Es sind keine 24 Stunden vergangen, seit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor dem US-Kongress gesprochen hat, da klebt auf dessen Ansprache bereits das Prädikat "historisch". Keineswegs zu Unrecht. Man könnte meinen, ein Schwarm aggressiver Bienen habe sich in die ehrwürdige Kammer verirrt, so oft, wie die Abgeordneten von ihren Sitzen aufsprangen, um dem unfreiwilligen Kriegsherrn frenetisch Beifall zu zollen.
So ausgelassen der Jubel der US-Politiker (parteiübergreifend) auch ausfiel, eines war deutlich zu sehen: Unter den Anwesenden waren die Reihen der Republikaner merklich lichter als die der Demokraten. Doch galt Selenskyjs Show nicht zuletzt genau ihnen. Die Ukraine ist auch 2023 auf die tiefen Taschen ihres mächtigsten Verbündeten angewiesen. Und so dürfte es im neuen Jahr verstärkt auf die Konservativen ankommen, wenn die im Januar die Mehrheit im Repräsentantenhaus stellen.
Republikaner sträuben sich gegen Bidens Blankoscheck
Der 44-Jährige bemühte sich zwar, es mit seiner flammenden Rede zu übertünchen – doch der Mann, der im Kapitol als Held gefeiert wurde, kam als Bittsteller, als Bettler in Olivgrün. Mit 68 Milliarden Dollar, so die Denkfabrik Center for Strategic and International Studies, sollen die USA der Ukraine bereits unter die Arme gegriffen haben, größtenteils in Form von Waffenlieferungen. Das Weiße Haus würde gerne noch in diesem Jahr weitere mindestens 40 Milliarden Dollar dazupacken. Es ist kein Geheimnis, dass ohne die massive Unterstützung der westlichen Weltmacht längst russische Flaggen auf dem Majdan wehen würden.
Damit die Ukrainer den russischen Invasoren nicht nur weiter Stand halten, sondern im besten Fall an die erfolgreichen Gegenoffensiven aus dem Herbst anknüpfen können, sind sie auf das Wohlwollen der Republikaner angewiesen. Und die haben auch ohne die vergifteten Absichten ihres Ex-Präsidenten teilweise wenig Verständnis für die bisherige Blankoscheck-Politik der Biden-Administration.
Um der "Was-bringt-uns-das-eigentlich"-Mentalität zahlreicher Republikaner entgegenzuwirken, setzte Selenskyj in seiner Rede nicht nur auf das Verantwortungsbewusstsein der USA, sondern auch auf deren ureigene Sicherheitsinteressen. "Euer Geld ist keine Wohltätigkeit, sondern eine Investition in die weltweite Sicherheit und in die Demokratie, mit der wir auf verantwortungsvollste Weise umgehen werden", rief er zwar dem gesamten hohen Haus zu, meinte aber vor allem den konservativen Teil. Auch, wenn das Weiße Haus später dementierte, dass Selenskyj Botschaft nur an eine politische Seite adressiert gewesen sei.
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Zahlreiche Republikaner bleiben Rede fern
"Ich bin in DC, aber ich werde nicht der Rede eines ukrainischen Lobbyisten beiwohnen", twitterte Thomas Massie, Abgeordneter aus Kentucky, im Vorfeld. Massie ist zwar ein Härtefall aus Richtung rechtsaußen. Wieviele Republikaner Selenskyjs Rede vor dem Kongress fernblieben, ist unklar. Doch dass viele Konservative mit Abwesenheit glänzen, war nicht zu übersehen. Laut dem US-Magazin "The Hill" nahmen nur 86 von 213 Republikanern des Repräsentantenhauses teil.
Selenskyj muss den Republikanern schmackhaft erklären, warum die Milliardenhilfen aus US-Perspektive gut angelegtes Geld sind. Schließlich wüssten die mit der Riesensumme sicherlich einiges anderes anzustellen – sei es zum Beispiel das Füttern von Steckenpferden wie Grenzschutzausbau oder die Aufrüstung des eigenen Militärs. "Offensichtlich gibt es Zweifel daran, dass das Geld dort ankommt, wo es hingehört. Jedes Geld der Steuerzahler, das irgendwo hingeht, ob im Inland oder im Ausland, verdient eine genaue Prüfung", sagte der Fraktionsvorsitzende Steve Scalise nach Selenskyjs Rede dem US-Magazin "Politico". Ein glasklares "Wir schauen mal". "Präsident Selenskyj sollte dafür gelobt werden, dass er sein Land an die erste Stelle setzt, aber amerikanische Politiker, die seinen Forderungen nachgeben, sind nicht bereit, das Gleiche für unser Land zu tun", twitterte Matt Gaetz, Abgeordneter aus Florida nach der Rede. An seinem Standpunkt, die Hilfen auszusetzen, habe sich nichts geändert.
Konservative wollen Milliardenhilfen zumindest genauer unter die Lupe nehmen
Noch im Mai hatten 57 Republikaner, rund ein Viertel des Repräsentantenhauses, gegen das nächste Milliardenpaket gestimmt. Man sollte angesichts der Inflation die Ausgaben senken. "America first", die altbekannte Devise.
US-Präsident Joe Biden und seine Demokraten können noch so oft und vehement ihre Loyalität mit der kriegsgebeutelten Ukraine betonen. Am Ende entscheidet der Kongress über die Finanzierung der Anti-Putin-Kriegskasse. Und dessen entscheidende Mehrheit ist 2023 gespalten.
Die meisten Konservativen befürworten zwar die Unterstützung, betonen jedoch gleichzeitig, von ihren Aufsichtsbefugnissen über die Verteilung der Gelder Gebrauch machen zu wollen. "The Hill" zufolge haben sich in der Sache mehrere Lager innerhalb der GOP gebildet. Sie eine jedoch der Wunsch, Hilfspakte deutlich kritischer prüfen zu wollen. Man will sehen, ob und wenn ja, wo das ganze Geld denn landet. Und natürlich, ob das alles überhaupt nötig ist.
Während einige namhafte und einflussreiche Abgeordnete der GOP, wie Michael McCaul, der ranghöchste Republikaner im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten im Repräsentantenhaus, oder Senats-Minderheitsführer Mitch McConnell weitere Milliardenhilfen befürworten, schüren andere Zweifel. Zu den entschiedensten Gegnern der Blankoscheck-Politik gehören unter anderem die rechtsextreme Marjorie Taylor Greene aus Georgia oder der Texaner Chip Roy. Letzterer bezeichnete Selenskyjs Rede laut "Washington Post" als "politisches Theater". Auch der wahrscheinlich zukünftige Mehrheitsführer der Republikaner, Kevin McCarthy stellte die uneingeschränkten Hilfen bereits mehrfach in Frage – auch nach der Rede des ukrainischen Regierungschefs.
Dabei muss der ukrainische Präsident die rechte Partei auch langfristig mit ins Boot holen, ist doch ein Ende der Kämpfe nicht annähernd in Sicht. "Das wahrscheinlichste Endspiel ist ein neuer eingefrorener Konflikt", sagt Charles Kupchan, der Denkfarbrik "Council on Foreign Relations" gegenüber dem US-Nachrichtenportal "Vox". Selenksyj braucht Freunde für's Leben, keine flüchtigen Bekannten. Und Freundschaft ist teuer, vor allem die der Republikaner.
2023 werden der demokratisch geführte Senat und das republikanisch geführte Repräsentantenhaus Kompromisse finden müssen. Ob die beiden Kammern in dem Punkt zusammenfinden, ist angesichts der tiefen Gräben zwischen (und innerhalb) der beiden großen Parteien zumindest fraglich. Den Ukrainern wären rasche Einigungen zu wünschen.
Quellen: "Vox"; "Politico"; "Washington Post"; "The Hill"