Wenn es nach den Aussagen von Wladimir Putin und Wolodymyr Selesnkyj zum Jahreswechsel geht, wird Russlands Krieg in der Ukraine wohl noch eine ganze Weile dauern. Beide Präsidenten ließen keinen Zweifel daran, dass sie den Kampf gewinnen wollen – und werden. "Ich denke, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen, wir schützen unsere nationalen Interessen, die Interessen unserer Bürger, unser Menschen", sagte Putin an Weihnachten im russischen Staatsfernsehen. Und wie zur Bestätigung ließ der Kremlchef auch Silvester und Neujahr Raketen über die Ukraine regnen. Zudem trat am Neujahrstag ein von Putin erlassenes Dekret in Kraft, wonach die Zahl der russischen Soldaten in 2023 um 137.000 auf 1,15 Millionen wächst.
Demgegenüber schwor Selenskyj in seiner Neujahrsansprache seine Mitbürgerinnen und Mitbürger auf den Widerstand gegen die russischen Angreifer ein: "Wir kämpfen und werden weiter kämpfen. Um des einen wichtigen Wortes willen: Sieg", sagte er. Seine kurze Rede schloss er mit den Worten: "Frohes neues Jahr! Das Jahr unseres Sieges." Am Neujahrstag legte er dann nach: Das russische Militär habe spürbar Angst, behauptete der Präsident. "Und sie haben zu Recht Angst, denn sie werden verlieren." Selbst mit Drohnen und Raketen kämen die russischen Militärs nicht weit. "Weil wir zusammenhalten."
Was aber sagen Experten zum Kriegsverlauf in 2023? Sechs Meinungen:
Der frühere Bundeswehr- und Nato-General Hans-Lothar Domröse erwartet, dass die Waffen in nicht allzu ferner Zeit schweigen werden. "Ich rechne im Frühsommer mit einem Stillstand, an dem beide Seiten sagen: Jetzt bringt es nichts mehr", sagte Domröse den Funke-Zeitungen. "Wir werden im Verlauf des Jahres 2023 einen Waffenstillstand haben." Am wahrscheinlichsten trete zwischen Februar und Mai eine Situation ein, "in der beide Seiten erkennen, dass sie nicht weiterkommen", so der ehemalige General. "Das wäre der Moment für Waffenstillstandsverhandlungen."
Solche Verhandlungen bedeuteten aber noch lange keinen Frieden, stellte Domröse klar. "Waffenstillstand heißt: Wir beenden das Schießen. Die Verhandlungen dürften lange dauern, man benötigt einen Vermittler: vielleicht UN-Generalsekretär Guterres, der türkische Präsident Erdogan oder der indische Präsident Modi – wobei sich niemand wirklich aufdrängt." Es bleibe nur eine Verhandlungslösung, die für beide Seiten akzeptabel sei, "auch wenn Putin eigentlich gern die gesamte Ukraine hätte und Selenskyj die gesamte Ukraine wieder befreien möchte". Als mögliche Lösung nannte er, "dass Selenskyj auf die Forderung verzichtet, Gebiete wie die Krim sofort wieder in die Ukraine einzugliedern – man könnte einen Übergang vereinbaren".
Auch der Russland- und Sicherheitsexperte András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sagte den Funke-Zeitungen, im Sommer könnte es Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland geben. "Ich bin ziemlich sicher, dass wir zum Jahresende eine Art Waffenstillstand haben werden: mit hoffentlich gar keinen Kämpfen mehr, aber jedenfalls sehr viel geringeren Kämpfen."
2022: Das Jahr, in dem Putin der russischen Armee den Nimbus der Größe nahm

Es sei unwahrscheinlich, dass Russland einen intensiven Krieg auch vor oder während der 2024 anstehenden Präsidentschaftswahl führen möchte. Er erwarte, dass Russland deshalb im Laufe des Jahres die Intensität der Kämpfe verringern wolle. "Auch, weil sich im Sommer die Nachschubprobleme der russischen Armee verstärken dürften."
"Wladimir Putin wird versuchen, eine Pattsituation zu erreichen"
Der ehemalige Oberst der US-Luftwaffe Cedric Leighton prognostizierte, dass Putin noch stärker versuchen werde, für die Bevölkerung wichtige Einrichtungen zu zerstören: "Ich denke, er wird die Dinge, die er jetzt tut, noch weiter ausbauen" sagte Leighton im US-Sender CNN. "Man wird mehr Angriffe auf die zivile Infrastruktur erleben, leider. Man wird auch Versuche von russischen Truppen sehen, ein wenig in Gebiete des Donbass im östlichen Teil des Landes vorzudringen, die die Russen bisher entweder nicht unter Kontrolle hatten oder nicht vollständig unter ihre Kontrolle bringen konnten. Allerdings hätten die Ukrainer eine Menge Schwung auf ihrer Seite, erklärte der Militäranalyst. "Sie sind auch in der Lage, ihre logistische Versorgungskette viel besser zu nutzen als die Russen. Die Russen werden erhebliche Schwierigkeiten haben, ihre Kriegsziele zu erreichen, aber Putin wird versuchen, so viele verschiedene Hebel wie möglich in Bewegung zu setzen, um zumindest eine Pattsituation in diesem Krieg zu erreichen. Hoffentlich wird ihm das nicht gelingen, aber das ist sein erklärtes Ziel.

Leighton glaubt nicht, dass Putin seinen Krieg langfristig durchhalten kann. "Was wir sehen, sind einige schwerwiegende Engpässe in seiner Versorgungskette, wir sehen einige echte Schwierigkeiten, seine russischen Streitkräfte einsatzbereit zu machen", sagte der Experte. Die Tatsache, dass der Kremlchef bei einer Teilmobilmachung rund 300.000 Reservisten einberufen habe, zeige, dass es große Schwächen im russischen Militär gebe. "Diese Schwächen werden fortbestehen, und sie werden durch die Dinge, die er jetzt tut, noch verschlimmert werden. Was Putin also zu tun versucht, ist, sich alles genau anzusehen, aber seine Fähigkeit, offensive Operationen durchzuführen, wird auf eine harte Probe gestellt werden, und ich denke, sie wird scheitern."
Raimonds Graube, ehemaliger Kommandeur der lettischen Streitkräfte, ist der Ansicht, dass dieser Winter und das Frühjahr für den Kriegsverlauf sehr entscheidend sein werden. In dieser Zeit hätten die Ukrainer die Möglichkeit, die Initiative zu ergreifen. Die Russen könnten aber auch offiziell den Krieg erklären und eine allgemeine Mobilisierung einleiten, was eine andere Art der Kriegsführung zur Folge hätte.
Auch Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau hält Graube im neuen Jahr für möglich, auch wenn die Ukraine nicht alle ihre Gebiete, wie die Krim, zurückerobert haben sollte. "Die militärische Rückeroberung der Krim wäre angesichts der geografischen Lage der Krim und der ideologischen und verfassungsrechtlichen Haltung Russlands ihr gegenüber eine sehr, sehr schwierige militärische Operation, sagte Graube der lettischen Zeitung "Baltic Times". "Meiner Meinung nach ist es schwierig, aber wenn es durchgeführt wird, kann es wirklich einige Voraussetzungen für einen Atomkonflikt schaffen", warnte der Ex-Kommandeur. "Ich denke, dass alle Seiten dies verstehen, und ich würde vorhersagen, dass es eine Art von Verhandlungen über Donezk und Luhansk geben wird, weil sie militärisch viel einfacher zu befreien sind als die Krim."
"Die Ukraine hat nur die Wahl zwischen Krieg und Vernichtung"
Nach Einschätzung von Claudia Major, Sicherheitsexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, wird es auch im Jahr 2023 keinen Frieden in der Ukraine geben: "Der Krieg wird noch lange Zeit dauern", sagte Major dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Ich rechne nicht mit einem Ende des Krieges im nächsten Jahr, wenn unsere militärische Unterstützung auf dem Niveau wie bisher bleibt." Die Ukraine brauche mehr Waffen, um Russland entscheidend zurückzudrängen, so die Expertin "Um die russische Kommunikation, Logistik, Führung zu bekämpfen, braucht sie Drohnen, Artillerie und Raketenartillerie mit größerer Reichweite. Um weitere Gebiete zu befreien, benötigt sie Kampfpanzer und Schützenpanzer."
Die russischen Streitkräfte hält Major aktuell nicht für fähig, weitere großangelegte Angriffe zu unternehmen: "Derzeit sehe ich bei Russland nicht die notwendigen militärischen Fähigkeiten, bis nach Moldau zu marschieren", sagte sie dem Redaktionsnetzwerk. Auch zu einem "Landsturm auf Kiew" seien die Kremltruppen militärisch derzeit nicht in der Lage. "Trotzdem könnte Russland der Ukraine schwerwiegende Verluste zufügen und sie ausbremsen, allein schon, indem Russland schlecht ausgebildete Rekruten an die Front schickt und weiter die zivile Infrastruktur zerstört."
Wie sich die Fronten in der Ukraine seit Beginn des Krieges verschoben haben

Für Friedensverhandlungen sieht die Expertin wenig Chancen. Wer glaube, die Ukraine hätte eine Wahl zwischen Krieg einerseits und Verhandlungen und Frieden andererseits, verkenne komplett die Lage, erklärte sie: "Die Ukraine hat nur die Wahl zwischen Krieg und Vernichtung: Krieg, also die russisch besetzten Gebiete zu befreien, oder unter russischer Besatzung – wie in Irpin oder Isjum – vernichtet zu werden." Es werde aber einen Zeitpunkt geben, an dem sich beide Seiten darauf einigen, den militärischen Konflikt einzufrieren, sagte Major. Der Westen könne mit seiner Unterstützung für die Ukraine dafür sorgen, "dass sie dann in der bestmöglichen Lage ist; also dass die Ukraine durchhält, so viel wie möglich Territorium befreien kann und die Kosten für Russland in die Höhe treiben – dann tritt dieser Zeitpunkt hoffentlich bald ein. Dann schweigen die Waffen". Der politische Konflikt sei damit aber noch nicht gelöst, konstatierte die 46-Jährige. Dabei gehe es um die Frage der Zukunft der Ukraine und Russlands, um Grenzen, um Kriegsreparationen, um die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und um Sicherheitsgarantien für Kiew. "Der politische Konflikt wird daher mit jedem Tag größer und schwieriger zu lösen."
Auch Olga Lautman von der Washingtoner Denkfabrik Center for European Policy Analysis glaubt nicht an ein baldiges Ende der militärischen Auseinandersetzung: "Putin hat alle Möglichkeiten ausgeschöpft, aber er wird den Krieg in die Länge ziehen", sagte sie der britischen Zeitung "The Sun". "Er wird nach Schwachstellen im Westen suchen, nach Reibungen zwischen Verbündeten, etwa zwischen dem Westen und Europa und zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU." Putin sei gut darin, einen Krieg in die Länge zu ziehen, stellte Lautman fest. "Seine Streitkräfte sind erstmals 2014 in die Ukraine einmarschiert, im März haben wir es mit neun Jahren Krieg in der Ukraine zu tun."
Eine Chance auf ein Ende des Krieges gibt es nach Ansicht von Lautman nur ohne Putin. "Frieden in der Ukraine bedeutet, dass Russland sein Militär zusammenpackt und nach Hause geht", sagte sie. "Es bedeutet, dass Russland das gesamte ukrainische Territorium, einschließlich der Krim und des Donbass, räumt." Das werde unter Putin nicht passieren. "Wenn sein Regime zusammenbricht und es ein neues Gesicht im Kreml gibt, das Wiedergutmachung leisten will, dann kann es kurzfristige Veränderungen geben."
Quellen: CNN, Redaktionsnetzwerk Deutschland, "The Sun", "Baltic Times", DPA