Von der Leyen erneut in Kiew Die Ukraine will schnell in die Europäische Union – doch diese (vielen) Schritte sind noch zu nehmen

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj
Blau-gelbe Gespräche in Kiew: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj
© Sergei Supinsky / AFP
An Solidaritätsbekundungen mangelt es der Ukraine nicht – doch die Führung in Kiew will vor allem eines: schnell in die EU. Doch der mögliche Beitritt des Landes könnte Jahrzehnte dauern.

Die Mitgliedsurkunde hat sie noch nicht im Gepäck. Und auch bei ihren möglichen nächsten Besuchen in Kiew wird Ursula von der Leyen sie wahrscheinlich nicht dabeihaben. Doch ihre erneute Reise in die ukrainische Hauptstadt soll auch vor allem ein Signal sein: Wir wissen, dass ihr in die EU wollt und wir wollen euch auf diesem Weg unterstützen. Oder, wie von der Leyen in Kiew sagte: Zweck ihrer Reise sei es, eine "Bestandsaufnahme der für den Wiederaufbau benötigten gemeinsamen Anstrengungen und der Fortschritte der Ukraine auf ihrem europäischen Weg" vorzunehmen.

In der ukrainischen Hauptstadt will die EU-Kommissionspräsidenten unter anderem mit Präsident Wolodymyr Selenskyj und Ministerpräsident Denys Schmyhal sprechen. Und schon in zwei Wochen will die EU-Kommission dann ihre Einschätzung vorlegen, ob die Ukraine offiziell als Beitrittskandidat gelten soll. Doch auch dann sind für das Land noch viele Stufen bis zur Aufnahme in den Staatenbund zu nehmen. 

Der EU-Beitrittsprozess im Überblick:

1. Bewerbung

Diesen Schritt hat die Ukraine bereits hinter sich. Der EU-Beitritt war ohnehin das blutig erstrittene Ziel vieler Menschen im Land, auch dafür wurden Präsident und Regierung gewählt – doch nach dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf sein Nachbarland ging alles ganz schnell. Bereits Anfang März stellte die Ukraine ihren Beitrittsantrag beim Rat der EU und setzte damit ein komplexes Verfahren in Gang.

2. Voraussetzungen

Drum prüfe, wer sich ewig bindet. Zwar gab es mit dem Brexit den ersten abtrünnigen Staat der EU, dennoch ist eine Mitgliedschaft eigentlich auf Dauer angelegt. Entsprechend hoch sind die Voraussetzungen, die jedes Land erfüllen muss, dass sich der EU anschließen möchte: Die seit 1993 geltenden sogenannten Kopenhagener Kriterien – ein kompliziertes Regelwerk mit fast 10.000 Wörtern. Laut Bundesregierung geht es dabei im Kern um folgende drei Voraussetzungen:

  • Politisches Kriterium:  Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten. 
  • Wirtschaftliches Kriterium: Eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten. 
  • Acquis-Kriterium: Die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen, das heißt: Übernahme des gemeinschaftlichen Rechtssystems, des "gemeinschaftlichen Besitzstandes" (französisch "Acquis communautaire").

Hinter jedem dieser Kriterien verbirgt sich eine Fülle von Einzelmaßnahmen – unter Umständen muss ein ganzes Justizsystem umgebaut werden oder die Wirtschaft auf neue Füße gestellt werden. Aufgabe der EU-Kommission, also auch von Ursula von der Leyen, ist es in diesem Schritt, "die Fähigkeit des Landes zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien zu beurteilen", wie es von der Europäischen Kommission heißt. Erst wenn dies erfüllt ist und sich der Rat der Europäischen Union, also alle Mitgliedsstaaten, einstimmig auf ein Verhandlungsmandat einigen, können die offiziellen Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine beginnen. Etliche EU-Staaten, insbesondere in Osteuropa, unterstützen das ukrainische Beitrittsersuchen. Einige Länder wie die Niederlande, Dänemark und Frankreich stehen dem Vorhaben jedoch skeptisch gegenüber. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich bislang zurückhaltend zu dem Thema. 

3. Verhandlungen

36 Kapitel umfassen die offiziellen Verhandlungen. Es geht um die Freizügigkeit von Waren, Kapital und Menschen, es geht um Landwirtschaft und Lebensmittelsicherheit, um Energie und Wissenschaft und um vieles, vieles mehr.

"Wegen der großen Menge an Vorschriften und Regelungen der EU, die jedes Land in sein innerstaatliches Recht umsetzen muss, erfordern die Verhandlungen bis zu ihrem Abschluss längere Zeit", so die EU-Kommission – und jeder Mitgliedsstaat muss jedem abgeschlossenen Kapitel einzeln zustimmen. Es können damit Jahre oder gar Jahrzehnte vergehen, bis die Ukraine Mitglied der EU wird.

Zurzeit zählen Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und die Türkei zu den offiziellen Beitrittskandidaten und haben teils begonnen ihr Land und ihr Wirtschafts- und Rechtssystem so umzubauen, dass es mit den Grundsätzen der EU im Einklang steht – und auch sie sind noch lange nicht am Ziel.

4. Beitritt

Wenn alle Kapitel der Beitrittsverhandlungen abgeschlossen sind, entsteht der Beitrittsvertrag, doch auch der muss noch einige Hürden nehmen: Der Rat muss zustimmen, ebenso die EU-Kommission und das Europäische Parlament. Anschließend muss der Vertrag in allen Mitgliedstaaten und im Beitrittskandidatenland ratifiziert werden, entweder durch Parlamentsabstimmung oder ein Referendum. In dem Beitrittsvertrag steht dann das Datum, auf das alle hingearbeitet haben: Wann das jeweilige Land Vollmitglied der EU wird.

Wie geht es weiter in Sachen EU-Beitritt der Ukraine?

Es wird also womöglich Jahrzehnte dauern, bis die Ukraine tatsächlich zur Europäischen Union gehört – denn in einem Land, in dem Krieg herrscht, ist es schwieriger die Bedingungen für einen EU-Beitritt zu erfüllen. Und doch – oder gerade deswegen – drängt der ukrainische Präsident Selenskyj auf den raschen Beginn von Verhandlungen.

"Eine positive Antwort der Europäischen Union auf den ukrainischen Antrag zur EU-Mitgliedschaft kann eine positive Antwort auf die Frage sein, ob es überhaupt eine Zukunft des europäischen Projekts gibt", sagte er beim jüngsten Besuch von der Leyens in Kiew. Zuvor forderte er: Die Ukraine müsse "aus der Grauzone geholt" werden. Die EU habe die Gelegenheit zu beweisen, "dass die Worte zur Mitgliedschaft des ukrainischen Volkes in der europäischen Familie nicht in den Wind gesprochen waren". Selenskyj fragte: "Warum gibt es dann immer noch politische Skeptiker, die zögern uns zu erlauben, der Europäischen Union beizutreten?" Gegner eines ukrainischen EU-Beitritts verweisen auf den Kriegszustand in dem Land sowie auf Probleme mit Korruption und nicht umgesetzte Reformen. "Wir dürfen die Beitrittsvoraussetzungen in der EU nicht senken. Sonst töten wir die EU", warnt eine diplomatische Quelle aus einem der zögerlichen Länder im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP. Auch aus Diplomatenkreisen in Brüssel heißt es, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine seien derzeit "schwer vorstellbar". 

Und dennoch: Nach außen hin gibt sich Ursula von der Leyen zuversichtlich. Sie prophezeite der Ukraine bei ihrem vorherigen Besuch in Kiew eine "europäische Zukunft". Am 23. und 24. Juni will die Kommission voraussichtlich entscheiden, wie es in Sachen EU-Beitritt für die Ukraine weitergeht – und ob sich irgendwann die Mitgliedsurkunde auf den Weg nach Kiew macht.