1. Die Therapiesitzung war für den Moment erfolgreich
In Meseberg hat sich das Kabinett trotz der Streitigkeiten der letzten Wochen zusammengerissen und gearbeitet. Man habe mal wieder "gehämmert und geklopft", so beschreibt es Lindner. Zusammengezimmert hat die Ampel Beschlüsse zu drei großen Themen: Wirtschaft, Bürokratie, und Digitalisierung.
Nach der Verzögerung durch das Veto der Familienministerin hat das Kabinett heute das Wachstumschancengesetz verabschiedet. Es enthält unter anderem 50 Steuererleichterungen. Allerdings anders als noch vor ein paar Monaten geplant. Man habe "agil" auf die wirtschaftliche Lage reagiert, erklärte Lindner. So ist das jährliche Entlastungsvolumen auf gut 7 Milliarden Euro für den Zeitraum bis 2028 gewachsen – aufgestockt um fast eine halbe Milliarde. Auch sollen künftig nicht mehr 60, sondern 80 Prozent der Verluste von Unternehmen steuerlich absetzbar sein. Neu ist auch die Wiedereinführung einer degressiven Abschreibung für Wohngebäude – das soll den Neubau fördern.
Zum Bürokratieabbau hat das Kabinett in Meseberg Eckpunkte für ein Gesetz beschlossen, das noch im laufenden Jahr vorgelegt werden soll. Auch das soll der trägen Wirtschaft helfen: Durch die geplanten Maßnahmen könnten 2,3 Milliarden Euro im Jahr eingespart werden. Zur Digitalisierung habe man "zentrale Entscheidungen vorangebracht", sagte Scholz. Besonders im Gesundheitssystem wolle man vorankommen. Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollen E-Rezepte in Arztpraxen und die elektronische Patientenakte zum Standard werden.
Die Sommerpause war für sein Kabinett produktiv, betonte Scholz. Jetzt sei es an den Parlamenten. Die beschlossenen Gesetze müssen noch durch Bundestag und Bundesrat. Dort entscheidet sich, wie effektiv diese letztendlich werden. Die Therapiesitzung des Kabinetts in Meseberg aber war für den Moment erfolgreich: Man arbeitet – wenn auch nicht geräuschlos.
2. Die Regierung ist immer noch sehr männlich dominiert
Bei solchen Klausuren geht es immer auch um Bilder. Sie transportieren eine Stimmung, möglichst natürlich eine, die im Kontrast zu dem Ruf steht, der der Regierung vorauseilt: nämlich ein zerstrittener Haufen zu sein. Also wird viel gelacht, man zeigt sich gemeinsam draußen im Garten, und, klar, am Ende treten Olaf Scholz, Christian Lindner und Robert Habeck auf, um der Republik zu verstehen zu geben, dass der Teamgeist in der Ampel stimmt. Aber was immer wieder auffällt: Es sind vor allem die drei Männer, die das Bild der Ampel prägen, die kommunizieren, vorangehen.
Das ganze Machtzentrum der Regierung ist männlich dominiert. Mal ein kurzer Überblick: Zu Scholz, Lindner und Habeck gesellen sich Wolfgang Schmidt, der Kanzleramtschef, Steffen Hebestreit, der Regierungssprecher und Steffen Saebisch, Staatssekretär im Finanzministerium und oberster Helfer von Lindner. Natürlich kann auch unter Männern Politik funktionieren, aber das Übergewicht fällt auf, noch dazu in dem Kabinett eines Kanzlers, das ja eigentlich paritätisch sein sollte. Wobei: Auch davon hat Scholz sich ja verabschiedet, als er die glücklose Verteidigungsministerin Christine Lambrecht mit Boris Pistorius ersetzte.
Man kann von Lisa Paus‘ Manöver, direkt nach der Sommerpause, das Wachstumschancengesetz zu blockieren, halten, was man will. Aber interessant ist es schon. Wollte sie vielleicht einfach als Frau mal dazwischengrätschen? Fest steht jedenfalls, dass die gesamte Männerriege diesen Angriff nicht hatte kommen sehen. Womöglich auch, weil sie zu sehr glaubt, alles unter sich ausmachen zu können. Wahrscheinlich würde es der Regierung helfen, doch mal ein wenig paritätischer zu denken, auch was das Zentrum der Ampel angeht.
3. Die Klausur hatte eine große Lücke
Bei aller Harmonie, die die drei Regierungsjungs ausstrahlten, es gibt da etwas, das noch ein großes Problem werden könnte: das Geld. Besser gesagt: das fehlende Geld. Die Frage war schon bisher schwierig, weil die Engpässe im Haushalt dafür sorgten, dass manche Projekte – wie zum Beispiel die Kindergrundsicherung – eingedampft werden mussten. Und sie führten dazu, dass das vielleicht größte Thema bei der Klausur ausgeklammert wurde: die Frage, ob energieintensive Unternehmen nun mit subventioniertem Strom unterstützt werden sollen oder nicht.

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Man hätte eigentlich erwarten können, dass der Konflikt um den Industriestrompreis bei einem Treffen, von dem ein Impuls für die Wirtschaft ausgehen soll, endlich mal geklärt wird. Aber es ist halt nicht so einfach, es ist sogar ziemlich kompliziert. Weil das Projekt Milliarden kosten würde. Weil es haufenweise rechtliche Fragen aufwirft. Weil der Streit auch nicht entlang der üblichen Fronten verläuft. Er geht mitten durch die Regierung.
Die SPD ist – unterstützt von den großen Gewerkschaften – weitgehend dafür, die Grünen auch. Lindner bremst. Weil er kein Geld hat und überdies findet, dass man nicht schon wieder eine staatliche Subvention planen soll. Der Kanzler ist übrigens eher auf Lindners Seite. Der Streit hat das Potential, die Harmonie von Meseberg bald wieder vergessen zu machen. Denn ausgerechnet Scholz' Sozialdemokraten machen viel Druck. Das haben sie dem Kanzler in dieser Woche auf ihrer eigenen Klausur auch direkt gesagt. Da kommt gerade mächtig was ins Rollen.
4. Der Kanzler hat die Faxen dicke
Eine Sache wollte der Bundesregierung in der ersten Halbzeit der Legislatur so gar nicht gelingen: Erfolgsmeldungen gut zu kommunizieren – oder überhaupt zu kommunizieren. Auch in Meseberg betont Olaf Scholz mal wieder, dass er allmählich die Nase voll hat: Keine Regierung habe bisher in so kurzer Zeit so viel entschieden wie seine, sagt er, und trotzdem reden alle nur über Streit. Wie man das ändern kann?
Strategie Nummer eins wirft Robert Habeck in den Raum: Naja, eigentlich sei Streit doch allgemein eine Stärke: "Wir zeigen keine statische Geschlossenheit, sondern eine lernende Geschlossenheit.” Man lerne also voneinander. Lindner zaubert vor dem Meseberger Schloss eine alte Handwerkerweisheit aus dem Kasten: "Wir sind eine Regierung, in der gehämmert und geklopft wird, das hört man dann eben auch.” Motto: Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
Eine neue Netiquette wäre für das Kabinett schon wichtig, das zeigen die letzten drei Tage. Gerade haben sich Christian Lindner und Lisa Paus nach ihrer Schlacht um die Kindergrundsicherung wieder vertragen. Paus musste schlechte Presse einstecken, gerade einmal 2,4 Milliarden konnte sie für ihre Sozialreform erkämpfen. Einen Tag später verkündet Hubertus Heil eine Erhöhung der Bürgergeldregelsätze ab 2024 um 12 Prozent. Eine Wahnsinnsnachricht, aber ein seltsamer Zeitpunkt. Er tritt Paus auf die Füße und die Meldung geht unter in den vielen Analyse der Kindergrundsicherung, die alle da lauten: Die Ampel tut zu wenig für die Armen. Aua.
Ab jetzt soll das Kabinett mit Schalldämpfern ausgestattet werden, sagt Scholz in Meseberg. Damit die "vielen, wichtigen” Entscheidungen und Ergebnisse nicht untergehen, weil "zu laut” an ihnen gearbeitet wurde. Vielleicht muss er das Christian Lindner noch einmal genauer erklären, der schaltet nämlich auch in Meseberg bei der leisesten Provokation in den Angriffsmodus. Als ein Reporter fragt, wie der Kanzler zum Beispiel mit Einwänden der FDP-Fraktion zu Gesetzesinitiativen der Regierung umgehen werde, wirft Lindner ein: "Entschuldigung, mir kommt Ihre Frage etwas EINFARBIG vor."
5. Am Ende ist diese Regierung noch lange nicht
Bei all dem Durcheinander, den schlechten Umfragen und der Miesepetrigkeit mancher Minister hat man zuweilen den Eindruck: Das kann bald zu Ende gehen mit dieser Regierung. Was man manchmal vergisst: Es kann auch noch lange weitergehen mit ihr. Die Ampel startet jetzt in die Rückrunde, wenn man so will. Sie hat noch zwei Jahre bis zur nächsten Bundesregierung. "Mit den kompliziertesten Vorhaben sind wir jetzt wohl durch", hat Wolfgang Schmid, der Kanzleramtschef, dem stern gesagt. Soll heißen: Von nun an wird alles einfacher.
Das ist natürlich eine sehr wohlwollende Betrachtung. Der Konflikt um den Industriestrompreis findet in diesem Szenario nicht statt, auch keine unabsehbaren geopolitischen Entwicklungen oder ökonomischen Katastrophen. Aber was das Team um den Kanzler so zuversichtlich macht, ist folgendes Kalkül: In Wahlkämpfen sortiert sich alles neu. Die Opposition ist weit davon entfernt, einen organisierten Eindruck zu machen. Und wer dieser Tage über die Regierung schimpft, stellt sich kurz vor der Wahl womöglich die Frage, von wem er eigentlich lieber regiert werden will. Da wird Scholz mit seiner Erfahrung ziehen – davon ist man zumindest im Umfeld des Kanzlers fest überzeugt.
All das, was gerade wie eine Schwäche scheint, soll dann eine Stärke sein: Das Langatmige des Kanzlers könnte dann beruhigend wirken, die Unentschlossenheit wie Besonnenheit. Übrigens: Auch die FDP und die Grünen dürften ein Interesse daran haben, dass es von nun an etwas ruhiger läuft. Wer permanent schlecht gelaunt über die eigene Regierung spricht, ist unattraktiv. Die SPD hat das in der Großen Koalition jahrelang selbst erfahren. Scholz hat es seiner Partei als Kanzlerkandidat ausgetrieben.