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Schüsse und Explosionen In Schweden eskaliert die tödliche Bandengewalt. Mal wieder. Jetzt soll das Militär helfen

Ein Polizist steht in Schweden vor Polizeiwagen mit Blaulicht
Die Polizei in Schweden ist durch die anhaltende und skrupellose Bandengewalt extrem herausgefordert
© Johan Nilsson/TT / Imago Images
Die Bandengewalt in Schweden eskaliert wieder. Diese Woche kamen in zwölf Stunden drei Menschen ums Leben. Die Regierung in Stockholm greift jetzt zu härteren Mitteln, denn die Bevölkerung will nicht mehr in Angst leben. 

Drei Tote. Und das in nicht einmal zwölf Stunden. Die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag war ein Höhepunkt in der aktuellen Eskalation der Gewalt in Schweden.Kriminelle Banden, die sich gegenseitig mit Schüssen und Sprengstoffanschlägen töten wollten:Zwei Männer sterben durch Schüsse, beide sollen Verbindungen zum Bandenmilieu gehabt haben. Eine 25-jährige Frau stirbt bei einer Explosion. Sie ist ein unbeteiligtes Opfer.  

Bandengewalt ist in dem skandinavischen Land seit Jahren ein Problem. Doch die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. In den letzten Wochen ist die Anzahl solcher Verbrechen wieder deutlich angestiegen. Vier von fünf der Toten bei Schießereien im Jahr 2020 gehen laut einer Studie auf das Konto der organisierten Kriminalität, die sich vor allem auf Wohnviertel mit hohem Migrationsanteil konzentriert. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen will die Regierung endlich durchgreifen. Doch es gibt bereits Kritik an den vorgeschlagenen Maßnahmen.

Die aktuelle hohe Gewaltwelle wird unter anderem auf einen mutmaßlichen Konflikt innerhalb des kriminellen Foxtrot-Netzwerks zurückgeführt. Treibende Kraft ist laut Medienberichten Rawa Majid, der als "Kurdischer Fuchs" bekannte Kopf der Gang. Majid führe derzeit einen Dreifrontenkrieg, in dem es seit Anfang des Jahres zu Gewalttaten und Vergeltungsschlägen komme, berichtet die Zeitung "Dagens Nyheter".

Hauptstadt Stockholm besonders betroffen

"Die Netzwerke haben eine effiziente Gewaltlogistik aufgebaut, die sehr gefährlich ist", sagte Sven Granath, Kriminologe bei der Stockholmer Polizei, der Zeitung. Außerdem sei der Konflikt persönlicher und gleichzeitig professioneller geworden.

Vor allem die beiden Regionen Stockholm und Mitte sind von dem Konflikt betroffen, bei dem es auch um die Hoheit über den illegalen Drogenmarkt geht. Schwedische Medien bezeichneten den September als den "tödlichsten Monat" seit Jahren und sprachen bereits von einem "schwarzen September". Die Gewalt werde immer skrupelloser und nehme terroristische Züge an. Reichspolizeichef Anders Thornberg sagte am Freitag auf einer Pressekonferenz: "Es gibt nicht nur eine Grenze, die überschritten wurde. Es gibt mehrere."

In Stockholm begann die Welle der Gewalt am Weihnachtstag des vergangenen Jahres, als einer der Bandenkonflikte in der Stadt ausbrach, sagte der Chef der Stockholmer Regionalpolizei, Mattias Andersson, auf der Pressekonferenz. "Wir haben derzeit sieben laufende Konflikte im Bezirk."

Die Banden rekrutieren immer jüngere Mitglieder. Jugendliche und sogar Kinder werden zu Tätern und Opfern. Laut Kriminologe Granath nutzen die Banden dafür die sozialen Medien. "Es gibt sogar Kinder, die selbst Kontakt zu den Netzwerken aufnehmen, um zu morden", so Polizeichef Thornberg.  

Ministerpräsident: "Kein anderes Land in Europa erlebt so etwas"

Am Donnerstagabend wandte sich der Ministerpräsident nach der jüngsten Gewalteskalation in einer Fernsehansprache an die Nation. Immer mehr Kinder und Unschuldige seien von der brutalen Gewalt im Land betroffen, sagte Ulf Kristersson. So etwas habe Schweden noch nie erlebt. "Kein anderes Land in Europa erlebt so etwas."

Im Land herrsche ein Klima der Angst, so der liberal-konservative Politiker. Viele trauten sich nicht, offen über die Bandenkriminalität zu sprechen, aus Angst, selbst Opfer zu werden. Eltern in sozialen Brennpunkten hätten Sorge, dass ihre Kinder mit Geld und Luxusgütern in die Banden gelockt würden.

Schüsse und Explosionen: In Schweden eskaliert die tödliche Bandengewalt. Mal wieder. Jetzt soll das Militär helfen

Politische Naivität habe zu der heutigen Situation geführt, so Kristersson. "Eine unverantwortliche Einwanderungspolitik und eine gescheiterte Integration haben uns hierher gebracht." Ein Vorwurf an die letzten Regierungen unter Magdalena Andersson und Stefan Löfven, beide Sozialdemokraten. Zwischen 2014 und 2022 war die sozialdemokratische Arbeiterpartei an der Macht. In dieser Zeit habe die Schusswaffengewalt deutlich zugenommen, so der Ministerpräsident.

Härtere Strafen vorgesehen

Dabei zeigte die schwedische Polizei bereits im ersten Halbjahr 2020 im Rahmen der Sonderoperation "Raureif" verstärkte Polizeipräsenz in sozial benachteiligten Stadtteilen und solchen mit hohem Migrantenanteil. Es gab Razzien und Verhaftungen. Doch das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wie die jüngste Gewalteskalation zeigt.

"Wir werden die Banden jagen und wir werden sie besiegen", versprach der Regierungschef seinen Mitbürgern in der Fernsehansprache. Die bisherige Politik habe nicht funktioniert. Eine neue Migrationspolitik soll her, härtere Strafen, mehr Abschiebungen, schärfere Gesetze.

So soll die Polizei Verdächtige leichter abhören können, die Strafen für Verbrechenin kriminellen Netzwerken wurden verdoppelt, ebenso für schwere Waffen- und Sprengstoffdelikte. Auch die Rekrutierung von Kindern für Banden wurde unter Strafe gestellt. Zusätzlich sollen polizeiliche Durchsuchungszonen helfen, eine breitere Kameraüberwachung. Ausländer, die in die Banden verwickelt sind, sollen auch ohne Gerichtsurteil ausgewiesen werden können.

Militär in Schweden soll im Kampf gegen Banden helfen

Und Kristersson greift zu einem weiteren ungewöhnlichen Mittel: dem Militär. Am Freitagnachmittag sagte der Regierungschef auf einer Pressekonferenz, dass die Armee der Polizei unter die Arme greifen soll. Die Polizei und die schwedischen Streitkräfte werden angewiesen, ihre Zusammenarbeit zu verstärken und zu intensivieren. Dafür sei aber eine Gesetzesänderung notwendig.

Das Militär jedenfalls ist bereit zu helfen. Es werde "tun, was wir können", sagte Oberbefehlshaber Micael Bydén in einem Interview mit "Dagens Nyheter". Die Lage scheine sich zu verschlechtern.

Neben Dingen wie Überwachungsaufgaben, die das Militär übernehmen könne, um Ressourcen bei der Polizei freizusetzen, sieht Bydén auch andere Möglichkeiten. So nannte er im Interview beispielsweise die Zusammenarbeit der Geheimdienste oder den Einsatz von Spezialkräften für Sprengstoffe und Bomben. Er betonte aber, dass er sich vor allem einfache Aufgaben für das Militär bei der Bandenbekämpfung vorstellen könne. Denn auch die Streitkräfte stünden vor vielen Aufgaben – und unter Druck.

Kritik an Regierung

Unter Druck steht auch die Regierung Kristersson. Diese war vor einem Jahr eigentlich mit dem Versprechen angetreten, die Kriminalität zu bekämpfen. Das Thema wurde zur "politischen Priorität" erklärt. Doch da sich die Banden nach wie vor und mit aller Härte bekriegen, wollen die Schweden endlich Erfolge sehen – und keine politischen Schuldzuweisungen.

Wenn es der liberal-konservativen Regierung, die von den rechtsextremen Schwedendemokraten unterstützt wird, nicht gelingt, das Morden auf Schwedens Straßen einzudämmen, sieht es schlecht aus für ihre Wiederwahl. So schrieb die Kolumnistin und Journalistin Irena Požar in einem Kommentar in der Zeitung "Aftonbladet", Kristersson habe in seiner Fernsehansprache "panisch" geklungen, weil er nicht als "Feigling" dastehen und die Macht verlieren wolle.

Experten bezweifeln bereits, dass die neuen Maßnahmen der Regierung viel bewirken werden. Selbst Polizeichef Thornberg sagte, der Einsatz des Militärs sei kein "Gamechanger".

Felipe Estrada Dörner, Professor für Kriminologie an der Universität Stockholm, sagte der "Dagens Nyheter", die Gewaltwelle müsse mit gezielten Maßnahmen bekämpft werden. "Kurzfristig müssen die Verbrechen aufgeklärt werden. Das Risiko, erwischt zu werden, muss hoch sein, und diejenigen, die aussteigen wollen, müssen schnell Unterstützung erhalten."

Foxtrot operiert schon im Nachbarland Norwegen

Projekte wie "Stop Shooting", bei denen die Polizei mit mehreren Gemeinden zusammenarbeitet, könnten seiner Meinung nach zu Ergebnissen führen. "Kurz gesagt geht es darum, den Anführern der Banden klarzumachen, dass Gewalt kontraproduktiv ist und dass sie dafür sorgen müssen, dass sie aufhört", sagte er.

Längerfristig gebe es nur einen Weg: mehr gezielte Mittel für die Präventionsarbeit – aber auch mehr Mittel für die inhaltliche Betreuung und Unterstützung der verurteilten jugendlichen Straftäter. In der Vergangenheit habe es zu viele allgemeine Initiativen und zu wenig spezifische, präventive Maßnahmen gegeben, so Estrada Dörner.

"Es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass die wirklich harten Maßnahmen diejenigen sind, die über einen langen Zeitraum viele gemeinsame Ressourcen kosten werden, um sicherzustellen, dass Kinder im Teenageralter alle Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um ein gefährliches Leben in der Kriminalität nicht als Option zu sehen", sagte er dem Fernsehsender TV4.

Ein weiteres Problem ist, dass viele der führenden Köpfe der Banden im Ausland sitzen, von wo aus sie die Fäden ziehen und für die schwedischen Ermittler und Strafverfolger nur schwer oder gar nicht zu erreichen sind.

Der Polizei und der Regierung läuft die Zeit davon. Laut dem Fernsehsender SVT verfügt die Stockholmer Polizei über eine Liste mit 150 Adressen, an denen die Behörde in Zukunft mit Gewalttaten rechnet. Dort sollen Personen aus dem kriminellen Milieu oder mit Verbindungen dazu wohnen. Für die Polizei sei es "unmöglich, überall präsent zu sein", sagte Catrine Kimerius Wikström, Polizeichefin von Stockholm-Süd. Sie sieht ein hohes Risiko, dass die Welle der Bandengewalt weitergeht.

Und die Gewaltwelle macht auch nicht mehr an Landesgrenzen halt: Am Freitag teilte die norwegische Kriminalpolizei mit, dass das Foxtrot-Netzwerk in sechs Polizeidistrikten registriert sei.

Quellen: Rede Ulf Kristersson, Regierung Schwedens, "Dagens Nyheter", "Aftonbladet", TV4, SVT, NRK, Der Neue Kosmos Weltalmanach und Atlas 2022 und 2023

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