Die SPD ist ein Stück nach links gerückt. Nun will sie die Union als "marktradikal" vorführen. Kann das gelingen?
Die Analyse ist falsch: Die CDU ist alles andere als "marktradikal". Angela Merkel ist mit den Beschlüssen des Reformparteitags von Leipzig gescheitert, die CDU hat - gemessen an den Erwartungen - bei der Bundestagswahl 2005 eine fürchterliche Niederlage erlebt. Seitdem ist eine Abkehr von dem zu beobachten, was man "neoliberal" nennen kann. Die Union entdeckt das "S" im Kürzel der CSU wieder.
Kann die Regierungsarbeit von dieser neuen Gemeinsamkeit auch profitieren?
Man hätte von dem Zusammengehen der beiden großen Volksparteien erwarten können, dass sie die Strukturprobleme in unseren Finanz- und Sozialsystemen lösen. Aber davon haben sich beide verabschiedet. Damit ist die Chance vertan, in der Bevölkerung eine Mentalitätsänderung zu erreichen, und diese Chance kommt so schnell nicht wieder. Die beiden Volksparteien haben sich untergehakt und machen Sozial- und Strukturpolitik nach Kassenlage. Das ist bestürzend. Bei der nächsten Konjunkturdelle stehen wir ohne Lösung unserer Strukturprobleme da.
Prof. Dr. Heinrich Oberreuter, 65
... lehrt Politikwissenschaft an der Universität Konstanz, er gilt als einer der besten Kenner der Union. Mehr zu seiner Person auf der Homepage seines Instituts: http://www.phil.uni-passau.de/
Gleichwohl: Die SPD wird versuchen, der CDU das Image der sozialen Kälte anzuhängen. Zum Beispiel bei den Themen Mindestlohn, Bahnprivatisierung, Agenda 2010 oder Hartz-IV. Welches Thema liefert den meisten Zündstoff?
Das Arbeitslosengeld I jedenfalls nicht. Die CDU ist in sich gespalten und hat der SPD schon vor dem Parteitag angeboten, auf sie zuzugehen. Ich könnte mir vorstellen, dass die Rente mit 67 ein Thema ist, bei dem die SPD versuchen wird, die CDU am Nasenring vorzuführen. Generell ist die SPD gut beraten, auf das Thema Soziale Gerechtigkeit zu setzen. Seit der Abwahl von Helmut Kohl ist klar, dass man damit die meisten Wählerstimmen mobilisieren kann - vor allem mit dem Argument, der Gegner vernachlässige dieselbe. Diese Strategie paart sich mit der unausrottbar der SPD zugeschriebenen Kompetenz, für soziale Sicherheit einzutreten.
Wo steht eigentlich die Kanzlerin bei all' diesen Debatten? Sie scheint überall zu sein, nur nicht im Kanzleramt.
Angela Merkel beschreitet seit ihrem Amtsantritt den roten Teppich der Außenpolitik. Damit hat sie für sich verbucht, was die Deutschen traditionell dem Außenminister gutschreiben. Nämlich die Kompetenz, sich in schwierigen Zeiten überparteilich für das Wohl der Nation einzusetzen. Sie hat zusätzlich den Bonus, die Politik mit einem gewissen Charme und einer gewissen Unverbindlichkeit zu verkaufen. Ihr Antrittsbesuch in der Innenpolitik steht aus. Oder steht an, je nach dem, wie man es formulieren will.
Ist sie nicht gerade jetzt innenpolitisch gefordert?
Ich fürchte, ihr Antrittsbesuch in der Innenpolitik fällt aus. Mit Ausnahme der sozialen Schlachtfelder - die man jedoch eindämmen wird - wird bis zur nächsten Bundestagswahl keine Innenpolitik mehr stattfinden. Einfach deswegen, weil wir nach der Jahreswende drei Landtagswahlen haben. Wenn diese vorbei sind, beginnt der Bundestagswahlkampf. Das heißt: Die Parteien werden versuchen, so wenig wie möglich konkrete Politik zu gestalten. Denn mit Entscheidungen machen sie sich angreifbar. Es ist einfacher, sich jetzt ein paar programmatische Sätze um die Ohren zu hauen.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Zumindest Jürgen Rüttgers, der selbsternannte Arbeiterführer aus Nordrhein-Westfalen, wird auf konkrete Politik drängen. Jetzt will er die Hartz-IV-Sätze erhöhen. Manövriert er seine Parteifreundin Merkel nicht in die Bredouille?
Sie kann im Moment sogar froh über Rüttgers sein. Er verschafft ihr die Möglichkeit, mit einem gewissen Anspruch auf Glaubwürdigkeit zu sagen: "Seht her, die SPD hat kein Monopol auf die soziale Kompetenz. Wir haben die gleichen Diskussionen schon vorher geführt. Und wir haben den Projekten nur deshalb nicht zum Durchbruch verholfen, weil wir nicht wussten, was die Sozis machen."
Rüttgers ist nicht der Einzige, der die CDU sozialdemokratisiert. Welchen Anteil hatte die CSU an diesem Prozess?
Das ist zwiespältig. Die CSU steht für Modernisierung. Aber sie ist innerhalb des Unionsverbundes auch die "SPD der CDU". Sie hat das Soziale, das Engagement für den kleinen Mann, immer sehr ernst genommen. Die breite Zustimmung in allen Volksschichten, selbst unter Gewerkschaftlern, hat die CSU daher, dass sie sich ein soziales Image gegeben hat - und das auch glaubwürdig vertritt.
Wie soll sich die CDU nun gegen die SPD abgrenzen? Welche strategischen Perspektiven bleiben für den Parteitag in Hannover?
Das ist eine 1000-Dollar-Frage. Ich vermute: Die CDU wird versuchen - was ihr nicht ganz gelingen wird, und das weiß sie auch - unter diesen sozialen Fragen hindurchzutauchen. Sie wird darauf vertrauen, dass die SPD-Kampagne im Wesentlichen gegen die Linkspartei gerichtet ist, deren Wähler für die Union sowieso unzugänglich sind, beziehungsweise ein Versuch ist, Stammwähler der SPD zurückzugewinnen, bei der Stange zu halten oder nicht in die Wahlabstinenz zu treiben. Man wird solche Analysen anstellen und sagen: Das ist alles nicht so schlimm. Weil man mit dem Ruf, eine Partei der Modernisierung zu sein, und der Popularität der Kanzlerin den Schaden abwenden kann. Und sie wird der SPD ein Stück weit folgen, weil sie sich dieses Image der sozialen Kälte nicht anhängen lassen will.
Wo bleibt das Konservative?
Ich würde mich wundern, wenn die CDU bis zur Bundestagswahl eine konservativ-liberale Strategie auflegen würde. Sie setzt keine große Hoffnung auf die Söders und Mappusse. Deren Papier über Konservativismus war zu undeutlich. Vielmehr wird es die Strategie sein, das Soziale neben das Wirtschaftsliberale zu stellen. Alles, was die CDU in letzter Zeit macht - inklusive der Familienpolitik einer Ursula von der Leyen - ist ein Versuch, Modernisierungsfelder zu besetzen.
Will heißen: Die CDU robbt sich an Wähler in der Mitte ran, die der SPD nun vielleicht verloren gehen?
Sie wird es versuchen. Aber weniger mit Sachaussagen als über Emotionalisierungs- und Personalisierungsstrategien. Wobei ich denke, dass sie sich es sich da womöglich ein bisschen zu leicht macht. Wer den SPD-Chef Kurt Beck ein bisschen kennt, muss seine Fähigkeit, auf Leute zuzugehen und sie für sich einzunehmen, hoch einschätzen. Vielleicht ist es ihm nur deshalb nicht gelungen, das auf Bundesebene auszuspielen, weil ihm die eigene Partei Schwierigkeiten gemacht hat. Becks Image als Pfälzer, seine Attraktivität für Menschen - da ist er Helmut Kohl ja nicht ganz unähnlich.
Personalisierungsstrategien statt Sachpolitik: Wie werden die Wähler darauf reagieren?
Ich kann mir vorstellen, dass das Kalkül nicht aufgeht. Die Menschen nehmen ja eine zunehmend distanzierte Haltung gegenüber der Politik ein. Das hat damit zu tun, dass sie das Gefühl haben, die Probleme, über die man Monate und Jahre debattiert hat, werden zerredet und nicht gelöst. Verfestigt sich dieser Eindruck, wird es auch der Union nicht gelingen, die Wahlabstinenz einzuschränken. Es könnte von heute aus gesehen so sein, dass es die beiden großen Parteien zu verantworten haben, dass die Wahlbeteiligung weiter zurückgeht.
Das würde die Parteien am Rand stärken.
Die kleinen Parteien haben mittlerweile einen Korridor von 30 Prozent, den sie vielleicht noch ausweiten können. Man sollte sich auch nicht auf das hohe Ross setzen und glauben, die NPD könnte nie die Fünf-Prozent-Hürde überspringen. Im Gefolge einer Politik, die Krisen nur beschreibt aber nicht löst, ist vieles denkbar. Stehen die Leute in vier Jahren vor den gleichen Problemen wie heute, weiß ich nicht, was passiert.
Wagen Sie eine Prognose für den Wahlausgang 2009?
SPD und Union müssen aufpassen, dass sie sich bis zur Bundestagswahl nicht so sehr bekriegen, dass sie nicht mehr gesprächsfähig sind. Die verbalen Auseinandersetzungen werden zunehmen, dazu eigenen sich diese symbolträchtigen Themen aus der Sozialpolitik vorzüglich. Aber man darf sich nicht die Köpfe einschlagen. Denn es ist keineswegs undenkbar, dass die Wähler 2009 die nächste große Koalition erzwingen.