Wendung im Kriegsgeschehen "Es dreht sich gerade": Ukraine startet Gegenoffensive – und hat die Zeit auf ihrer Seite

Ukraines Verteidigungsminister Oleksii Reznikov (l.) spricht mit Soldaten an der Front
Ukraines Verteidigungsminister Oleksii Reznikov (l.) spricht mit Soldaten an der Front
© Ukrainian Defence ministry press-service / AFP
Der russische Angriffskrieg läuft bisher nicht nach Plan. Nun nutzt die Ukraine die Pattsituation für eine Gegenoffensive – und kann dabei erste Erfolge verbuchen. Dennoch streiten Experten, wer vor Ort das Momentum wirklich hat.

Zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine waren die Rollen klar verteilt. Russlands Armee schien, sowohl zahlentechnisch als auch was die Ausrüstung angeht, den ukrainischen Streitkräften deutlich überlegen. Kaum einer zweifelte an einem schnellen Sieg der vermeintlich russischen Übermacht. Doch je länger der Krieg dauert, desto deutlicher wird für die ganze Welt sichtbar, dass sich Wladimir Putin verkalkuliert hat. Statt dem erhofften Blitzsieg, stießen seine Truppen im ganzen Land auf erbitterten Widerstand. Inzwischen geht es an nahezu allen Fronten kaum voran oder zurück.

Doch nun, einen Monat nach Kriegsbeginn, zeichnet sich ab, dass sich die Dynamik der Kämpfe verändert. Die fehlerhafte Planung und Ausführung des russischen Angriffs – einschließlich Versorgungsengpässe und eine offenbar schwindende Moral unter den Soldaten – haben es der Ukraine ermöglicht, unerwartet selbst in die Offensive zu gehen. In den vergangenen Tagen häuften sich Berichte von ukrainischen Angriffen im ganzen Land: in die Luft gesprengte russische Hubschrauber im Süden, ein attackierter russischer Versorgungskonvoi im Nordosten, militärische Fortschritte bei den Kämpfen rund um Kiew und sogar ein offenbar zerstörtes russisches Marineschiff im Asowschen Meer.

Obgleich die Informationen mit Vorsicht zu genießen sind, da sie sich oft nicht unabhängig überprüfen lassen, verstärkt sich der Eindruck einer Trendwende. "Es ist dieses Momentum da, wo man glaubt: Jetzt dreht sich das Blatt zugunsten der ukrainischen Streitkräfte", erläutert der Militärexperte Carlo Masala im aktuellen stern-Podcast "Ukraine – Die Lage".

"Realistische Chance" russische Versorgung zu durchbrechen

Vorsichtig optimistisch über die neue Gegenoffensive zeigen sich auch westliche Regierungsvertreter. "Wir haben Anzeichen dafür gesehen, dass die Ukrainer jetzt etwas mehr in die Offensive gehen", verkündet Pentagon-Pressesprecher John Kirby am Mittwoch. Nach Angaben von US-Geheimdiensten konnte die ukrainische Armee vor allem Erfolge östlich von Kiew verbuchen und die russischen Truppen auf 55 Kilometer zurückdrängen.

Das britische Verteidigungsministerium bestätigt in einem aktuellen Geheimdienstbericht ebenfalls, dass die Ukraine den Druck auf russische Truppen östlich von Kiew "erhöht hätte" und dass ukrainische Soldaten offenbar Makariv sowie einen weiteren Vorort nördlich der Hauptstadt "zurückerobert hätten".

Während der Bericht nach wie vor einen "unklaren Stand der Kämpfe" attestiert, spricht er jedoch von der "realistischen Möglichkeit", dass es der ukrainischen Gegenoffensive gelingen könnte, die russischen Versorgungslinien in dem Gebiet einzukreisen und zu durchbrechen, was ein klarer taktischer Sieg für die Ukraine wäre. Zumindest "werden die erfolgreichen Gegenangriffe der Ukraine die Fähigkeit der russischen Streitkräfte stören, sich neu zu organisieren und ihre eigene Offensive gegen Kiew wieder aufzunehmen", heißt es wörtlich.

Offensivtaktik der Ukraine zeigt erste Erfolge

Besonders deutlich zeigt sich die ukrainische Offensivtaktik in den Kämpfen rund um Kiew. Das ukrainische Militär hat dort spezielle Strategien für die lokalen Gebiete entwickelt, in denen vor allem kleine Infanterieeinheiten zum Einsatz kommen. Diese würden dann zu Aufklärungsmissionen losgeschickt werden, um russische Soldaten in der Nähe der Hauptstadt ausfindig zu machen und anzugreifen, wie ein Soldat einer solchen Mission der "New York Times" berichtete.

Dass diese Taktik bislang aufgeht, zeigt der Fall Irpin. Schon seit Tagen versuchen russische Truppen den rund 20 Kilometer entfernten Vorort von Kiew einzunehmen – bisher vergebens. Immer wieder werden sie dabei von ukrainischen Einheiten gehindert, die oft aus dem Hinterhalt heraus attackieren. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko verkündete am Mittwoch auf einer Pressekonferenz, dass "fast ganz Irpin in ukrainischer Hand ist".

Dabei hat die Ukraine laut Militärexperten einen entscheidenden Vorteil auf ihrer Seite – die Zeit. 

Abgehörte Funkgespräche von russischen Soldaten lassen vermuten, dass den Streitkräften vielerorts Treibstoff und Munition ausgehen. Auch Masala zweifelt daran, dass die russische Armee ihre Probleme überwinden und sich neu aufstellen kann. "Die Chancen, dass es der russischen Föderation gelingt, sinken von Tag zu Tag", meint Politikprofessor Masala von der Bundeswehruniversität München. "Es dreht sich gerade."

Experte: "Unklar, wer das Momentum vor Ort hat"

Andere Experten, wie Michael Kofman, Direktor für Russlandstudien am US-Forschungsinstitut CNA in Virginia, warnen jedoch davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. "Unser Verständnis davon, wo wir uns jetzt in diesem Krieg befinden, ist sehr unvollständig (...)", sagt Kofman der "New York Times". "Wenn man nicht weiß, wer was kontrolliert, weiß man nicht, wer das Momentum vor Ort hat."

Der Sicherheitsexperte bezieht sich darauf, dass die ukrainischen Streitkräfte bisher nicht nachweisen können, dass sie nun die Dörfer und Städte kontrollieren, die zuvor von der russischen Armee eingenommen wurden. Unterdessen behauptet das russische Militär in der Ostukraine weiter vorgerückt zu sein und die Provinzstadt Izyum in der Region Charkiw besetzt zu haben –was die Führung in Kiew ihrerseits abstreitet.

Fest steht, der Kriegszustand in der Ukraine ist auch in der fünften Woche ungewiss. Sinnbildlich dafür war Kiew zuletzt fast vollständig in weiße Rauchschwaden gehüllt – verursacht durch die intensiven Kämpfe rund um die Hauptstadt.

Quellen: "New York Times", "Guardian", "ntv", mit AFP-Material