Truppenabzug aus Afghanistan Augen zu und weg: Der Westen sorgt für Entsetzen und Enttäuschung

Ein US-Marine in Afghanistan geht zu Fuß, um Essensvorräte abzuholen
09.06.2011, Afghanistan: Ein US-Marine geht zu Fuß, um Essensvorräte abzuholen, nachdem diese mit Fallschirmen von einem Flugzeug außerhalb der Forward Operating Base Edi in der Provinz Helmand im Süden Afghanistans abgeworfen wurden
© Anja Niedringhaus/AP / DPA
Die US-Truppen und ihre Nato-Verbündeten ziehen nach 20 Jahren ihre Soldaten aus Afghanistan ab. Die Taliban führen sich auf wie Sieger. Viele Afghanen fühlen sich im Stich gelassen, Frauen fürchten um hart erkämpfte Rechte.

Die Lage interpretieren die Taliban im für sie üblichen Sprachduktus. "Der vom Ausland gesponserte künstliche Staatsaufbau und die westliche Demokratie, die mit Hilfe von B-52-Bombern importiert wurde, ist in Afghanistan kläglich gescheitert", verkündeten sie vor zwei Tagen auf ihrer Propaganda-Website 'Stimme des Dschihad'. Seit die "Invasoren und ihre Marionetten" 2001 die "islamische und nationale Regierung der Taliban" stürzten, hätten sie "die Unmoral" gefördert, "Rauschgift" produziert und dem Volk "professionelle Söldner, Sklaven, Diebe" aufgezwungen. Der einzige Weg zu Frieden und Stabilität sei "die Implementierung eines islamischen Systems".

Ebenfalls vor zwei Tagen verkündete US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus Historisches. Er erklärte den vollständigen Truppenabzug nach 20 Jahren Präsenz in Afghanistan. Amerikas Bündnispartner am Hindukusch, darunter Deutschland als zweitgrößter Truppensteller, zogen schnell nach. Der Abzug der verbliebenen 10.000 Nato-Soldaten soll am 1. Mai starten und zum Symboldatum 11. September abgeschlossen sein. Zusätzlich werden auch rund 13.500 internationale private Sicherheitskräfte und 1.000 Undercover-Akteure das Land verlassen. Laut Tagesbefehl des Bundesverteidigungsministeriums sollen alle deutschen Kräfte bereits Mitte August aus dem Land sein. Es ist das Ende einer Ära.

Und nun das

Joe Biden erfüllt damit die Hauptforderung der Taliban zum vollständigen Abzug aller internationalen Truppen. Bedingungslos, wenn auch knapp fünf Monate später als sein Vorgänger Donald Trump den Taliban mit einem Abkommen im vergangenen Februar in Doha zugesichert hatte. Genau das nutzen die Taliban sogleich aus.

Die Taliban, die sich "Islamisches Emirat von Afghanistan" nennen, gaben sich ob der nicht eingehaltenen Abzugsfrist Verzögerung erbost. Da das Abkommen von Amerika gebrochen werde, könnten die "Mujahedding des Islamischen Emirats jede notwendige Gegenmaßnahme" ergreifen. Obwohl Biden den Truppenabzug verkündet hatte, sagten sie die Teilnahme an einer vereinbarten großen UN-Afghanistankonferenz in Istanbul ab.  

Zu der Konferenz hatte Gastgeber Türkei tags zuvor nach intensiver diplomatischer Vorbereitung ganz offiziell eingeladen. Die Biden-Administration hatte massiv auf das mehrtägige Treffen gedrängt. In Istanbul soll der Rahmen festgezurrt werden für ein Afghanistan ohne Nato-Truppenpräsenz. Und zwar mit sämtlichen am Konflikt Beteiligten. Allen Fraktionen aus Afghanistan, der Regierung, den Taliban, den regionalen Machthabern, darunter Warlords wie Dostum, Ismail Khan, Hekmatyar. Allen Staaten mit strategischen Interessen am Hindukusch, hochrangige Delegationen aus Russland, Indien, Pakistan, Amerika hatten sich vorbereitet.

Und nun das. Die Taliban sagten ab, angeblich nach Gesprächen mit ihren Förderern aus Saudi Arabien und Iran. Sie taten das auch, weil zuvor niemand politischen Druck auf die reaktionären Radikalislamisten aufgebaut hatte, zum Beispiel, indem finanzielle Zusagen für ein künftiges Afghanistan, in dem auch die Taliban mitherrschen, an deren Erscheinen in Istanbul verknüpft wurden.

Alle Seiten sind auf eine Eskalation der Gewalt vorbereitet

Wie geht es weiter mit Afghanistan? Findet die Konferenz in Istanbul ohne die Taliban statt? Kommen sie am Ende doch nach Istanbul, womöglich unter gesichtswahrenden Prämissen? Entsteht unter den notorisch zerstrittenen afghanischen Parteien und Clangrößen eine Front gegen sie? Längst haben die Regionalfürsten im ganzen Land Waffen verteilen lassen, im Norden wie im Süden. Alle Seiten sind auf eine Eskalation der Gewalt vorbereitet. Bei aller Schwäche der Regierung von Präsident Ashraf Ghani, dem auch die Amerikaner einen Rücktritt zugunsten einer Übergangsregierung nahelegten – es fehlt eine Führungsfigur, die sämtliche Kräfte hinter sich scharen könnte.

Westliche Staaten haben in den Krisenmodus geschaltet. Personal, das nicht unbedingt vor Ort sein muss, wird ausgeflogen. Westliche NGO-Vertreter in Kabul wurden gewarnt, ab dem 1.Mai ihre gesicherten Unterkünfte nicht mehr zu verlassen. Vor Wochen schon mahnte der Nato-Oberbefehlshaber Mitgliedstaaten, alles sei denkbar, sollten Abkommen mit den Taliban nicht genau eingehalten werden – auch Entführungen und komplexe Simultanangriffe auf mehrere Ziele.

Sicherheitsexperten schließen nicht aus, dass die Radikalislamisten sogar versuchen, den ganz großen Propagandacoup einzufahren: die Nato so wie einst die Sowjets gewaltsam aus dem Land zu werfen. Joe Biden weiß das und kündigte an, bei Taliban-Angriffen während des Truppenabzugs würden die USA sich und ihre Partner verteidigen, "mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln".

Afghanistans Sicherheitsberater Hamdullah Mohib warnte Ende letzter Woche, das Land könnte in einen Bürgerkrieg abgleiten, sollten die USA ihre Truppen ohne Friedensabkommen abziehen. Amerikanische Geheimdienste analysierten im März, zwei bis drei Jahre nach Abzug internationaler Truppen könne Afghanistan komplett in den Händen der Taliban sein. Die afghanischen Streitkräfte, die zuletzt 96 Prozent der Kampfhandlungen gegen die Taliban eigenständig durchführten, sind finanziell und bei der Luftunterstützung total abhängig von den Amerikanern.

Der Westen geht, Augen zu und weg

Und die Taliban sind nicht einmal die einzigen Aufständischen in Afghanistan. Sie sind noch immer mit Al-Qaida verwoben, die vor 20 Jahren unter ihrem Schutz in Afghanistan die Anschläge vom 11. September planten. Auch IS-Terroristen verüben seit Monaten regelmäßig Anschläge. Nach UN-Angaben stieg die Zahl getöteter und verwundeter Zivilisten im ersten Quartal dieses Jahres um 30 Prozent auf über 1700. Nachrichten über gezielte Attentate auf Richter, Politikerinnen, Journalisten wurden zur bitteren Gewohnheit. Stets dementierten die Taliban eine Beteiligung, während ihre Vertreter Gespräche um eine Lösung in Afghanistan in Katar im Sande verlaufen ließen, hofiert von den begleitenden westlichen Diplomaten.

Der Westen geht, Augen zu und weg. Gebannt verfolgen viele Afghanen, kriegs- und krisenerprobt, jede neue Entwicklung. Enttäuschung macht sich breit, Entsetzen auch. Viele fürchten um ihre in den letzten Jahren so hart erkämpften Errungenschaften, Meinungsfreiheit, Frauenrechte.

"Wir können bald nicht mehr ohne Tschador auf die Straße, wir dürfen uns nicht mehr schminken, tut doch was", fleht eine Frau, die sich seit Jahren für Mädchenschulen in Afghanistan einsetzt. In Kabul demonstrierten Hunderte Frauen aus 14 Provinzen für Rechtsstaatlichkeit, Frauen- und Menschenrechte. "Die Frauen und Mütter wollen keine weiteren Leichen mehr sehen", sagte eine Vertreterin aus Paktia, "sie wollen, dass ein Waffenstillstand verkündet wird".

In den sozialen Medien schürt derweil ein Handy-Video Ängste. Es ist gut eine Minute lang. Da kniet eine Frau in hellblauer Burka im Staub auf einem Platz am Rande der Großstadt Herat. Jemand hat sie des Ehebruchs beschuldigt. Rund 100 Männer, Gefolgsleute der Taliban, blicken auf sie. Sie sehen zu, wie ein Mann sie mit schweren Peitschenhieben traktiert.

fs