Als Esther Zhao ihre zweieinhalbjährige kränkelnde Tochter am 26. März ins Krankenhaus bringt, ist die Mutter der festen Überzeugung, das Richtige zu tun. Drei Tage später werden sie und das kleine Mädchen positiv auf das Coronavirus getestet. Die Behörden wollen die Zweieinhalbjährige in ein Quarantänezentrum für Kinder bringen. Die Mutter bettelt und fleht, man möge sie nicht voneinander trennen – immerhin ist das Kleinkind noch sehr jung. Doch die Ärzte drohen: Willige Zhao nicht ein, würde sie selbst dorthin geschickt – während ihre Tochter im Krankenhaus bliebe.
So schildert die Nachrichtenagentur Reuters einen Fall, der derzeit exemplarisch für unzählige Fälle in Chinas größter und reichster Stadt sein dürfte. Die 25-Millionen-Metropole wird gegenwärtig vom Coronavirus erobert. Die Fallzahlen sind so hoch, wie nie zuvor. Am Montag verzeichneten die chinesischen Behörden 1173 Neuinfektionen in der gesamten Volksrepublik. 288.000 Menschen sind demnach aktuell infiziert. Shanghai gehört zu den Hotspots im Land. Von Montag auf Dienstag registrierten die Behörden 271 neue Fälle, insgesamt sind 7846 Bürger mit dem Coronavirus infiziert (Stand: 05. April 2022).
Darauf reagierte die Stadt mit einem Zwei-Phasen-Lockdown. Der Ostteil und der Westteil der Stadt sollten nacheinander für jeweils vier Tage abgeriegelt werden. Um den Corona-Ausbruch zu bekämpfen, entsandte die chinesische Regierung mehr als 38.000 Helfer aus 15 Provinzen nach Shanghai, berichtet der staatliche Sender CCTV unter Berufung auf das Gesundheitsministerium. Viele Einwohner der Stadt hatten in den vergangenen Tagen sogar über Probleme bei der Versorgung mit frischen Lebensmitteln geklagt.
Strenges Corona-Regiment in Shanghai
Wegen der anhaltend hohen Infektionszahlen wurde der Lockdown nun verlängert. Das eigene Zuhause zu verlassen, bleibt strikt verboten. Nicht einmal ein Spaziergang mit dem Hund ist erlaubt. An die frische Luft geht es nur für diejenigen, die sich einem Corona-Test unterziehen müssen.
Und wer positiv getestet ist, wird isoliert. Das gilt uneingeschränkt für Kinder und Erwachsene, Menschen mit starken, milden oder gar keinen Symptomen. Für sie wurden entsprechende Isolationsmöglichkeiten eingerichtet. Infizierte unter sieben Jahren werden laut der städtischen Gesundheitskommission in staatlichen Gesundheitszentren behandelt. Wer älter oder im Teeangeralter ist, muss sich wie die Erwachsenen in Quarantänezentren isolieren.
Für Familien bedeutet das den kompletten Kontaktabbruch. So schildert es zumindest Esther Zhao der Nachrichtenagentur Reuters. Seit ihre Tochter in die Gesundheitseinrichtung überführt wurde, hat die Mutter nichts von ihr gehört. Über einen Gruppenchat mit Ärzten sei ihr versichert worden, dass es ihrer Tochter gut gehe. Mehr Informationen gibt es aber nicht.
"Es gab keine Fotos ... ich hatte solche Angst, wusste einfach nicht, in was für einer Lage meine Tochter sich befindet", sagt Zhao. Auch von ihrem Mann, ebenfalls positiv getestet und in einem Quarantänezentrum für Erwachsene untergebracht, hört sie nichts. "Die Ärzte haben gesagt, dass die Regeln in Shanghai vorsehen, dass Kinder zu bestimmten Punkten geschickt werden, während Erwachsene in Quarantänezentren müssen und ihre Kinder nicht begleiten dürfen."
Die Gesundheitsbehörde weist die Vorwürfe zurück. Eltern dürften ihre Kinder sowohl in die Quarantäne als auch zur Behandlung begleiten – sofern beide positiv getestet wurden. Mütter und Väter dürfen dann mit ihren Kindern in den Kinderabteilungen in eigens dafür ausgewiesenen Krankenhäusern oder Quarantänestellen bleiben, versicherte die Gesundheitsbehörde am Montag. Die medizinische Behandlung der Kinder sei eine sehr wichtige Aufgabe, "die alle Herzen berührt", sagte ein Sprecher.
"Erschreckende" Zustände auf Social Media
Zhao beruhigt das nicht. In den sozialen Medien gehen Videos und Bilder viral. Sie zeigen weinende Babys, die zu dritt in einem Kinderbett liegen. Auf einem Video krabbelt ein stöhnendes Kleinkind aus einem Zimmer. Die in den sozialen Netzwerken Weibo und Douyin kursierenden Fotos und Videos stammen angeblich aus einem Gesundheitszentrum der Stadt. Verifizieren konnte die Nachrichtenagentur Reuters das Material bisher noch nicht, allerdings verwies eine mit der Einrichtung vertraute Quelle darauf, dass das Datenmaterial in einer Einrichtung in Jinshan aufgenommen wurde. Die Gesundheitsbehörde weist das allerdings zurück.
Laut einer Gruppe im Messengerdienst WeChat, der Reuters vorliegt, sollen zudem drei Monate alte Babys von ihren stillenden Müttern getrennt worden sein. Zudem sollen sich acht Kinder ohne Erwachsene in einem Raum befunden haben. Und in einem weiteren Fall sollen zwanzig Kinder zwischen fünf und sechs Jahren ohne Eltern isoliert worden sein.
Im Netz kritisieren die Menschen die Situation. Viele sind entsetzt, bezeichnen die Entscheidung in den sozialen Medien als "entsetzlich" und fragen sich, wie die Regierung überhaupt auf diese Idee gekommen ist. "Eltern müssen 'Bedingungen' erfüllen, um ihre Kinder zu begleiten? Das ist absurd, es sollte ihr grundlegendstes Recht sein", kritisiert ein Nutzer auf der Plattform Weibo. "Wenn ich ein Elternteil wäre, würde ich mich absichtlich anstecken, um mein Kind begleiten zu können", schreibt ein anderer.
Maßnahmen sollen bleiben
Mit ihrer Null-Covid-Strategie gerät die chinesische Regierung zunehmend unter Druck. In Shanghai und anderen Städten ist schon seit Tagen Verärgerung über die harten Lockdown-Maßnahmen spürbar.
Trotzdem halten die Behörden an dem Vorgehen fest. Es sei ein wesentlicher Bestandteil der "Präventions- und Kontrollmaßnahmen" gegen das Virus. Die Massentests, die medizinische Überwachung Infizierter und die "Transporte" in Quarantänezentren würden fortgesetzt, teilte die Gesundheitsbehörde mit.
Gute Nachrichten gibt es dagegen am Dienstag für Esther Zhao. Die Behörden erlauben ihr, ihre Tochter zu besuchen. Zhao fährt sofort los. "Nach vielen Anstrengungen von zahlreichen Menschen, kann ich jetzt bei meiner Tochter sein", freut sie sich. Nun hofft sie auf eine baldige Genesung, damit sie und ihr Kind bald wohlbehalten nach Hause zurückkehren können.