Schon kurz nach dem die Invasoren die Grenze vom Norden kommend überschritten hatten, fanden sie sich unmittelbar auf stark verseuchtem Gebiet wieder. Das havarierte Kernkraftwerk Tschernobyl befindet sich nur wenige Kilometer von Belarus entfernt und drumherum, in einem Radius von 30 Kilometern, ein Sperrgebiet. Wer in der verstrahlten Gegend arbeitet, wie Förster, Feuerwehrleute oder Techniker ist angehalten, sie aus Gesundheitsgründen alle paar Wochen zu verlassen. Dieser Empfehlung folgen nun offenbar auch die russischen Truppen.
"Kleine Zahl" an Russen ist noch vor Ort
"Heute Morgen haben die Invasoren ihre Absicht erklärt, das Atomkraftwerk Tschernobyl zu verlassen", teilte die ukrainische Atomenergiekonzern Energoatom jetzt mit. Die russischen Soldaten würden nun "in zwei Kolonnen in Richtung der ukrainisch-belarussischen Grenze marschieren". Eine "kleine Zahl" an russischen Soldaten befinde sich weiterhin in dem Atomkomplex, so Energoatom. Darüber hinaus gebe es "Belege, dass derzeit eine Kolonne aus russischen Soldaten, welche die Stadt Slawutysch belagern, gebildet wird, die sich nach Belarus bewegen soll". In dem Ort sind die Mitarbeiter untergebracht, die das stillgelegte Akw Tschernobyl abwickeln.
Einige der Soldaten sollen nach ukrainischen Angaben "erhebliche Strahlendosen" abbekommen haben. Es sei jedoch "unmöglich, das Ausmaß der radioaktiven Verstrahlung zu beziffern", so der Kraftwerkschef. Laut Energoatom hätten sie Gräben im Wald in der Sperrzone ausgehoben. Dabei seien sie vermutlich mit verstrahltem Material unter der Oberfläche in Kontakt geraten. Bei den ersten Krankheitsanzeichen hätten die Soldaten in Panik den Abzug vorbereitet. Anderen Berichten zufolge sollen die Russen mit Panzern durch die Böden gepflügt sein und somit massenhaft radioaktiven Staub aufgewirbelt haben.
Böden und Wälder besonders belastet
Das Strahlenerbe des GAUs vom 26. April 1986 ist auch 36 Jahre nach dem Unglück sehr unterschiedlich verteilt. In dem Dorf Tschernobyl, das rund 20 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt liegt, ist die Belastung nicht allzu hoch, anders als in Pribjat, der Geisterstadt in Sichtweite des Reaktors. Selbst direkt vor dem havarierten Block 4 (sogar noch ohne die neue Schutzhülle) war ein Aufenthalt von ein paar Stunden möglich, ein paar hundert Meter weiter aber, wo das abgesprengte Dach im Wald gelandet war, nur wenige Minuten. Grund: Die radioaktiven Partikel haben sich vor allem in und auf Böden, Bäumen und Sträuchern abgelagert. Werden Staub und Laub aufgewirbelt, verteilt sich die gefährliche Strahlung aufs Neue.
Auch deswegen ist Landwirtschaft und Gärtnerei in der Sperrzone verboten. Wenngleich sich viele zurückgekehrte Bewohner in der Gegend nicht daran halten. Dadurch ergibt sich jedoch ein weiteres Problem: Den örtlichen Förstern ist es kaum möglich, die Wälder zu bewirtschaften. Das aber ist dringend nötig, da die Ukraine mittlerweile unter extremer Trockenheit leidet, was wiederum die Waldbrandgefahr erhöht. Erst vor wenigen Tagen standen Teile der Sperrzone in Flammen. "In der Sperrzone haben große Brände begonnen, die sehr ernste Folgen haben können", so die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk Ende März. Allerdings sei es wegen der russischen Truppen "unmöglich, die Brände vollständig zu kontrollieren und zu löschen".
Keine gute Idee: Löcher graben
Einen Großbrand hatte es zuletzt 2020 in unmittelbarer Nähe des Akw gegeben. Durch das zehntägige Feuer wurden so viel Cäsium-137 verteilt, dass Spuren des radioaktiven Elements sogar noch in Deutschland messbar waren. Kurzum: In der Sperrzone Löcher zu graben, ist keine gute Idee.
Laut dem belarussischen Oppositionsportal telegraf.by hätten sich die Soldaten ohne Strahlenschutzmaßnahmen sogar im extrem verstrahlten "Roten Wald" aufgehalten. Angeblich sollen die russischen Kämpfer nie etwas von der Tschernobyl-Katastrophe gehört haben. Iryna Wereschtschuk schrieb in den sozialen Medien, dass Ärzte in Schutzanzügen anrücken mussten, um die Rekruten über die Gefährlichkeit ihres Tuns aufzuklären.
Der Abzug der Truppen hat aber womöglich noch anderen Gründe als die radioaktive Belastung, es scheint auch eine Rotation von Truppenteilen im Spiel zu sein. Dabei sollen die Soldaten auch Geiseln mitgenommen haben. "Als sie von der Atomanlage Tschernobyl wegrannten, nahmen die russischen Besatzer Mitglieder der Nationalgarde mit, die sie seit dem 24. Februar gefangen gehalten hatten", so die ukrainische Atombehörde. Um wie viele ukrainische Soldaten es sich handelte, war unklar.
Zu Beginn der Besatzung hieß es noch, die Nationalgardisten würden zusammen mit den Russen die AKW-Ruine bewachen. Die Soldaten hätten darüber hinaus "Ausrüstung und andere Wertgegenstände" aus der stillgelegten Atomanlage gestohlen. Ukrainische Spezialisten würden nun auf das Gelände geschickt, um es auf "potenzielle Sprengkörper" hin zu durchsuchen.
Quellen: DPA, AFP, "Taz", Telegraf.by, PBS