Neue Eskalationsstufe Ukraine-Krise spitzt sich weiter zu – US-Regierung: Putin könnte vor Olympia-Ende einmarschieren

Zwei ukrainische Soldaten schauen während einer Militärübung aus einem gepanzerten Militärfahrzeug
Zwei ukrainische Soldaten schauen während einer Militärübung der 92. mechanisierten Iwan-Sirko-Brigade der ukrainischen Streitkräfte aus einem gepanzerten Militärfahrzeug. Die USA halten eine Invasion Russlands in der Ukraine in den nächsten Tagen für möglich.
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Kommt es zu einem russischen Einmarsch in die Ukraine? Die USA gehen davon aus, dass dies in den nächsten Tagen passieren könnte. Auch andere westliche Länder beurteilen die Lage als "sehr, sehr ernst". Dennoch wolle man einen Krieg in Europa verhindern.

Im Ukraine-Konflikt droht eine Eskalation. Die US-Regierung hält einen russischen Einmarsch in die Ukraine noch vor dem Ende der Olympischen Winterspiele in China am 20. Februar für möglich. "Wir sehen weiterhin Anzeichen für eine russische Eskalation, einschließlich neuer Truppen, die an der ukrainischen Grenze eintreffen", sagte der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am Freitag im Weißen Haus. Sullivan machte aber deutlich, dass er damit nicht sagen wolle, dass Putin eine Entscheidung für eine Invasion getroffen habe.

"Wir befinden uns in einem Zeitfenster, in dem eine Invasion jederzeit beginnen könnte, sollte sich (der russische Präsident) Wladimir Putin dazu entschließen, sie anzuordnen", sagte Sullivan. "Ich werde mich nicht zu den Einzelheiten unserer Geheimdienstinformationen äußern. Aber ich möchte klarstellen, dass sie (die Invasion) während der Olympischen Spiele beginnen könnte, obwohl es viele Spekulationen gibt, dass sie erst nach den Olympischen Spielen stattfinden würde." US-Bürger sollten die Ukraine innerhalb der "nächsten 24 bis 48 Stunden" verlassen. Falls es zu einem russischen Einmarsch kommen sollte, dürfte es zunächst Luftangriffe und dann eine Bodenoffensive geben, weswegen es dann kaum mehr möglich sein dürfte, das Land zu verlassen, sagte Sullivan. "Niemand könnte sich auf Luft-, Eisenbahn- oder Landverbindungen verlassen, nachdem ein Militäreinsatz beginnt", sagte er. Es werde in einem solchen Fall keinen Evakuierungseinsatz des US-Militärs für Amerikaner in der Ukraine geben, fügte Sullivan hinzu. Biden hatte amerikanische Staatsbürger bereits am Donnerstag dazu aufgefordert, die Ukraine umgehend zu verlassen.

Nicht bestätigen wollte Sullivan Informationen eines Journalisten des US-Senders PBS. Dieser hatte am Freitag unter Berufung auf westliche Regierungsvertreter auf Twitter geschrieben hatte, dass Putin einen entsprechenden Beschluss gefasst habe und dass die USA in der kommenden Woche mit einer Invasion rechneten.

Die US-Streitkräfte verlegen zudem rund 3000 weitere Soldaten in den Nato-Partnerstaat Polen. Das habe Verteidigungsminister Lloyd Austin auf Geheiß von Präsident Joe Biden angeordnet, erklärte das Verteidigungsministerium in Washington am Freitag.

Baerbock: "Die Situation ist wahnsinnig angespannt"

Ein russischer Einmarsch in das Nachbarland sei nun "jederzeit" möglich, auch während der noch bis zum 20. Februar andauernden Olympischen Winterspiele in Peking, sagte auch US-Außenminister Antony Blinken bei einem Besuch in Australien. Damit widersprach er Einschätzungen, wonach Moskau während der Pekinger Spiele darauf verzichten könnte.

Die US-Regierung hat Russland im Falle einer Invasion in die Ukraine mit einer "Welle der Verurteilung aus aller Welt" gedroht. Russlands Macht und Einfluss würden auf lange Sicht hin nicht gestärkt, sondern geschwächt, sagte Sullivan. Moskau werde dann mit einer "entschlossenen transatlantischen Gemeinschaft" konfrontiert sein. Es werde "massiven Druck" auf die russische Wirtschaft geben, so Sullivan.

"Die Situation ist wahnsinnig angespannt", sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei einem Besuch in Jordanien mit Blick auf die Ukraine. "Russland hat jetzt auch in den Raum gestellt, seine Diplomatinnen und Diplomaten aus der Ukraine abzuziehen." Militärisch gebe es "keine Anzeichen für Deeskalation".

Krisengipfel am Telefon zur Ukraine

Baerbock verwies auf zuvor von Moskau angekündigte neue Militärübungen an der ukrainischen Grenze. Laut dem Verteidigungsministerium in Moskau nahmen am Freitag in der Grenzregion Rostow 400 russische Soldaten an einer "taktischen Übung" für einen "Kampfeinsatz" teil.

Nach Einschätzung des norwegischen Militärgeheimdienstes hat Russland mittlerweile Vorbereitungen für "alles von einer kleineren Invasion im Osten bis hin zu einem Einmarsch mit einer möglichen Besetzung der gesamten Ukraine oder Teilen davon" getroffen. Die Entscheidung liege nur noch beim Kreml. "Es besteht ein reales Risiko für einen neuen bewaffneten Konflikt in Europa", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einem Besuch in Rumänien.

Angesichts der Spannungen sollte ab 17.00 Uhr (MEZ) eine Art Krisengipfel per Telefonschalte stattfinden, mit dabei: US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Bundeskanzler Olaf Scholz, Großbritanniens Premierminister Boris Johnson, Polens Präsident Andrzej Duda, Italiens Ministerpräsident Mario Draghi, Kanadas Premier Justin Trudeau sowie Nato-Chef Stoltenberg, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel.

Russland-Ukraine-Konflikt: Stern-Expertin über Putins Verhalten und die Rolle der NATO
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© Mikhail Metzel/Kremlin Pool/ / Picture Alliance
Ist eine friedliche Lösung noch möglich? stern-Expertin zu Putins Verhalten und Rolle der Nato

Länder rufen Bürger dazu auf, Ukraine zu verlassen

Die westlichen Verbündeten haben in der Schaltkonferenz noch einmal ihre Entschlossenheit betont, mit schnellen und tiefgreifenden Sanktionen auf eine mögliche russische Invasion in der Ukraine zu reagieren. Aus deutschen Regierungskreisen hieß es am Freitag anschließend, die Lage werde von den Teilnehmern aus Europäischer Union und Nato als "sehr, sehr ernst" eingeschätzt. Man wolle weiter versuchen, Russland mit diplomatischen Bemühungen zur Deeskalation zu bewegen. "Es gilt einen Krieg in Europa zu verhindern", schrieb Regierungssprecher Steffen Hebestreit auf Twitter.

Biden hatte am Donnerstag US-Bürger in einem aufgezeichneten TV-Interview aufgerufen, die Ukraine "jetzt" zu verlassen. Washington werde unter keinen Umständen US-Truppen in die Ukraine schicken, auch nicht zur Rettung von US-Bürgern im Falle einer russischen Invasion, warnte er. Dies würde "einen Weltkrieg" auslösen, sagte Biden. "Wenn Amerikaner und Russen anfangen, aufeinander zu schießen, befinden wir uns in einer ganz anderen Welt."

Das kanadische Außenministerium rief seine Staatsbürger auf seiner Website ebenfalls zur Ausreise auf: "Wenn Sie sich in der Ukraine befinden, sollten Sie sie verlassen." Russische Militäraktionen in der Ukraine könnten den Reiseverkehr im ganzen Land stören.

Auch Großbritannien hat seine Bürger aufgerufen, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. "Wir fordern britische Staatsangehörige in der Ukraine dringend auf, auf kommerziellen Wegen auszureisen, solange diese verfügbar sind", teilte das Außenministerium in London am Freitagabend mit. Die Regierung rät zudem von allen Reisen in die Ex-Sowjetrepublik dringend ab. Zudem würden weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Botschaft abgezogen, hieß es weiter. Zuvor hatte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace bei einem Besuch in Moskau gesagt, die russische Truppenstärke an der ukrainischen Grenze erlaube einen sofortigen Angriff auf das Nachbarland.

Russland weist Angriffspläne zurück

Deutschland warnt bislang lediglich vor nicht notwendigen Reisen in die Ukraine und rät dringend davon ab, sich in von prorussischen Separatisten kontrollierte Gebiete im Osten sowie auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim zu begeben. "Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Bewegungen russischer Militärverbände nahe der ukrainischen Grenzen" sollten sich Reisende über die Sicherheitslage zu informieren, heißt es zudem.

Russland hat nach westlichen Angaben in den vergangenen Monaten mehr als 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Dies schürt in der Ukraine wie im Westen die Furcht vor einem möglichen Großangriff Russlands auf das Nachbarland. Russland weist jegliche Angriffspläne zurück. Zugleich führt der Kreml an, sich von der Nato bedroht zu fühlen.

Eine neue Gesprächsrunde zur Ukraine-Krise im sogenannten Normandie-Format in Berlin endete in der Nacht zu Freitag nach rund zehn Stunden ohne große Fortschritte. Außenministerin Baerbock hob hervor, dass zumindest ein erneutes Treffen der Unterhändler der Ukraine und Russlands unter Vermittlung von Deutschland und Frankreich im März vereinbart worden sei. Das Treffen habe zu "absolut keinem Ergebnis" geführt, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow und machte die Ukraine dafür verantwortlich.

Vor dem Hintergrund der Spannungen mit den USA sind Russland und China enger zusammengerückt. Kurz vor der Eröffnung der Olympischen Winterspiele war Putin Ende vergangener Woche in Peking mit dem chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping zusammengekommen. Putin suchte dabei insbesondere Rückendeckung in der Ukraine-Krise. Spekuliert wurde, dass der Kremlchef die Olympischen Spiele in China auch aus Rücksicht auf Gastgeber Xi nicht durch einen Einmarsch in die Ukraine überschatten wolle.

Hinweis: Dieser Artikel wurde aktualisiert. 

DPA · AFP
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