sei tot."
Marcy kann nichts sehen, der Staub ist überall. Im Mund, in den Nasenlöchern. Auf dem ganzen Körper. Ihr Kostüm - schwarzes Top, schwarzes Halstuch, beiger Rock - und die kniehohen Wildlederstiefel sind nun weiß. Marcy spuckt Staub. Ein Mann tritt auf sie zu. Er hat kein Hemd mehr an, sein Bauch ist dick, daran erinnert sie sich. Der Fremde hilft ihr auf die Beine, hakt sie unter und geleitet sie durch die Trümmer zu einem sicheren Gebäude. "Er war mein Schutzengel, ohne ihn hätte ich es nicht geschafft." Sie hat ihn danach gesucht, sie hat alle möglichen Leute befragt. Sie glaubt, dass der fremde Mann mit dem dicken Bauch wieder zurück gerannt ist, um anderen zu helfen, "vermutlich ist er tot". Marcy lebt.
Seitdem ist ihr Leben ein Trümmerfeld
In dem Augenblick, als der Fremde kehrt macht, drückt der Fotograf auf den Auslöser. Seitdem ist Marcy Borders "die Staubfrau". Aber seitdem ist sie berühmt. Seitdem ist ihr Leben ein Trümmerfeld.
Man erreicht Marcy Borders kleines Apartment über eine vermüllte Treppe. Im Hausflur hängt ein Geruchsgemisch aus Essen, Hundescheiße und Urin. An ihrer Tür klemmt eine kleine US-Fahne, und darunter pappt ein Aufkleber: "09 - 11 - 01. Bayonne Columbine Commitee. WE CARE". Marcy sagt: "Kümmern?" Sie lacht spöttisch. Zwei, drei Tage nach der Katastrophe, sagt Marcy, rief die "Bank of America" bei ihr an. Man teilte ihr mit, sie habe eine Woche Zeit, wieder zu sich zu kommen - "sonst werden Sie ersetzt".
Aber Marcy kam nicht zu sich. Die Bank sagt, sie habe Mrs Borders andere Jobs angeboten, jenseits der City, und sie habe abgelehnt. Marcy sagt: "Das stimmt nicht." Wort steht gegen Wort, aber das ist wahrscheinlich auch unerheblich, denn die junge Frau war arbeitsunfähig. Über Monate traute sie sich nicht vor die Tür. Lag auf dem Sofa, weinte, ließ die Wohnung verkommen, magerte dramatisch ab, ernährte sich nur von Nudel-Hühnersuppe, "das Einzige, was ich runterkriegte". Ihr einstiger Lebensgefährte James - "er ist ein guter Mann" - nahm die gemeinsame Tochter zu sich. Sie soff, um überhaupt schlafen zu können - und ohne Albträume. Sie überlebt bis heute nur mit dem Geld der Familie. Mehrmals kappte die Telefongesellschaft ihren Anschluss, weil sie Rechnungen nicht bezahlen konnte. Sie sagt: "I am fucked up."
An Halloween verkleidete sich ein Junge wie Marcy. Schüttete sich Staub über die Klamotten und ging von Tür zu Tür, klopfte auch bei ihr. Sie brach zusammen. Nachbarn sprayten "Dust Lady", Staubfrau, an ihre Tür. Man machte Witze über sie. Und also verschloss sie sich noch mehr. Lebte wie eine Gefangene in den eigenen vier Wänden, 175 Dollar Miete. Ihre Mutter Ruby beschimpfte sie regelmäßig am Telefon - "verdammt, komm endlich zu dir! Lebe wieder! Such dir einen Job. Zerfließ nicht in Selbstmitleid. Du hast überlebt!"
Mal gute, mal schlechte Tage
Aber Marcy Borders ist noch nicht so weit. Sie schwankt in ihren Stimmungen. Hat gute und schlechte Tage. Sie braucht Hilfe. Sie suchte diese Hilfe beim Roten Kreuz und bekam ein paar hundert Dollar. Aber sie bekam nicht das, was sie brauchte: seelischen Beistand. Das Rote Kreuz von Bayonne behauptet, man habe ihr mehrmals Hilfe angeboten. Auch die Behörden in New Jersey und New York City erklären übereinstimmend, dass sie Mrs Borders unterstützen wollten - erfolglos. Nur ist es ein uramerikanischer Irrglaube, dass man mit Geld alles regeln kann und sogar kaputte Seelen reparieren. Marcy ist eine Verliererin. Und Verlierer haben es schwer in Amerika.
Vor einigen Wochen rief sie im Weißen Haus an - aus purer Verzweiflung. Und die Leute am anderen Ende der Leitung waren sehr freundlich; sie kannten Marcy Borders natürlich, jeder kennt die Staubfrau. Nach zwei Tagen kam ein Brief aus Washington auf feinem Papier: "Dear Mrs Borders, vielen Dank, dass Sie Präsident George W. Bush für Unterstützung seitens der Regierungsbehörden kontaktiert haben..." Dann listeten sie eine Reihe von Hilfsorganisationen auf und versprachen rasches Handeln, und "der Präsident übermittelt seine besten Wünsche". Tatsächlich tauchten kurze Zeit später zwei von der Heilsarmee auf und überreichten ihr einen Wust von Formularen, die sie schon einmal ausgefüllt hatte. Behörden-Kauderwelsch und Irrsinn zugleich. Marcy Borders muss offiziell beweisen, dass sie am 11. September überhaupt die Katastrophe vor Ort überlebt hat.
Und sie muss beweisen, dass sie leidet. Die ganze Welt weiß das. Marcy hat Hunderte von Briefen bekommen. Die Menschen schickten ihr Teddybären zum Trost, und ein Mann aus England sandte sogar 500 Dollar. Das Mädchen Elizabeth aus Piedmont Oklahoma schrieb ihr eine Karte: "Versuche zu lächeln."
An guten Tagen lächelt Marcy. An guten Tagen holt sie sogar die Klamotten aus der Plastiktüte, die sie am 11. September trug. Sie nennt die Sachen "Luckiest dress", Glückskleider, und will sie eines Tages der Tochter schenken, wenn die besser versteht und nicht mehr fragt: "Warum weinst du so oft?"
An schlechten Tagen ist Marcy kaum ansprechbar. Dann denkt sie unentwegt an neuen Terror, die Verrückten sind überall. Sie verlässt die kleine Wohnung dann nicht. Und beginnt zu zittern, wenn ihr Ex-Freund Rick in die Wohnung stürmt. Der sie - das kam hinzu - missbrauchte und schlug, geschunden und elend, wie sie war. An schlechten Tagen kommen die Albträume, und der Kopf schmerzt. Sie grübelt, wie es weitergehen soll. Würde gern der Tochter was bieten, "etwas Besseres als mein Leben". Würde gern einen neuen Mann kennen lernen, der ihr zuhört und nicht zuschlägt. Hätte gern verdammt noch mal nur einen einzigen Wunsch frei. Und was würdest du dir wünschen, Marcy? "Eine ruhige Nacht."
Christian Waugh, Feuerwehrmann
Der 55-Jährige ist ein stattlicher Mann. Groß, breite Schultern, kräftige Hände. Die leise Stimme passt irgendwie nicht zu diesem Körper. Christian Waugh war stets Feuerwehrmann aus Leidenschaft. Wollte nichts anderes sein. Heute sagt er: "Ich will raus, spätestens Ende des Jahres." 29 Jahre war er dabei. Waugh humpelt seit dem 11. September, verletzte sich das Knie schwer. Womöglich muss er ein neues Gelenk bekommen. Das sind die körperlichen Spuren. Die seelischen sind kaum minder schwerwiegend. Nachts wacht er gelegentlich auf und sieht die Gesichter der toten Kollegen. Seine Feuerwache verlor elf Mann, er war bei 40 Beerdigungen, konsultierte einen Therapeuten, "das half ein bisschen". Waugh ist ein nachdenklicher Mensch. "Komisch ist, jetzt ständig neue Leute zu sehen." Er meint die Ersatzleute.
Christian Waugh verdankt sein Leben einem Toten - Father Mychal Judge, dem beliebten Feuerwehr-Kaplan von New York City. "Wir standen in der Lobby von Turm eins, Father Judge nur ein paar Meter von mir entfernt, da stürzte der Südturm zusammen." Als sich der Staub lichtete, lag der Geistliche im Schutt. Sie fühlten seinen Puls, da war nichts mehr, "vermutlich ein Herzinfarkt". Waugh und vier andere Männer trugen den Pfarrer hinaus auf die Straße Richtung Church Street - kurz darauf kollabierte der zweite Tower. Sie wären darin umgekommen wie die anderen Kollegen. Father Judge wird offiziell als erster Toter geführt. Sein Totenschein trägt die Nummer 00001.
Ed Fine, Geschäftsmann
Ed Fine hat Gott gesehen. Gott lag im Gras vor seinem Apartment in North Plainfield. Gott sprach durch die Augen eines jungen Rehbocks. "Er schaute mich an. Aus dem Blick sprach: "Ich war bei dir, ich habe dich beschützt, jetzt kannst du Frieden finden." Das war am Abend des 11. September.
Edward Fine ist kein Spinner. Er ist Geschäftsmann und betreibt mit seinem Sohn Stuart die Beratungsfirma "Carpe DM" in Watchung, New Jersey. "Ich bin Jude, war aber nie übertrieben gläubig." Das Foto vom verstaubten Aktenkoffermann ging um die Welt. Das Wirtschaftsmagazin "Fortune" hob es auf den Titel. Es sollte diesen Wall-Street-Spirit symbolisieren - "Seht her, selbst in den schlimmsten Stunden der Nation, denkt dieser Mann noch an seine Akten." Sie hätten keinen Besseren finden können. Denn Ed Fine führte an jenem Morgen nach einem frühen Geschäftstermin eine Gruppe von Flüchtenden zum Notausgang im 78. Stock des Nordturms, "eine göttliche Mission". Während sie hinunterkletterten, schaute er auf seine Uhr:
"Vielleicht schaffe ich es noch bis zum nächsten Termin um elf." Er lockerte sich nicht mal die Krawatte.
Ed sieht ein bisschen aus wie ein Priester. Manchmal redet er auch so; allerdings wie einer, der den Klingelbeutel nicht vergisst. Er sagt, dass er Gott etwas schuldet, und berät eine medizinische Datenbank, mit deren Hilfe die Krebsforschung effizienter werden soll. Honorare verlangt er schon mal in symbolischer Höhe: 911 Dollar die Stunde. Nine-Eleven, wie die Amerikaner sagen, der 11. September. Ed Fine hat über den Tag ein Essay geschrieben - "God was watching me". Daraus spricht der spirituelle Ed. Der geerdete Ed redet manchmal wie George Bush: "Was immer diese Typen versucht haben, dieses Ereignis macht uns nur stärker." Dann muss Ed gehen. Er hat viel zu tun. Zeit ist Geld. Auch an dem 11. September.
Rachel Uchitel, Journalistin
Gerade wenn alle Welt in Urlaub fährt, spürt sie, dass in ihrem Leben nichts mehr so ist, wie es war. "Ich dachte anfangs immer, jeder würde verstehen, was es heißt, den Partner zu verlieren", sagt die 27 Jahre alte Produzentin von "Bloomberg TV". "Aber das Leben der anderen geht einfach weiter, während ich ganz neu beginnen muss. Andy war der Mann, den ich ein Leben lang gesucht hatte und mit dem ich den Rest des Lebens verbringen wollte."
Als Andy O'Grady, 32, geschäftsführender Direktor bei der Broker-Firma Sandler O'Neill, starb, waren sie gerade fünf Wochen verlobt und erst zwei Tage von einem Trip nach Griechenland zurück. Jetzt sieht sie Kollegen und Freunde in Urlaub fahren und bleibt allein zurück. Nur seine Stimme hat sie noch im Ohr. Immer wieder hört sie den Satz, den er sagte, als er noch einmal aus seinem Büro im 104. Stock anrief: "Ich habe gerade einen gesehen, der aus dem Fenster gesprungen ist."
Rachel Uchitel ist eines von vielen indirekten Opfern des 11. September. Ihr verstorbener Partner verdiente deutlich mehr als sie. Wenn jemand entschädigt werden solle, findet sie, dann auch die unverheirateten Partner. Aber einen Anspruch hat sie natürlich nicht. Andy hat sein Vermögen seiner Schwester vermacht. "Wenn Rachel wirklich bedürftig wäre und Andy sie unterstützt hätte, würden wir das vielleicht auch tun", sagt Andys Mutter. "Aber sie ist jung. Ich glaube, sie wird jemanden heiraten, der einen Haufen Geld hat." Unter den vielen Briefen, die Rachel Uchitel erhalten hat, war auch ein Heiratsantrag, von einem Arzt aus Frankreich.
Julie McDermott, Sekretärin
"Ich habe keine Albträume. Und ich hatte auch keine unmittelbar danach. Ich brauchte auch keine psychologische Betreuung. Mein Leben hat sich recht schnell wieder normalisiert. An dem Morgen fuhr ich wie immer mit dem Aufzug in den 78. Stock, und von dort aus nahm ich den Lift hinunter auf die 77. Etage, wo das Büro meiner Firma Alliance Continuing Care Network liegt. Es war noch niemand da, die 'New York Times' lag vor der Eingangstür. In diesem Moment tat es diesen furchtbaren Knall. Ich dachte: 'Ein Erdbeben'? Eine Frau kam aus ihrem Büro gelaufen. Ich kannte sie bis dahin nicht. Sie hieß Cynthia, ich weiß bis heute nicht ihren Nachnamen. Sie hatte Schmerzen; ein Aktenschrank war durch die Wucht des Einschlags gegen sie gekippt. Cynthias Rippen schmerzten, und ihre Knie waren blutig und zerschnitten von Glas. Wir haben nicht lange nachgedacht und sind los, die Treppen runter.
Es war ein beschwerlicher Abstieg, ich hatte meine Schuhe verloren und ging barfuß, und Cynthia konnte nicht so schnell wegen der Schmerzen. Nach einer Stunde waren wir unten, und da kam dann dieser Rettungsmann auf uns zu. Ich kann mich daran kaum noch erinnern. Wir sind schließlich Richtung Norden gelaufen, ich barfuß und Cynthia mit blutenden Knien und schmerzenden Rippen. In einem Lebensmittelgeschäft konnten wir uns waschen und telefonieren. Auf der Spring Street traf ich meine Arbeitskollegin und Freundin Kerri. Cynthia ist schließlich zu Fuß nach Hause gegangen. Bis nach Queens. Das ist irre weit.
Vor einiger Zeit hat Cynthia mich mal angerufen. Sie erzählte mir, dass ihre Rippen gebrochen waren und dass sie unter Albträumen leidet. Sie tat mir leid. Nach zwei Wochen habe ich wieder gearbeitet und mich um meinen Mann und meine Tochter gekümmert. Es musste ja weitergehen. So ist New York."
Bob Beckwith, Feuerwehrmann
Er hat seine Meinung dann doch ein wenig ändern müssen über jenen Mann, den er nicht gewählt hat. Über den man eher spöttelte, auch in Baldwin, Nassau County. Bob Beckwith sagt heute: "Er ist ein guter Typ." Er traf den Präsidenten am 14. September. Beckwith, 70, seit acht Jahren pensioniert, hatte zu seiner Frau früh am Morgen gesagt: "Ich muss dahin." Seine Kinder warnten: "Du bist viel zu alt." Natürlich setzte er sich trotzdem in den Saab und fuhr los. Schlug sich durch zu Ground Zero. Schnappte sich eine Schaufel und grub und grub. Dann rief jemand: "Der Präsident kommt." Beckwith kletterte auf einen demolierten Feuerwehrwagen um den Mann besser sehen zu können, den er nicht gewählt hatte. Ein Typ vom Geheimdienst mit Knopf im Ohr fragte: "Hey, ist das sicher da oben?" Bob sagte: "Ja." "Okay, spring ein paar Mal auf und ab." Und der alte Beckwith sprang auf und ab. Dann sagte der vom Geheimdienst: "Gleich kommt der Präsident, du hilfst ihm rauf. Dann verschwindest du." Schon bog Bush um die Ecke. Bob reichte ihm die Hand und wollte sich abwenden. Doch Bush sagte: "Sie bleiben schön oben." Der Rest, sagt Bob, ist Geschichte. Ein großer Zufall gewesen. "Richtiger Ort, richtige Stelle."
Er und Barbara, seit 45 Jahren verheiratet, sechs Kinder, wurden danach eingeladen. Bob reiste bis nach Deutschland für eine Fernsehsendung. Das Honorar spendete er einem Zentrum für Verbrennungsopfer. Traf zwei Cousinen, die er seit 54 Jahren nicht gesehen hatte und die ihn im Fernsehen erkannten. Und schließlich traf Bob noch einmal den "normalen Typen". Im Weißen Haus. Bob nahm seine Enkeltochter Megan, 11, mit. Und Bush schrieb der Kleinen eine Entschuldigung: "Megan konnte heute am Unterricht nicht teilnehmen. Sie war beim Präsidenten."
Sonja Ross, Journalistin
"Ich habe ein Jahr lang versucht, nicht daran zu denken. An all das, was passiert ist, als ich mit einer Gruppe von Kollegen Präsident Bush in Florida begleitete. Kurz nachdem man ihm zugeflüstert hatte, was geschehen war, saßen wir schon in der Präsidentenmaschine. Ich habe mich nie verletzlicher gefühlt, auch wenn die "Air Force One" als sicherstes Flugzeug der Welt gilt. Damals hatten Terroristen vier Flugzeuge vom Himmel geholt. Warum nicht das des Präsidenten? Ein ganzes Jahr habe ich damit zugebracht, nicht daran zu denken, und doch geht es mir immer wieder durch den Kopf. Das Essen - es gab Hühnchen-Sandwich, Makkaroni-Salat, Erdbeerpudding, das keiner anrührte. Diese ungläubigen 'Oh my God'-Ausrufe. Die Angst, als wir im Fernsehen sahen, dass das Pentagon brannte, ein weiteres Flugzeug in Pennsylvania abstürzte und die Türme einstürzten. Und wir mit Bush im Flugzeug. Fast zwei Stunden lang spekulierten wir, wo wir sein könnten und wo wir landen würden. Heute mag ich nicht mehr grübeln. Ich möchte einfach nur mein Leben leben."
Mike Kehoe, Feuerwehrmann
"Irgendwie hatte ich damals gleich das Gefühl, dass da keiner hochgehen sollte", sagt Mike Kehoe, 34. Schon die Anfahrt ans World Trade Center war nur im Zickzack möglich, weil am Boden leblose Körper lagen, die vom Himmel gefallen waren. Aber natürlich stürmte auch Kehoe vom Löschzug 28, East Village, New York, in den Nordturm. "Es ist unser Job, Menschen zu helfen und Feuer zu löschen."
Wie kaum ein anderes Foto versinnbildlicht der Schnappschuss von dem Feuerwehrmann mit dem Bernhardinerblick den Horror in den zusammenbrechenden Türmen. Und wie kaum ein anderes Foto ist es für die Amerikaner gleichzeitig zu einem Symbol von Hoffnung und Mut geworden. Seither gilt Kehoe als Held.
Vermeintlich Wohlwollende verfolgten ihn mit Anrufen, schickten Schecks, Whiskey, Gebete, Zigarren, stellten immer wieder die gleiche Frage: "Wie viele hast du aus den Trümmern gezogen?" Kehoe weiß, dass ein Foto keinen Helden macht. "Ich habe einen Menschen gerettet an diesem Tag, und das war ich selbst, und zwar dadurch, dass ich um mein Leben gerannt bin."
Kehoes Augen wirken noch trauriger als auf dem Foto, das ihn weltberühmt machte. "Dass ich der einzige Firefighter bin, der da drin fotografiert wurde, ist ein sehr, sehr seltsames Gefühl." Anfangs habe das Bild geholfen, mit allem fertig zu werden. Heute verwünscht Kehoe manchmal den Moment, in dem John Labriola, Angestellter der Hafenbehörde, beim Abstieg von seinem Büro im 71. Stock auf den Auslöser drückte. Einigen Kollegen war der Wirbel darum zuwider, weil die sechs Verstorbenen der Wache in Vergessenheit zu geraten schienen.
"Die Arbeit ist meine Therapie", sagte Kehoe. Doch zwei Monate nach dem Attentat konnte er nicht mehr zur Wache gehen. Sein bester Freund brachte ihn zu einem Therapeuten. Es half ein wenig. Auf der Arbeit kommt er wieder klar. Mit seiner Frau fuhr er zum Dinner nach Manhattan und kam erstmals auf den 11. September zu sprechen. Er sagte zwei Sätze: "Ich glaube, ich sollte mich schuldig fühlen. Aber eigentlich bin ich glücklich, am Leben zu sein."
Thomas Franklin, Fotograf
In seiner Redaktion steht er vor einem Regal voller Kitsch. Plastikfiguren, Christbaumschmuck, Schneegestöber. Das Motiv ist immer dasselbe: Drei Feuerwehrmänner hissen die US-Flagge auf Ground Zero. Es ist sein Foto. Und Raubkopierer haben ganze Arbeit geleistet. Die Rechtsabteilung von Franklins Zeitung, dem "Daily Record" in Hackensack, New Jersey, sortiert die schlimmsten Geschmacksentgleisungen aus. Franklin will verhindern dass aus seinem Bild billig Profit geschlagen wird - alle Einnahmen fließen in einen Wohltätigkeitsfonds. Das Foto rührte die Amerikaner wie kein anderes. Es traf den Nerv der verwundeten Nation. Zehntausende von Briefen, Karten und E-Mails hat Franklin danach erhalten. In jenem Augenblick, um 17.01 Uhr des 11. September, war ihm nicht bewusst, dass er ein historisches Dokument schaffen würde. Aus dem Bild entstanden Titelseiten, Poster, Karten, Gemälde. Seit zwei Monaten ist sein Foto gleich millionenfach unterwegs - als 45-Cent-Briefmarke. Die Geschichte dieses Bildes ist aber auch eine Posse: Die drei Feuerwehrmänner Dan MacWilliams, George Johnson und Billy Eisengrein hatten die Fahne von der Luxusyacht "Star of America" konfisziert. Die Besitzer machten später Ansprüche auf das Tuch geltend. Ohne Erfolg. Die Flagge gilt längst als nationale Ikone. Und das Foto wurde Vorlage für eine Bronzestatue. Ethnisch sauber umgeschminkt, bildet sie einen weißen, einen schwarzen und hispanischen Feuerwehrmann nach - zu Franklins Entsetzen.
Er macht immer noch seinen Job als Fotoreporter. Heute ein Porträt, morgen die neue Eishalle, zwischendurch Baseball. Nur im Telefonbuch steht er nicht mehr. Zu viele Anrufe danach, auch merkwürdige. Amerikanische Soldaten in Afghanistan sollen das Zeitungsfoto als Visitenkarte hinterlassen haben, wenn sie eine Al-Qaeda-Höhle ausgehoben hatten. Nur: Auf dem Foto steht Franklins Name drauf.
Bruce Logan, Arzt
"Wir konnten die Türme sehen, sie prägten das Bild hier unten. Es müssen zwischen 400 und 500 Leute gewesen sein, die wir an diesem Tag behandelt haben. Viele Verbrennungsopfer darunter. Kollegen aus der ganzen Stadt eilten zu Hilfe. Wir rechneten alle mit einer Katastrophe von unfassbaren Ausmaßen. Aber dann: Der Strom der Verletzten riss plötzlich ab. Es kam kaum noch jemand. Da waren nur Pulver und Staub.
Wir sind ein kleines Krankenhaus. Für das Viertel hier unten. Man kennt sich. Also haben wir in den Tagen danach vor allem den alten Leuten hier geholfen. Haben ihnen Essen gebracht und Wasser und Medikamente. Und ich habe dieses Schild gehalten: Masken tragen. Ich denke sehr oft an den 11. September. Dieser Tag hat das Schlimmste und Beste im Menschen zum Vorschein gebracht. Diese Welle von spontaner Hilfsbereitschaft - das war bei aller Tragik großartig. Von diesem Gefühl haben wir immer noch etwas in die Gegenwart hinübergerettet. Die Leute sind anders als damals. Patriotischer? Ganz gewiss. Bewusster? Gewiss auch. Ich betrachte den 11. September nicht als isoliertes Ereignis. Für mich war es der Clash der Kulturen und Werte. Wir Amerikaner werden im Bewusstsein erzogen, dass unsere Freiheit unangreifbar ist. Dafür gibt es nun keine Gewähr mehr."