US-Repräsentantenhaus Schützenhilfe für Putin? Was das Sprecher-Chaos in den USA für die Ukraine bedeutet

Kevin McCarthy
Selbst der aus Hardliner-Sicht allzu kompromissbereite Kevin McCarthy hatte den Hilfestopp bereits zur Bedingung für eine Zwischenlösung gemacht – obwohl er selbst angeblich für die Fortführung der Zahlungen an die Ukraine war
© J. Scott Applewhite / AP / DPA
Nicht nur die Amerikaner blicken dieser Tage voller Entsetzen auf das politische Gemetzel in den USA. Nach dem Sturz von Kevin McCarthy beginnt das Rennen um seine Nachfolge als Kammer-Sprecher. Der nächste Hammerträger wird vermutlich wenig Liebe für die Ukrainehilfen mitbringen.

Nach dem historischen Aus des republikanischen Mehrheitsführers Kevin McCarthy, initiiert durch eine Handvoll ultrarechter Meuterer, ist das erbitterte Rennen um seine Nachfolge eröffnet. Fest steht jetzt schon: Der nächste Sprecher des Repräsentantenhauses, der neue (theoretisch) drittmächtigste Mann in der US-Politik wird einmal mehr eine Geisel der Ultrarechten sein, ein Kammer-König von Hardliner Gnaden.

Nun tauchte der Begriff "Kompromiss" im Wörterbuch der rechten Flügelspieler bisher eher selten auf. Wut, das war bislang die Werkseinstellung der neurechten Trumpisten. Wut auf alles, was mit der Regierung Biden zu tun hat – und damit auch und vor allem auf die milliardenschweren Hilfen für die Ukraine.

Die USA sind mit Abstand der größte Geldgeber im Kampf gegen die russischen Invasoren – und sollten es planmäßig auch bleiben. Nun könnte der Mann, der in Zukunft den Hammer in Washington schwingt, über das Schicksal der Ukraine entscheiden. 

Die Zeit drängt

Selbst der aus Hardliner-Sicht allzu kompromissbereite McCarthy hatte den Hilfestopp bereits zur Bedingung für eine Zwischenlösung gemacht – obwohl er selbst angeblich für die Fortführung der Zahlungen war. Ob er mit seinem Knicks vor den Rechten seiner Entmachtung entgegenwirken wollte, oder vielleicht doch aus Überzeugung handelte, das spielt am Ende keine Rolle. Im 45-tägigen Überbrückungshaushalt sind jedenfalls keine neuen Gelder für die Ukraine vorgesehen. 

Bis zum 17. November hat der Kongress Zeit, sich endgültig auf einen neuen Jahreshaushalt zu einigen, ansonsten droht der Shutdown. Schon wieder. Nun waren eineinhalb Monate angesichts der Unversöhnlichkeit der beiden Lager schon vor der Meuterei im Repräsentantenhaus knapp bemessen. Nach dem Desaster im Repräsentantenhaus läuft die Zeit nicht mehr davon – sie rennt. Und Zeit ist Geld. Doch bevor sich die Abgeordneten Gedanken über die Finanzen machen, müssen die Republikaner erst einmal ihren Machtkampf beigelegt und einen neuen Mehrheitsführer gekrönt haben. Kein Sprecher, keine Gesetzgebung. Keine Gesetzgebung, kein Haushalt. Kein Haushalt, kein Geld für die Ukraine. Allerdings ist die so wichtige Wahl erst für kommenden Mittwoch angesetzt – was nicht heißt, dass auch am selben Tag weißer Rauch über dem Capitol Hill aufsteigt. Beim peinlichen Wahlmarathon im Januar brauchte McCarthy 15 Anläufe. Bis dahin könnte es zu spät sein. Und selbst wenn die Nachfolge rechtzeitig geklärt ist – der neue McCarthy hat die Macht, dem Haus eine Abstimmung über neue Ukraine-Hilfen zu verweigern.

Kevin McCarthy 2.0: noch rechter, noch schwächer?

Keine Frage: McCarthy war ein formvollendeter Opportunist, der seine Fahne stets nach dem Wind ausrichtete. Doch das Amt des Sprechers erfordert ein Mindestmaß an Kompromissbereitschaft, wie er schnell erkennen musste. So mutierte McCarthys Opportunismus bisweilen zu jenem Pragmatismus, den es brauchte, um die ukrainische Artillerie am Feuern zu halten. 

Diese Zeiten sind vermutlich vorbei. Wer ihn auch immer beerben wird, wird den Einfluss der Nationalisten nicht mehr unterschätzen. McCarthy hatte bereits massive Zugeständnisse machen müssen, um den Sprecherhammer überhaupt in die Finger zu bekommen. Das wurde ihm letztlich zum Verhängnis. Um die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Partei zu befrieden und eine erneute Palastrevolte zu vermeiden, wird sein Nachfolger einen tollkühnen Spagat zwischen den verfeindeten Lagern hinlegen müssen. Denn die einst so stolze Grand Old Party ist tief gespalten. Während die gemäßigten Konservativen gemeinsam mit den Demokraten erst kürzlich den nächsten Millionenbrocken für die Ukraine durchwinkten, bleibt Rechtsaußen stur, aggressiv und machthungrig. 

Auch wenn am Ende "nur" acht Abtrünnige um Prügelrhetoriker Matt Gaetz für den Fall von McCarthy verantwortlich waren, haben sie doch Dutzende Geschwister im Geiste. Die neue Rechte ist inzwischen zu groß, um sie zu ignorieren. Und Realpolitik, das ist am extremem Rand ein Fabelwesen. Stand jetzt können sich drei Männer Hoffnung auf den Posten machen: Jim Jordan, Steve Scalise und Kevin Hern. Wenn auch in absteigender Intensität buhlen alle drei bereits um die Gunst der einstiegen Außenseiter. Wer Sprecher werden will, muss den Kniefall beherrschen. Tatsächlich handelt es sich bei der Mehrheit der aussichtsreicheren Kandidaten um erklärte Gegner der Ukraine-Hilfen.

Angst vor der politischen Geiselnahme

Der rechte Flügel mag laut sein. Doch spiegelt die Verbohrtheit der Erzkonservativen keineswegs den überparteilichen Volkswillen wider. Einer dieser Woche vom Chicago Council on Global Affairs veröffentlichten Umfrage zufolge ist die Zustimmung für die Ukraine-Hilfen unter republikanischen Wählern zwar tatsächlich gesunken. Trotzdem befürwortet rund die Hälfte der konservativen Amerikaner die Militärlieferungen weiterhin.

Fast 70 Milliarden Dollar haben die USA seit Kriegsbeginn bisher in die Ukraine gepumpt. Experten schätzen, dass die Ukraine etwa 2,5 Milliarden Dollar in Form von Ausrüstung, Wartung und Munition verpulvert – pro Monat. Noch schätzungsweise zwei Monate, dann versiegt der Geldstrom aus Washington.

Entscheidend sei vor allem die konstante Versorgung mit Munition, meint Sicherheitsexperte Carlo Masala im Nachrichtenpodcast "Apokalypse und Filterkaffee". Sollte die ausgehen, "dann ist der Krieg vorbei", ist er sich sicher. Die Republikaner sehen nur das Loch, das der Beistand in die Staatskasse reiße. Doch, sollte Russland den Krieg gewinnen, würde es erst richtig teuer, meint Masala. Im Vergleich zu den politischen und ökonomischen Konsequenzen seien die 48 Milliarden Dollar Militärhilfen, die die USA bisher zugesteuert haben, "lächerlich". Diese Finanzierungslücke müssten dann die Europäer stopfen – nur hat Brüssel mit seinen eigenen Hardlinern zu kämpfen.

Kiew bemüht sich derweil nach außen hin um kollektive Gelassenheit. Es finde weiter ein Austausch statt, heißt es. Nur vereinzelte Stimmen geben einen Eindruck vom Fingernagelgekaue in den Kiewer Hinterzimmern. Die Ukrainer seien zu "Geiseln ihrer Innenpolitik geworden", sagte der ukrainische Gesetzgeber Yaroslav Zheleznyak, der erste stellvertretende Vorsitzende des Finanzausschusses des Parlaments gegenüber "Politico", nachdem die Ukraine im Übergangshaushalt nicht bedacht wurde. "Wir flippen aus. Für uns ist das eine Katastrophe", meint Ivanna Klympush-Tsintsadze, eine hochrangige ukrainische EU-Abgeordnete gegenüber dem US-Magazin.

Demokraten sind mitverantwortlich

Wie man es auch dreht und wendet: Die rechte Schlammschlacht kommt zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Das wussten auch die Demokraten unter Minderheitsführer Hakeem Jeffries, als 208 von ihnen für McCarthys Absetzung votierten. Zwar ist der Reflex, dem politischen Gegner zu schaden und einem ausgewiesenen Trumpisten ein Bein zu stellen, verständlich. Doch in einer Situation, in der jeder Tag Menschenleben kostet, wäre Realpolitik womöglich die klügere Handlungsweise gewesen.

Nun nimmt der Kampf der Ukrainer keine Rücksicht auf Washingtoner Machtgeplänkel. Auch die Linie von Präsident Joe Biden kennt in dieser Hinsicht keine Kompromisse. Der hatte dem Kongress erst im Juli einen Antrag über 24 Milliarden Dollar neue Hilfen vorgelegt, der jetzt in der Schwebe ist. So tragen die Demokraten am Ende womöglich eine Mitschuld an der prekären Aussicht für die Ukrainer. Klar ist: Wenn sich Washington streitet, freut sich in Moskau.

Quellen: "Politico"; "Axios"; "Guardian"; "Reuters"; CNN; Podcast "Apokalypse und Filterkaffee"