2020 hatten sie eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Anderthalb Jahre später ist das Urteil gefallen. Das Bundesverfassungsgericht verpflichtet den Gesetzgeber, "unverzüglich" Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer sogenannten Triage zu treffen. Auf welche Weise der Bundestag regelt, dass diese Personen nicht benachteiligt werden, bleibt dem Gesetzgeber überlassen. Ärzte und Ärztinnen bräuchten aber rechtlich verbindliche Grundlagen für Entscheidungen, wen sie angesichts pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen retten sollen und wen nicht. (Az. 1 BvR 1541/20)
Die Entscheidung fiel auf eine breite Zustimmung. Patientenschützer, der Sozialverband VdK und Politiker begrüßten den veröffentlichten Beschluss des höchsten deutschen Gerichts. "Das hatte ich mir natürlich erhofft, aber nicht zu wünschen gewagt", sagte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, der Deutschen Presse-Agentur. Bislang habe er Entscheidungen zur Priorisierung im Gesundheitssystem immer wegdelegiert – etwa an Fachverbände. Jetzt könne sich der Bundestag nicht mehr drücken. Die nun zu treffenden Entscheidungen seien für die Abgeordneten sicher keine einfachen.
Eine der Klägerinnen, Nancy Poser, zeigte sich "erleichtert". "Freude kann man nicht sagen, denn es geht um Triage. Das ist ein Thema, da kann es keine Freude geben – egal nach welchen Kriterien entschieden wird, es ist immer tragisch", sagte die 42-Jährige aus Trier.
Wie der Schutz umgesetzt wird, ist noch unklar
Das Bundesverfassungsgericht erklärte, aus dem Grundgesetz ergebe sich eine Pflicht für den Gesetzgeber, das höchstrangige Rechtsgut Leben zu schützen. Diese habe er verletzt, weil er keine Vorkehrungen getroffen habe. Mit seiner Entscheidung vom 16. Dezember gab das Gericht neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen Recht, die Verfassungsbeschwerde eingereicht hatten. Sie befürchten, von Ärzten aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren. Der Erste Senat verwies dabei auch auf die Behindertenrechtskonvention.
Dass allein durch eine bestimmte Maßnahme dem Schutzgebot Genüge getan werden könnte, glauben die Verfassungsrichter auf Grundlage des Verfahrens nicht. Sie hatten zahlreiche Experten wie Behindertenverbände, den Ethikrat, die Bundesärztekammer und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) zurate gezogen.
Die Divi hat mit anderen Fachgesellschaften "Klinisch-ethische Empfehlungen" zur Triage erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger sehen die dort genannten Kriterien aber mit Sorge, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielen. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben.
Ähnlich argumentierte das Verfassungsgericht und sieht sogar die Gefahr, "dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können". Diese seien rechtlich auch nicht verbindlich und "kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht". Es müsse sichergestellt sein, "dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird".
Politik begrüßt Entscheidung der Richter
VdK-Präsidentin Verena Bentele erklärte: "Es kann und darf nicht sein, dass Medizinerinnen und Mediziner in einer so wichtigen Frage allein gelassen werden, dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage." Patientenschützer Brysch sagte, die nun nötige Diskussion brauche etwas Zeit. "Das ist ein äußerst komplexes Thema." Er erwarte aber binnen eines Jahres Ergebnisse. "Wir wissen ja nicht, wie die Lage im nächsten Herbst ist." Wichtig sei nun, dass die Fraktionen im Bundestag einen Fahrplan vorlegen. Auch die Bundesregierung sei gefordert, Vorschläge zu unterbreiten.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts begrüßt. "Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat", erklärte Lauterbach am Dienstag im Onlinedienst Twitter. Dies gelte "erst Recht im Falle einer Triage". Nach Informationen des "Spiegel" wertet das Bundesgesundheitsministerium den Beschluss des Gerichts derzeit aus. Eine Gesetzesvorlage solle "zeitnah" erarbeitet werden.
SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt erklärte, das Thema sei im vergangenen Jahr diskutiert worden, und der Beschluss könne nun schnell umgesetzt werden. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann schrieb auf Twitter: "Jetzt wird im Bundestag eine sorgfältige Prüfung & Erörterung nötig sein, wie dies gestaltet werden kann."
FDP-Vizechef und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki begrüßte den Beschluss ebenfalls. "Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist rechtlich nachvollziehbar, da nach der Wertentscheidung unseres Grundgesetzes Fragen von Leben und Tod durch den Gesetzgeber entschieden werden müssen und nicht durch private Übereinkunft", sagte er der "Rheinischen Post". Dass die Union, die den Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Legislaturperiode stellte, allerdings über anderthalb Jahre nicht tätig geworden sei, passe leider ins Bild einer lediglich auf Kurzfristigkeit ausgelegten Corona-Politik unter Kanzlerin Merkel, kritisierte Kubicki die frühere Regeirung.
Sein Parteikollege und Justizminister Marco Buschmann betonte jedoch: "Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt." Andernfalls bedürfe es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung böten. Ein Entwurfe werde zügig vorgelegt, so Buschmann.