Die "location" sollte der Bedeutung des Moments entsprechen. Für seine vielleicht wichtigste Rede an die Nation hatten seine Berater dem Präsidenten das die Bibliothek des Weißen Hauses empfohlen. Denn hier, heißt es, stehen Bücher mit amerikanischem Gedankengut, kluge Bücher, "zum Gebrauch des Präsidenten und seiner Mitarbeiter", heißt es. Ein angemessener Ort für Grundsätzliches. Und darum geht es ihm, um seine, um Amerikas historische Mission: "Die Herausforderungen im Nahen und Mittleren Osten sind größer als ein militärischer Konflikt", sagte er. "Dort wird die entscheidende ideologische Auseinandersetzung unserer Zeit geführt."
Er hatte seine Rede geübt, dann sprach er live, kein Lächeln, in schwarzem Jackett, exakt 20 Minuten lang. Es waren 20 entscheidende Minuten für Amerika. Präsident Bush kündigte an, worauf seine Nation, die Welt seit Monaten gewartet hatten: eine "neue Strategie" für den Irak, einen "Weg nach vorn". Truppenerhöhung um fünf Kampf-Brigaden, mindestens 21.500 Mann. Gemeinsam mit Einheiten der irakischen Armee sollen ihnen jetzt gelingen, den Sechs-Millionen-Moloch Bagdad unter Kontrolle zu bringen. Stadtviertel von Terroristen und Todesschwadronen zu säubern, der Bevölkerung Schutz garantieren.
Und das "24/7": 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Monatelang. Vielleicht aber auch über Jahre. Schon in wenigen Wochen sollen die ersten Einheiten in Bagdad eintreffen.
Bush gesteht Fehler ein
"Die Situation im Irak ist nicht akzeptabel", gab Bush zu. "Wo Fehler gemacht wurden, übernehme ich die Verantwortung." Ein knappes Eingeständnis seines Scheiterns, fast vier Jahre nach der Invasion. Jetzt ist dieser Krieg endgültig sein Krieg. Und sein zynisches, machtpolitisches Kalkül ist: wenn er diesen Krieg rettet, dann rettet er auch seine Präsidentschaft.
Man werde die irakische Regierung zur Verantwortung ziehen, versprach Bush. Die irakische Armee müsse die Arbeit übernehmen, US-Truppen sollten lediglich "Unterstützung" liefern. Dabei hatte es schon im vergangenen Jahr ähnliche Versuche gegeben. Da waren die versprochenen irakischen Einheiten zu ihren Einsätzen erst gar nicht aufgetaucht. Auch die vergangenen Tage in Bagdad gaben einen Vorgeschmack auf die kommenden Monate: erbitterte Straßenkämpfe unter Einsatz von Kampfjets und Helikoptern, 1000 US- und irakische Soldaten kämpften fast zwei Tage ununterbrochen gegen Aufständische; gerade mal 500 Meter von der schwer bewachten "Grünen Zone" entfernt. Ein Rückzug komme nicht in Frage, erklärte der Präsident. Dies hätte "Massenmorde von unvorstellbarem Ausmaß" zur Folge. "Eine Niederlage wäre ein Desaster für die USA."
Diplomatie gefragt
Doch seine neue Strategie bedeutet Eskalation im Namen der Sicherheit. Es ist seine letzte Chance, glauben die Befürworter: erst Sicherheit in Bagdad und der al-Quaida Provinz Anbar schaffe die Voraussetzungen für Wiederaufbau und politische Entwicklung. Es ist viel zu spät für eine militärische Lösung, zweifeln die meisten Experten. Allein um Bagdad zu sichern, seien viel mehr Truppen nötig, Zehntausende, vielleicht sogar mehr als Hunderttausend. Nur noch eine kühne diplomatische Initiative und ein schrittweiser Truppenabzug könnten helfen. Die Iraker müssten ihre Probleme endlich selbst lösen. Die USA dürften auf keinen Fall Geisel irakischer Machtpolitiker werden.
Der Präsident aber hatte entschieden, gegen den Rat vieler Militärs. Wer, wie Oberbefehlshaber General Abizaid, vor Truppenerhöhungen warnte, wurde eben versetzt. Er hatte entschieden, als ob er die Diskussionen der vergangenen Monate nicht gehört hätte. Die 79 lang erwarteten Empfehlungen der überparteilichen Kommission unter Leitung des gewieften ehemaligen Außenministers James Baker etwa, die vor allem auf Diplomatie setzen: Gespräche auch mit Syrien und dem Iran. "Man muss auch mit seinen Feinden reden", meint Baker knapp. Und selbst Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Hauptverantwortlicher für das Irak-Desaster, hatte in einem geheimen Memo wenige Tage vor seiner Entlassung einen "bescheidenen Truppenabzug" gefordert: "Damit die Iraker endlich anfangen, sich am Riemen zu reißen und Verantwortung für ihr eigenes Land übernehmen."
"Ich will von Ihnen hören, wie wir gewinnen!"
Bush lächelte säuerlich, als er die Empfehlungen kurz vor Weihnachten zur Kenntnis nahm, er schaute, als ob er eine Kiste "stinkenden Fisches" erhielt, notierte das Nachrichtenmagazine Time. Gespräche mit den "Schurkenstaaten" Syrien oder Iran lehnt er ohnehin rundherum ab und machte seinen Generälen während eines Treffens im Pentagon Ende des vergangenen Jahres eisenhart klar: "Ich will von Ihnen hören, wie wir gewinnen! Nicht, wie wir abziehen." Immerhin: er beharrte gestern nicht mehr auf seinem aberwitzigen "Plan für den Sieg", den er noch vor 13 Monaten verkündet hatte. Jetzt ist nur noch von einem "Erfolg" die Rede. Auch kündigte er - wie schon einmal vor über einem Jahr - die massive Verstärkung des Wiederaufbauprogramms an. So sollen neun weitere "Wiederaufbauteams" in die Provinzen entsandt werden, um Wiederaufbauprogramme zu koordinieren – "eingebettet" in Einheiten der US-Armee. Erst wenige Stunden vor der Rede hatten die erschöpften Fachleute in der Budget-Abteilung des Weißen Hauses das Geld zusammengekratzt, mehrere Milliarden Dollar sollen nun genehmigt werden – doch kaum jemand glaubt, dass diese Pläne funktionieren.
Und so konnten gestern Abend die "Neocons" noch einmal einen Sieg davontragen, vielleicht ihren letzten. Die unverbesserlichen Konservativen, die schon vor vier Jahren unermüdlich für den Krieg getrommelt hatten, plädierten seit Monaten für eine Truppenerhöhung. Am vergangenen Freitag hatte das "American Enterprise Institute", Hochburg der Neokonservativen, zur Präsentation einer Studie mit dem Titel "Den Sieg wählen" geladen. Experten um den konservativen Militärhistoriker Frederick Kagan und Ex-Vier-Sterne-General Jack Keane hatten ein Handbuch der Eskalation geschrieben: Keine Zurückhaltung mehr. Keine falsche Vorsicht. Jetzt solle Amerika endlich einen richtigen Krieg führen.
Man stehe an einem "historischen Wendepunkt", erläuterte Kagan. Man habe den Feind stets unterschätzt. Vor allem der Iran müsse eingedämmt werden. "Es ist Zeit, die Realität zu akzeptieren", hieß es. "Jetzt muss Amerika in den Krieg ziehen und gewinnen." Und die Folgen? "Es wird ein blutiges Jahr."
McCain zweifelt am Erfolg
Auch der republikanische Über-Senator John McCain war da. Seit Jahren fordert der Vietnam-Veteran und aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat mehr Truppen für den Irak. Erst Sicherheit biete die Voraussetzungen für den Aufbau einer Demokratie. "Doch eine Erhöhung muss substantiell sein. Und sie muss dauerhaft sein", erklärte er. "Und ich sage Ihnen in aller Aufrichtigkeit, dass dies mehr Tote bedeutet. Ob es Erfolg bringt? Vielleicht. Doch es wird sehr, sehr schwer werden."
Dann sprach der Mann, der fünf Jahre in vietnamesischer Kriegsgefangenschaft saß und bis heute unter den Folgen der Folter leidet, von seiner Furcht vor einer "geschlagenen und gebrochenen Armee". Von Drogen und Aufständen auf Flugzeugträgern, die er erlebt hatte, wie damals nach Vietnam. Von den Folgen einer Niederlage, unter denen ein gedemütigtes Amerika jahrzehntelang leiden werde. John McCain sieht keine andere Chance. Er sieht kein Ende des Krieges. Und keinen Sieg.
Strategie ein leerer Slogan
Wahr ist: im fünften Jahr des Krieges, nach Zehntausenden Toten, existiert immer noch keine klare Strategie für den Irak. Alle Versuche endeten im Desaster. Zunächst tönte man, nach spätestens sechs Monaten sei es vorbei, die US-Truppen würden siegreich abziehen, im Irak die Demokratie blühen. Dann folgte das Konzept "clear, hold, build", "säubern, halten, aufbauen" – ein leerer Slogan. Denn nie gab es ausreichend Truppen dafür, noch nicht mal genügend Dolmetscher zur "Kontaktaufnahme" mit der lokalen Bevölkerung. So konnten rasch wieder die Milizen mit ihren Killerkommandos in die "gesäuberten" Stadtviertel einsickern, um die ethnische Säuberung vorantreiben. Und bei ihnen, den schiitischen und sunnitischen Milizen, muss die Bevölkerung nun Schutz suchen. Seit einem Jahr gilt die "Hand-Over-Strategie", vor allem Hilfe beim Aufbau der irakischen Armee. Offiziell zählt die irakische Armee heute 325000 Mann. Doch als Armee existiert sie nicht. Es existieren nur verschiedene bewaffnete Gruppen, Kurden und Sunnis und Schiiten, die um Macht und Öl kämpfen. Und die Experten wissen auch: die irakische Regierung unter dem schiitischen Ministerpräsidenten al-Maliki will die Nationale Einheit überhaupt nicht, die von Bush so beschworen wird. Bislang ist es immer bei Versprechen geblieben. "Es handelt sich um politische Probleme", sagt der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark. "Die US-Regierung braucht eine neue Strategie für die gesamte Region - und zwar bevor der Iran die Fähigkeit erlangt, Atombomben zu bauen. Alles Andere kostet Menschenleben. Und es verschwendet Zeit. Wir brauchen eine massive Verstärkung der Diplomatie."
Das Drehbuch des Weißen Hauses
Die Demokraten im US-Kongress können die Entsendung von Truppen nicht verhindern, aber sie wollen Bush und Co. ordentlich "grillen", wie es heißt. Schon muss sich Außenministerin Condoleezza Rice, stets treue Unterstützerin des Präsidenten, vor dem Außenpolitischen Ausschuss rechtfertigen. Und der demokratische Senator Ted Kennedy fordert eine Debatte im Senat, eine namentliche Abstimmung über den Bush-Plan. Keiner soll sich mehr verstecken dürfen. Und der Präsident? "Die ganze Welt schaut auf uns", sagte sein Pressechef Tony Snow ahnungsvoll, "wir müssen das jetzt unbedingt hinkriegen." Also sieht das Drehbuch des Weißen Hauses in dieser Woche noch einen Besuch bei den Truppen sowie eine Ordensverleihung im Oval Office vor. Die Ehrenmedaille, die höchste Auszeichnung der US-Armee, die zweite, die in diesem Krieg verliehen wird, sie geht an die Familie des Marine Jason Dunham. Er hatte sich am 14. April 2004 im Irak in eine Granate geworfen, um das Leben seiner Kameraden zu retten. Er wurde 22 Jahre alt.
Gefangen im Labyrinth seiner absoluten Wahrheiten muss Bush weiterhin an den Sieg glauben. Vor einigen Monaten hatte er einmal gesagt: "Ich kann es kaum ertragen, wenn ich Eltern treffe, die ihr Kind verloren haben. Ich weine, ich umarme sie. Ich muss weiterhin in der Lage sein, ihnen in die Augen zu schauen und zu sagen: Wir gewinnen. Ich kann einfach nicht so tun, als ob."
Er muss siegen. Um jeden Preis. Und er ist überzeugt, die Geschichte wird ihm Recht geben.