Dass Gespräche auf höchster politischer Ebene die Kämpfe in der Ukraine zumindest ins Stocken bringen, damit rechnet nach den Erfahrungen der letzten Wochen längst niemand mehr. Und so sind auch am Tag des Besuchs von Österreichs Kanzler Karl Nehammer in Moskau bei Kremlchef Wladimir Putin Russlands Raketenangriffe in der Ukraine unvermindert weitergegangen. Umso dringlicher wirkte, was Nehammer dem russischen Präsidenten ausrichtete: "Meine wichtigste Botschaft an Putin war, dass dieser Krieg endlich enden muss, denn in einem Krieg gibt es auf beiden Seiten nur Verlierer", betonte der Kanzler nach dem etwa einstündigen Treffen.
Mit großer Aufmerksamkeit und reichlich Skepsis war die erste Visite eines EU-Regierungschefs in Moskau seit Ausbruch des Kriegs national und international verfolgt worden. Umso mehr betonte Nehammer, für wie bedeutend er das Vieraugengespräch als "Format" mit direktem Kontakt im Vergleich zu Telefonaten halte. "Es ist wichtig, ihn mit unserer Sichtweise zu konfrontieren", sagte der Kanzler im Anschluss an das Treffen in der österreichischen Botschaft in Moskau. Zwischen den Zeilen schwang dabei mit, dass diese Putin womöglich vorenthalten werde. "Ich habe deutlich gemacht, dass seine Haltung zum Krieg in keinster Weise, auch nicht im Ansatz, geteilt wird", so Nehammer, und dass es auch kein Verständnis für die Darstellung gebe, Russland wolle sich vor Bedrohungen schützen.
Karl Nehammer: "Alternativlos, mit Russland Gespräch zu suchen"
Eine Reaktion des Kremls gibt es bisher nicht. Putin hatte zuvor keine Signale der Einsicht ausgesendet; es sei auch nicht damit zu rechnen gewesen, dass sofort Einsicht gezeigt werde, so Nehammer. "Das Gespräch mit Präsident Putin war sehr direkt, offen und hart." Er habe keinen "optimistischen Eindruck" gewonnen. Eine neue große Offensive im Osten der Ukraine werde "massiv vorbereitet". Und: "Die Schlacht wird mit Vehemenz geführt werden." Nehammer betonte, er habe darauf gepocht, dass die Korridore für die Evakuierung der Zivilbevölkerung um so mehr stabil gehalten werden müssen. Putin habe die Ukraine dafür verantwortlich gemacht, dass dies nicht gelungen sei.
Er habe auch die schweren Kriegsverbrechen in Butscha und anderen Orten angesprochen und deutlich gemacht, dass an der Sanktionsschraube gedreht werde, solange Menschen in der Ukraine sterben, sagte Nehammer. Kiew wirft Russland chaotische und wahllose Bombardements vor. Die Militärführung in Moskau weist das zurück. Zumindest war Gelegenheit, die Sichtweise des jeweils anderen zu hören. "Es ist für mich alternativlos, auch mit Russland trotz aller Differenzen das direkte Gespräche zu suchen", meinte Nehammer. Das müsse auch wiederholt werden. "Leidenschaftlich" diskutiert worden sei, dass alle Kriegsverbrechen nach dem Vorbild der Jugoslawienkriege von internationalen Institutionen aufgeklärt werden müssten. Putin misstraue der internationalen Staatengemeinschaft und kritisiere sie als einseitig, fasste Nehammer zusammen. Die beiden Politiker trafen sich in Putins Moskauer Vorstadtresidenz in Nowo-Ogarjowo.
Ohne Selenskyjs Zustimmung kein Treffen
Noch am Samstag hatte Nehammer den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew getroffen – und ihn von seinem Plan informiert. Auch Berlin und Brüssel wussten laut Wiener Kanzleramt Bescheid. Bundeskanzler Olaf Scholz begrüßte die Reise Nehammers. Man befürworte "jegliche diplomatischen Bemühungen, die darauf abzielen, ein Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine zu erreichen und Grundvoraussetzungen für Verhandlungen zu schaffen zwischen der Ukraine und Russland", ließ er in Berlin mitteilen. Er selbst habe im Moment "keinerlei Pläne" nach Moskau zu reisen.
Nehammer betonte nach dem Treffen mit Putin dementsprechend, dass es kein "Gesprächsembargo" gebe, sonst hätte er das Treffen mit dem russischen Präsidenten nicht angestrebt. Und: "Wenn Präsident Selenskyj etwas dagegen gehabt hätte, wäre ich nicht hier", betonte Nehammer.
Butscha ist kein Einzelfall – diese Kriegsverbrechen gingen in die Geschichte ein

Österreich: Vieraugengespräch ohne Medien
Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg verteidigte im Vorfeld das Treffen in Moskau gegen Kritik. "Es geht einfach darum, dass wir (...) jede Chance ergreifen müssen, um die humanitäre Hölle in der Ukraine zu beenden", sagte er am Rande eines EU-Außenministertreffens in Luxemburg. "Jede Stimme, die dem Präsidenten Putin verdeutlicht, wie die Realität sich außerhalb der Mauern des Kremls wirklich darstellt, ist keine verlorene Stimme." Zu Befürchtungen, dass Putin Bilder vom Treffen für seine Zwecke nutzen könnte, sagte Schallenberg, der Besuch sei so besprochen, dass es ausschließlich ein Vieraugengespräch ohne Medien gebe."
"Falle oder Coup?" Die "Kronen Zeitung" in Österreich stellte angesichts des Besuchs Nehammers eine naheliegende Frage. Und: Ausgerechnet das kleine Österreich will in einer der größten Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg diplomatisch mitspielen?, fragten sich nicht wenige. Der diplomatische Schatz, den Wien in diesem Fall heben könnte, sind seine militärische Neutralität und seine traditionell guten Beziehungen zu Moskau. Wien sieht sich gern in der Rolle des Brückenbauers. Dieses Bild wollte Nehammer bemühen und den Dialog vorantreiben. Persönliche Diplomatie statt Telefongespräche ist sein Motto. Neben der Türkei und Israel könnte sich Österreich als weiteres mögliches Vermittlerland positionieren – so der Plan.
Österreichs Kanzler hofierten wiederholt den Kremlchef
Jahrzehntelang hat Wien ein sehr enges Verhältnis zu Moskau gepflegt. Der österreichische Energiekonzern OMV hat schon vor mehr als 50 Jahren einen ersten Erdgasliefervertrag mit der damaligen Sowjetunion abgeschlossen. Heute kommen 80 Prozent des Gases aus Russland, was den Handlungsspielraum des Landes sehr einschränkt.
Immer wieder hofierten österreichische Spitzenpolitiker den Chef im Kreml. Die Ex-Kanzler Christian Kern (SPÖ) und Wolfgang Schüssel (ÖVP) bekamen Jobs in Aufsichtsräten russischer Top-Firmen – die sie angesichts des Ukraine-Krieges aufgegeben haben. Schlagzeilen machte der Privatbesuch Putins 2018 bei der Hochzeit der damaligen Außenministerin Karin Kneissl, die sich mit einem Knicks bedankte.
Experte: Moskau weiß, dass Österreich in EU kein Gewicht hat
Aktuell hat Österreich zwar alle EU-Sanktionen mitgetragen, aber auf seine Weise nicht zusätzlich die Fronten verhärtet. So hat Wien erst nach einigem Zögern einige wenige russische Diplomaten ausgewiesen. Skeptisch sah Österreichs führender Russland-Experte Gerhard Mangott Nehammers Vorstoß. "Auch in Moskau weiß man, dass das kleine Österreich kein Gewicht hat, um auf die Meinungsbildung in der Europäischen Union zu Russland Einfluss zu nehmen", sagte Mangott am Sonntagabend im ORF-Fernsehen.