Sozialproteste in Deutschland Linke und Rechte gehen gleichzeitig gegen die Regierung auf die Straße – eint die Parteien mehr als sie trennt?

Kritik an der Ampel-Regierung
"Sie haben das Geld für Kriege, aber können die Armen nicht füttern" – linke Demonstranten mit harscher Kritik an der Bundesregierung
© Jan Woitas / DPA
Linke und Rechte machen im "heißen Herbst" gegen die soziale Kälte mobil. Auf der Straße kritisieren sie die Bundesregierung mit scharfen Worten. Aber wie groß ist die Schnittmenge zwischen den beiden Gruppen wirklich?

Ein Montag auf dem Augustusplatz in Leipzig. Unter dem Stichwort "heißer Herbst" haben sich Tausende versammelt, um ihren Unmut über die Energie- und Sozialpolitik der Ampel-Regierung kundzutun. Plakate mit dem Konterfei von Habeck, Scholz und Lindner schweben durch die Luft, bestückt mit Parolen wie "Der Kaltmacher" (gemeint ist der Wirtschaftsminister) oder "Sie haben Geld für Kriege, aber können die Armen nicht ernähren". Es ist keine gewöhnliche Montagsdemo, wie sie die Bundesrepublik seit der Coronapandemie von Konservativen und Rechten in Ostdeutschland kennt.

Denn auf dem Augustusplatz in Leipzig haben sich in diesem September nicht nur Anhänger der rechten Partei "Freie Sachsen" eingefunden. Auch die Linke – der Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann sprach sogar von Montagsdemonstration – hat zum Protest aufgerufen und eine entsprechende Schar versammeln können. Dass die Linken jetzt neben den Rechten aufkreuzen, hat für AfD-Chef Timo Chrupalla "ne komische Note". Für die Linken ist dagegen klar: Man will sich "von den Rechten keinen Wochentag wegnehmen" lassen.

Möglicherweise ist das der Beginn des von Sozialforschern prognostizierten und von Politikern gefürchteten "Wutwinters". Einer Welle von Sozialprotesten, befeuert durch Energiekrise, Inflation und Kostenexplosionen. Durch Polizei, Bauzäune und politische Grundideologien getrennt, positionieren sich zwei Gruppen nebeneinander und trotzdem gemeinsam gegen die Politik der Ampel-Regierung. Endet dieser "heiße Herbst" mit dem Bekenntnis, dass sich Linke und Rechte doch näher sind, als das politische Spektrum vorgibt – und sich die Parteien selbst eingestehen wollen?

Linke und AfD üben gemeinsame Kritik an der Bundesregierung

Zumindest entspräche das der Hufeisentheorie, wonach zwei Extreme irgendwann wieder aneinanderstoßen. Politikwissenschaftler widersprechen jedoch. "Linke und Rechte machen beide auf der Straße gegen die Bundesregierung mobil, das war es dann aber auch schon wieder mit den wesentlichen Gemeinsamkeiten", stellt Uwe Jun, Politikwissenschaftler an der Universität in Trier im Gespräch mit dem stern klar. Und auch Torsten Oppelland, Politikwissenschaftler an der Universität in Jena, macht deutlich, dass die ideologischen Grundmuster beider Parteien zu verschieden sind.

Was die Sache aber knifflig macht: "In der Tagespolitik kommen diese Unterschiede kaum noch zum Tragen." Dafür reicht schon ein Blick auf die Demonstration in Leipzig. Auf Nachfrage des stern haben Linke und AfD ihre Positionen und ihre Kritik noch einmal verschriftlicht – mit zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen. Beide Parteien machen die aktuelle Bundesregierung, aber auch politische Entscheidungen vorheriger Regierungen, für die derzeitigen Preissteigerungen verantwortlich. Beide finden, dass die Preise für Kraftstoffe viel zu hoch sind und gesenkt werden müssen. Selbiges gilt für die Lebensmittelpreise. Das dritte Entlastungspaket halten beide Parteien für unzureichend. Zudem lehnen beide die Waffenlieferungen an die Ukraine entschieden ab – was für eine kritische Haltung gegenüber den USA und eine Putin-Freundlichkeit sprechen dürfte.

Zumindest deckt sich das mit den Erfahrungen von Politikwissenschaftler Oppelland. Er hat Redebeiträge und das Abstimmungsverhalten rechter und linker Abgeordneter im Europaparlament verglichen. Das Ergebnis: Beide Gruppen teilen ihre Ablehnung gegenüber den USA und ihre positive Haltung gegenüber Wladimir Putin. Das zeigt sich auch jetzt, wo die AfD die Russland-Sanktionen strikt ablehnt – ebenso wie ein Teil der Linken. Der gemäßigte Teil der Partei befürwortet allerdings "Sanktionen, die sich gegen Putins Machtapparat, gegen die Oligarchen und gegen die russische Kriegsindustrie richten", stellt Fraktionschefin Amira Mohamed Ali klar.

Wer wirklich für soziale Gerechtigkeit steht

Trotz der gemeinsamen Kritikpunkte und Montagsdemos könnten AfD und Linke derzeit keinesfalls, wie Rechts- und Linkspopuliste vor einiger Zeit in Italien, miteinander regieren, sagt Politikwissenschaftler Jun. "Dafür sind die Differenzen auf der kulturellen Konfliktlinie viel zu groß." Während die Linke  programmatisch eindeutig eine Identitätspolitik für gesellschaftliche Minderheitengruppen fordert und sich gegen jegliche Form der Ausgrenzung diesen gegenüber ausspricht, stößt gerade diese Sichtweise bei der AfD auf Ablehnung. Diese favorisiert wiederum Werte wie Nationalismus und traditionelle Lebensformen.  Unklar ist laut Jun zudem, wie sich die AfD zu sozialen Fragen positioniert. "Während der radikale Flügel mehr für den Wohlfahrtsstaat eintritt, tendiert der moderatere Teil eher zu Marktlösungen", erklärt Jun.

Soziale Gerechtigkeit ist bei den Rechten in Deutschland kein Hauptmotiv, sagen die Politikwissenschaftler. Ihnen geht es bei den Protesten darum, gegen die Politik der Bundesregierung zu mobilisieren und deutlich zu machen, dass sie damit nicht einverstanden sind", sagt Jun. Auch aus dem Parteiprogramm ließe sich nicht ablesen, dass soziale Gleichheit ein wesentliches Motiv der Partei ist. Anders bei den Linken: "Die begehren für soziale Gleichheit auf".

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Unterschiedliche Ansichten zur Lösung der Energiekrise

Dass es in einer Koalition von AfD und Linken gehörig knirschen würde, zeigen auch die Lösungen, mit denen die Parteien den aktuellen Problemen entgegentreten würden. Bekanntermaßen hält die AfD wenig von der Klimawende und würde stattdessen stillgelegte Atomkraftwerke reaktivieren, neue AKWs bauen lassen und die Gaspipeline Nord Stream 2 in Betrieb nehmen. "Eine vorausschauende Politik hätte nicht gegen jede energiepolitische Vernunft gleichzeitig den Ausstieg aus Kernkraft und Kohle vorangetrieben. Das ist weltweit einmalig und muss nun von den Bürgern und der Wirtschaft ausgebadet werden", kritisiert AfD-Co-Chefin Alice Weidel. Die Linke fordert dagegen von der Bundesregierung ein Programm, vergleichbar mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr, für den Ausbau erneuerbarer Energien.

Auch das dritte Entlastungspaket würden beide Parteien unterschiedlich schnüren. Weidel sieht darin nur eine "Symptombekämpfung", Einmalzahlungen bezeichnet sie als kostspielige Umverteilungsmaßnahmen, weitere Staatsausgaben würden die Inflation nicht stoppen. Die Linke fordert dagegen höhere Direktzahlungen, eine Übergewinnsteuer, einen Energiepreisdeckel sowie das Ende der Gasumlage.

"Es wird keine Verbrüderung geben"

Auch wenn die Linken nicht mit den Rechten flirten – das Angebot von den Freien Sachsen, gemeinsam zu demonstrieren, wurde abgelehnt – könnten die Demonstrationen neben den Rechten zum Problem für die Linken werden. Denn die Abgrenzung ist angesichts der gemeinsamen Kritikpunkte nicht ganz deutlich.

Dennoch: "Die Linke hat eine Reihe zentraler Dogmen, die ihr parteiideologisch heilig sind. Der Antifaschismus ist das höchste von allen. Eine Verbrüderung wird es deshalb nicht geben", sagt Oppelland. Und auch AfD-Chef Chrupalla macht deutlich, dass man sich nicht Demonstrationen von anderen Gruppierungen anschließen werde. "Wir haben es nicht nötig, dass wir mit den Linken oder mit den Freien Sachsen auf die Straße gehen." Damit werden Rechte und Linke wohl weiterhin nebeneinander auf dem Augustusplatz stehen – und getrennt für dieselbe Sache demonstrieren.