Seitdem Jörg Meuthen aufgefallen ist, dass er sechseinhalb Jahre lang der Vorsitzende einer sich zunehmend radikalisierenden Rechtspartei gewesen ist, ist kaum ein Tag vergangen, an dem er nicht harte Kritik an der, nun ja, sich zunehmend radikalisierenden Rechtspartei geübt hat.
"Ich sehe da ganz klar totalitäre Anklänge", sagte er am Freitag.
"Besonders erschütternd ist für mich (...) auch verbal artikulierte Verachtung für Andersdenkende", erklärte er am Samstag.
"Ich bin mit mehr Hass aus der Partei überzogen worden als von der Antifa", monierte er am Montag, er werde die AfD "definitiv nicht mehr wählen".
"Das Fremdschämen hatte ein Allzeithoch erreicht", ätzte er am Dienstag.
Doch Meuthens Stimme wird nicht verstummen, wie er versichert, er will nach seinem Rückzug von Partei und Vorsitz weiterhin EU-Abgeordneter bleiben. Und nun "etwas Neues" ins Werk setzen.
Er glaubt, eine "Lücke" im politischen Spektrum ausgemacht zu haben, die zwischen "einer nach links weggerutschten CDU und einer nach rechts weggerutschten AfD" klafft. Gründet Meuthen eine neue Partei, wirkt beim Aufbau einer solchen mit? Darauf festlegen wollte er sich nicht, aber: "Es wird etwas Neues kommen."
Keine weiteren Fragen, außer: Was soll das alles?

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Der Rückzug
Fragt man Tino Chrupalla, seinen bisherigen Co-Parteichef, hat Meuthen mit seinem Rückzug "die Spaltung der AfD beendet". Chrupalla werde die Partei jetzt "zusammenführen, zusammenhalten". Bis zum nächsten Bundesparteitag, der voraussichtlich im Mai über eine neue Spitze entscheidet, dürfte Chrupalla die Partei vorerst alleine führen.
Das sorgt offenbar für ersten Widerstand und Argwohn. Die Gräben zwischen den rivalisierenden Lagern in der AfD sind tief – und Meuthens vorzeitiger Abgang könnte die Lage eher ver- als entschärfen.
Sein Rückzug war keine Überraschung. Schon im Oktober kündigte Meuthen an, nicht mehr für den Vorsitz zu kandidieren. Es war von vornherein ein Rückzug auf Raten. Bemerkenswert ist daher, wie Meuthen diesen nun begründet.
Die (un)endliche Geschichte der AfD-Kandidaten für das Bundestagspräsidium

In der konstituierenden Sitzung am 24. Oktober 2017 stellt die AfD den heute 79-jährigen Juristen als Kandidat für das Bundestag zur Abstimmung. Er scheiterte in allen drei Wahlgängen. Er stand unter anderem in der Kritik, weil er den Islam nicht als Religion, sondern als Ideologie bezeichnete und ihm das Grundrecht auf Religionsfreiheit entziehen wollte.
Er sprach von einer Niederlage im Machtkampf mit dem formal aufgelösten rechtsextremen "Flügel" um die Ausrichtung der Partei. Der Volkswirt, der sich den Kampf gegen die Ultrarechten in den eigenen Reihen demonstrativ auf die Fahne geschrieben hatte, plädierte in den vergangenen zwei Jahren wiederholt für einen gemäßigteren Kurs.
"Sein Verständnis dieser Partei war, nur so weit nach rechts zu gehen, dass sie auch im Westen so viel Wahlerfolge erzielt, dass sie zu einem Bündnispartner zwischen rechts und ganz rechts werden kann", sagte der Politologe Hajo Funke.
So sehr Meuthen in seinen ersten Jahren die Rechtsextremen unterstützt und damit in die Mitte der Partei gerückt habe, so sehr sei er später zu der Überzeugung gelangt, dass die Partei einem "rechtsextremen Irrweg verfallen" sei.
Der Wirtschaftsprofessor aus Baden-Württemberg hatte lange die Nähe der radikalen Kräfte gesucht, den "Flügel" einst unterstützt, indem er etwa auf den Jahrestreffen als Redner auftrat. Bis er sich offen gegen ihn stellte.
Die Lager
Meuthen verwendete viel Ehrgeiz darauf, eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz abzuwehren. Im Frühjahr 2020 stufte das Bundesamt den AfD-"Flügel" als "gesichert rechtsextrem" ein. Meuthen plädierte für dessen Abspaltung. Und die Fronten zwischen den Parteilagern verhärteten sich.
Ende 2020 rechnete er auf einem Parteitag in Kalkar mit rechten Provokateuren ab; der Widerstand gegen ihn wuchs. Auf dem Dresdner Parteitag im April 2021 war dann der Rechtsruck schließlich nicht mehr zu übersehen.
Der Thüringer Landeschef Björn Höcke, der sonst lieber im Hintergrund kungelt, suchte das Rampenlicht und brachte den Saal hinter sich. Der Parteitag beschloss eine Corona-Resolution im Duktus der "Querdenker"-Bewegung und nahm die Forderung nach einem EU-Austritt Deutschlands ins Wahlprogramm auf – trotz eindringlicher Warnung Meuthens.
Damit war auch Meuthens Bedeutungsverlust nicht mehr zu übersehen. Vor allem in den ostdeutschen AfD-Landesverbänden und dem "Flügel"-Lager verlor er stark an Rückhalt. Zum Landtagswahlkampf in Sachsen-Anhalt 2021 wurde er schon nicht mehr eingeladen.
Seine Wunschkandidaten für die Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl konnte Meuthen nicht durchsetzen. Stattdessen wählten die AfD-Mitglieder Alice Weidel und Tino Chrupalla zum Spitzenduo, die dem "Flügel" als nahe gelten. Ein Sieg für den rechten Rand, eine Niederlage für Meuthen.
Das Eingeständnis
Den Machtkampf in der AfD hatte Jörg Meuthen also längst verloren. Eine scharfe Abrechnung zum Abschied wollte er sich nicht nehmen lassen.
Mit deutlichen Worten beschrieb er in seiner Abschiedsbotschaft den Kurs der Partei: "Sehr weit rechts" sei die AfD, Teile von ihr stünden "nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung".
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, zählte er gleich die dafür Verantwortlichen auf, obwohl sich die AfD auch unter seiner Führung radikalisierte: Co-Chef Tino Chrupalla, Fraktionschefin Weidel, den Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland sowie den rechten Scharfmacher Höcke und AfD-Parteivize Stephan Brandner. Sie alle hätten "lange dran gearbeitet", dass er endlich weg sei.
Meuthens Abrechnung ist damit auch ein Eingeständnis. Er räumt ein, dass der äußerst rechte Rand in der AfD mittlerweile den Ton angibt. Und er endgültig keinen Einfluss mehr hat.
"Die gemäßigten Kräfte in dieser Partei, die eine national-konservative Partei im Sinne hatten, werden zunehmend unbedeutender", sagte etwa der Politikwissenschaftler Ulricht Eith im MDR. Das Bild der Partei werde von Kräften bestimmt, die "sehr weit rechts" stünden.
Dieses Bild zeigte zuletzt die Nominierung von Max Otte als AfD-Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten, dem jüngsten Zerwürfnis im Lagerkampf. Co-Chef Chrupalla soll die Nominierung des CDU-Politikers, der Meuthen einst als "vom Lucke-Petry-Virus befallenen" Spalter bezeichnete, praktisch im Alleingang durchgedrückt haben. Gegen den Willen von Meuthen und weiteren Mitgliedern im Bundesvorstand. Kurz darauf folgte Meuthens Rückzug.
Wolfgang Schroeder sieht damit ein Problem auf die AfD zukommen. "Was mit Meuthen wegfällt, ist die Option, dass sich hier so etwas wie eine Koalitionspartei perspektivisch für die FDP, die CDU entwickeln könnte", sagte der Politikwissenschaftler im Deutschlandfunk.
Seine Qualität habe darin bestanden, "dass er wie kein Zweiter diese rechte Partei verharmlost hat und den Eindruck erweckte, als handle es sich hier um eine in der Mitte des Parlaments stehende Partei, die nur ein bisschen Ordnung herstellen will". Damit habe Meuthen die rechtsextreme Entwicklung "flankiert" und "verharmlost", sei eine Art "Schutzschild" für sie gewesen. Nun falle dieses Schutzschild weg. "Das bedeutet natürlich eine ultimative Einschränkung dieser Partei auf Protest." Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) rechnet mit einer weiteren Radikalisierung der Partei.
Die Zukunft
Mit Blick auf die vier Landtagswahlen im Westen Deutschlands, die in diesem Jahr anstehen, könnte die AfD daher mit Verlusten rechnen. Zwar hat das Ergebnis bei der Bundestagswahl bewiesen, dass die AfD durchaus eine unerschütterliche Kernwählerschaft hat – trotz anhaltender Querelen, Lagerkämpfen und Skandalen. Allerdings auch, dass die Attraktivität einer zerstrittenen Protestpartei und ihr Wachstum begrenzt sind.
Der Politologe Hajo Funke schlussfolgerte: "Unter dem Druck stagnierender Umfragen, dem Austritt Jörg Meuthens, ausufernder Parteispendenskandale und einer chaotischen und zuletzt radikalisierten Abwehr der Pandemie-Realität" stehe die AfD nun "in der schwersten Krise seit ihrer Gründung".
Und Jörg Meuthen?
Er mache sich zu einem "Kronzeugen gegen die eigenen Leute", kommentierte die "Süddeutsche Zeitung" mit Blick auf seine jüngsten Äußerungen. Voraussichtlich im März wird vor Gericht verhandelt, ob der Verfassungsschutz die gesamte Partei öffentlich als Verdachtsfall behandeln darf – und Meuthen bescheinigt nun Teilen von ihr, dass sie "nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung" stünden.
Die Behauptung, er würde die AfD mit seiner Kritik ans Messer liefern, weist Meuthen von sich. "Das sind diejenigen, die der AfD immer wieder mit radikalen Ausfällen schaden", sagte er der Zeitung. Und legte gegen Chrupalla nach, er würde es "bislang an jedweder glaubwürdigen Abgrenzung von den Radikalen mangeln" lassen.
Meuthens Ankündigung, "etwas Neues" ins Werk zu setzen, womöglich der Aufbau einer neuen politischen Partei, könnte daher auch der Versuch sein, die gemäßigteren AfD-Wähler mitzunehmen. "Die Beobachtung wird wohl kommen", warnte Meuthen. "Das wird absehbar einen spürbaren Exodus auslösen. Viele werden die Partei verlassen. Etwa Angehörige des öffentlichen Dienstes oder rechtschaffene Konservative, die sich dann zurückziehen."
Und Meuthen, der nach sechseinhalb Jahren angeblich den wahren Kern der AfD erkannt haben will, steht dann womöglich mit einer Alternative zur selbsternannten Alternative bereit.
Quellen: "Tagesschau", Facebook, "The Pioneer", "Cicero", "Süddeutsche Zeitung", Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), "Der Spiegel", MDR, ZDF, "Frankfurter Rundschau", Deutschlandfunk, mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP