Andrea Nahles stellt die Machtfrage in der SPD. Nicht obwohl, sondern gerade weil sie nichts von Personlaspekulationen halte.
Nach der Zäsur bei den Europawahlen wurde von Genossinnen und Genossen kolpotiert, wieder einmal, dass die Partei- und Fraktionschefin ihren Posten räumen müsse. Zuvor hielt sich hartnäckig das Gerücht – Nahles tat es als "Gemurmel" ab –, dass sie aus dem Amt gedrängt werden solle.
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Nahles will ihren Kritikern nun ein Schnippchen schlagen und die Flucht nach vorne wagen. Motto: Dann kommt doch. Sie wolle sich in der Bundestagsfraktion vorzeitig zur Neuwahl stellen, den Gremien eine vorgezogene Abstimmung in der kommenden Woche vorschlagen, sagte sie im ZDF. Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, als sie ihre Pläne skizzierte.
Ein Vorstoß mit Knalleffekt
Zumindest die Überraschung dürfte ihr geglückt sein. Noch am Montagmittag räumte sie das Thema ab: "Die Verantwortung, die ich habe, spüre ich, die will ich aber auch ausfüllen." Am Montagabend: "Personelle Debatten halte ich zwar jetzt für nicht sinnvoll, aber da diese Aufforderung an mich ergangen ist als Fraktionsvorsitzende, würde ich sagen: Dann schaffen wir Klarheit."
Also, alles klar soweit?
Natürlich nicht, das dürfte auch Nahles wissen. Wie keine Zweite dürfte die Parteivorsitzende mit den Problemen für die SPD durch die GroKo in Verbindung gebracht werden. Das fängt bei ihrem flammenden Plädoyer für das ungeliebte Bündnis an, das den Wind in der Partei womöglich drehte, und hört zunächst bei den historischen Wahlniederlagen in Bremen und Brüssel auf.
Sie weiß aber auch: Sie hat sich nach der katastrophalen Bundestagswahl nicht weggeduckt, Verantwortung übernommen und die Erneuerung der SPD eingeleitet. Dafür wird sie von vielen Genossen geschätzt, mitunter verteidigt.
Die Strategie von Andrea Nahles ...
Ihr Vorstoß, sich vorzeitig einer Neuwahl zu stellen, folgt daher einem Kalkül. Einerseits: Mögliche Gegner, die im Hintergrund an ihrem Stuhl sägen, müssen Farbe bekennen. Andererseits: Wer sich gegen Nahles stellt, muss glaubhaft aufzeigen, wie es besser geht.
Nahles ließ an ihrer Strategie keinen Zweifel. In der ARD führte sie aus, nach der Sitzung des Parteivorstandes sei sie mit einem Brief des Sprechers der Ruhrgebietsabgeordneten aus Nordrhein-Westfalen konfrontiert worden. "Und das ist ja nur die Fortsetzung von Gerüchten, von Spekulationen, von Zeitungsartikeln, die es jetzt in den letzten Wochen ja zuhauf gegeben hat." Sie halte es für besser, möglichst zügig für Klarheit zu sorgen. "Und deswegen habe ich angeboten, dass jemand – oder wer auch immer –, der dann meint, er hat einen anderen Weg anzubieten, dann auch aufsteht und kandidiert. Und dass wir das nächste Woche dann klären."
Am "Aufstehen" wird es bei vielen schon scheitern, auch darauf dürfte Nahles spekulieren. Zu unerfreulich sind die Aussichten auf das, was der SPD noch bevorsteht: Die schwierigen Landtagswahlen in Ostdeutschland, die richtungsweisende Halbzeitbilanz und überhaupt der fragile Frieden mit dem Koalitionspartner. Wollen Nahles' mögliche Gegner, die sich noch nicht bekannt haben, da wirklich aus der Deckung kommen?
... und das damit verbundene Risiko
Vielleicht, trotz allem. Als mögliche Kandidaten für eine Nachfolge von Nahles an der Spitze der Fraktion wurden seit Tagen Ex-SPD-Chef Martin Schulz, der Chef der NRW-Landesgruppe, Achim Post, und der Sprecher der Parlamentarischen Linken in der Fraktion, Matthias Miersch, gehandelt. Öffentlich erklärt hat sich bisher niemand.
Bisher. Sollte jemand Nahles herausfordern, könnte ihr Vorstoß auch nach hinten losgehen. Wenn sie die Machtfrage in der SPD verlieren würde, man könnte auch von einer Vertrauensfrage sprechen, wäre das womöglich auch der Anfang vom Ende ihres Parteivorsitzes. Würde sie mangels Alternativen als Fraktionsvorsitzende bestätigt werden, würde das auch nicht auf die von ihr erwünschte Autorität einzahlen.
Außerdem stellt sich eine zentrale Frage: Wie bewerten die Wählerinnen und Wähler; die Parteibasis den Schritt? Viele scheinen Nahles zwar satt zu haben, aber das Hin-und-Her bei SPD-Personaldebatten auch. Die Neuwahl der Fraktionsspitze mag die Diskussion zwar abräumen, zumindest vorerst. Aber entscheidend für ein Comeback der SPD dürfte der Fraktionsvorsitz nicht sein. Allein: Den meisten Wählerinnen und Wählern dürfte es egal sein, wer die 152 Bundestagsabgeordneten der SPD anführt.
Spielt Andrea Nahles Schach oder Poker? Sicher ist: Es ist ein riskantes Spiel mit hohem Einsatz.