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Deutschland in der Krise Vier Tore gegen die Angst

Stell dir vor, es ist Krise, und keiner geht hin. Schwacher Euro, flüchtende Politiker, gottlose Katholiken. Revolution? Woher. Es ist Fußball-WM.
Von Sophie Albers und Lutz Kinkel

Am Samstagmittag, 12 Uhr, ruft Mustafa Efe in Berlin die Revolution aus. "Proletarier aller Länder vereinigt Euch", brüllt der Gewerkschafter vor dem Roten Rathaus ins Mikrophon. Ein paar tausend Menschen, die meisten schon im Rentenalter, hören mäßig interessiert zu. Sie sind hier, um gegen das Sparpaket zu demonstrieren. Die Linke hatte zu der Demonstration aufgerufen, Verdi, Attac, Sozialbündnisse, die Liste ist lang. "Wir zahlen nicht für Eure Krise" heißt das Motto, es klingt kämpferisch. Vermutlich trifft es die Einstellung der meisten Menschen. Aber sie bleiben zu Hause. Hätten nicht einige Gewissenlose einen Sprengsatz in die Reihen der Polizei geworfen: Diese Demo wäre schnell vergessen.

32 Stunden später. Deutschland gegen Australien, Fußball-WM in Südafrika. Das ZDF vermeldet eine Sensationsquote: 27,91 Millionen Zuschauer. Millionen weitere Fans johlen und trinken beim Public Viewing, junge Frauen haben sich die Deutschlandfahne auf die Wange gepinselt, Männer tragen Nationaltrikots. Das ist eine machtvolle Demonstration. Ihr Motto heißt: "Wir interessieren uns nicht für Eure Krise." Hol' lieber noch ein Bier.

Deutschland im Krisenermattungszustand. In der Lethargie. Noch nie nach dem Zweiten Weltkrieg war die wirtschaftliche Lage so ernst. Noch nie die Politik so hilflos. Aber was nervt wirklich? Die Vuvuzela-Tröten.

Läbbe geht weiter

Es ist ja auch wahr: Die Züge fahren noch. Zu Hause kommt warmes Wasser aus dem Hahn. Die Regale in den Supermärkten sind proppenvoll. Es gibt sogar paradoxe Vorteile der Krise: Weil der Euro schwach ist, kann die exportierende Industrie ihre Waren billiger im Ausland verkaufen. Also steigt die Nachfrage. Also sinkt die Zahl der Arbeitslosen. Geht doch. Läbbe geht weiter. Cheeseburger: 1 Euro. Heute, morgen und übermorgen. Der Alltag suggeriert Sicherheit.

Vielleicht ist die Unsicherheit zu groß. In Staat und Gesellschaft brechen die Konstanten weg. Die Katholische Kirche ist vom Missbrauchsskandal bis ins Mark getroffen. Der Euro kann nur noch mit gigantischen Rettungspaketen am Leben erhalten werden. Der Bundespräsident wirft sein Amt weg wie eine zerschlissene Jeans. Eine Partei wie die FDP stürzt ins Bodenlose. Wer im öffentlichen Raum nach Halt sucht, findet ihn nicht. Es bleibt der Rückzug ins Private, das reizt selbst Politiker. Roland Koch, noch Ministerpräsident in Hessen, gibt alle Ämter auf. Der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" sagte er, er suche einen Job, der ihn emotional weniger belaste. Köhler litt auch. Sie sind dann mal weg.

Schuldenuhr als buddhistische Maschine

Vielleicht ist die Krise auch zu abstrakt. Deutschland hat 1,7 Billionen Euro Schulden. Das ist so unfassbar viel, dass die Schuldenuhr des Steuerzahlerbundes zur buddhistischen Maschine wird. Jede Sekunde kommen 4481 Euro neue Schulden dazu. Das ist nicht mehr bedrohlich, sondern einfach nur absurd. Hat noch jemand den Überblick, in welcher Höhe die Regierung zusätzlich Garantien, Ausfallbürgschaften und Kredite ausgegeben hat? Um Landesbanken zu sanieren, den Euro zu stabilisieren, die Wirtschaft anzukurbeln, Griechenland zu retten und Gottweißwas zu tun? Nein. Deutschland ist wie ein Atomkraftwerk. Es läuft und läuft und läuft, der radioaktive Abfall wird irgendwo verscharrt, und die Angst vor dem GAU ist so unkonkret, dass sie sich verflüchtigt. Es ist das, was der Soziologe Ulrich Beck mit dem Begriff "Risikogesellschaft" umschrieben hat.

Deutschlands Helden heißen nicht Angela Merkel, Guido Westerwelle, Wolfgang Schäuble oder Sigmar Gabriel. Es gibt ein tief sitzendes Misstrauen gegen Politiker jedweder Couleur, gegen ihre Machtspielchen, ihren Egoismus, ihre Eitelkeit. Diese Kritik spiegelt sich in jenen Helden, die die Menschen selber küren: Philipp Lahm, Lena Meyer-Landrut, Joachim Gauck, Margot Käßmann. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie keine Abkömmlinge der politischen Klasse sind. Sie verströmen das, was die Bürger dort so vermissen: Ehrlichkeit, Charakter, Glaubwürdigkeit. In Lena, das Superküken des Eurovision Songcontest, hat sich die halbe Welt verknallt. Auch hier war die Quote eine Demonstration: In der Spitze schalteten 20,45 Millionen Zuschauer ein. Lenas "Satellite" - das ist einer der lebens- und liebenswerte Orte. Nicht der Bundestag.

Schuld sind die anderen

Die Krise der Politik, der Verfall ihrer Autorität, zeigt sich am deutlichsten bei der FDP. Vor acht Monaten erzielte sie bei der Bundestagswahl 14,7 Prozent. Inzwischen liegt sie in den Umfragen bei 6 Prozent. Guido Westerwelle, als Außenminister eigentlich auf Sympathie abonniert, ist der unbeliebteste Politiker Deutschlands. Diejenigen, die ihn damals gewählt haben, sind inzwischen übergelaufen. Nicht zu anderen Parteien, sondern ins Lager der Unentschlossenen. Es ist, das belegt auch die sinkende Beteiligung bei Wahlen, als würden die Menschen den Parteien den Rücken zudrehen. Der Dauerstreit in der Regierung und deren Ratlosigkeit verstärken nach Beobachtung des Forsa-Chefs Manfred Güllner das Gefühl, die Erde würde sich schon weiterdrehen, die Politik sei eigentlich überflüssig. "Das ist das Schlimmste, was der Politik passieren kann", sagt Güllner.

Schuld sind immer die anderen, und manchmal stimmt das sogar. Denn die nationale Ratlosigkeit ist auch ein Ausdruck der Globalisierung: Wer beispielsweise den Euro retten will, muss sich mit einer Vielzahl supranationaler Gruppen und Institutionen auseinandersetzen, von der Europäischen Union bis hin zu angelsächsischen Spekulanten. Jeder hat seine eigenen Interessen, schnelle Lösungen sind nicht zu erwarten. Und gibt es eine, verdreht sich der beabsichtigte Effekt womöglich ins Gegenteil. Kaum unterwarf sich Spanien einer strengeren Haushaltsdisziplin, um der Schuldenfalle zu entrinnen, kassierte es schlechtere Ratings der Agenturen. Das Sparen könnte ja die Konjunktur beschädigen.

Existenzangst in allen Etagen

Ein Tor ist ein Tor. Die Nationalelf hat im Eröffnungsspiel gleich vier geschossen. Bei der WM, beim Eurovisions-Contest, selbst bei der Bundespräsidentenwahl schnurrt die Welt auf ein überschaubares Maß zusammen: Helden und Schurken sind leicht auszumachen, der Prozess ist zeitlich begrenzt, das Ergebnis in Stein gemeißelt. Wunderbar. Würden höhere Steuern, wie die FDP befürchtet, das ökonomische Wachstum dämpfen? Wer weiß das schon. Die Wirtschaftskrise hat auch die Autorität der Wirtschaftsexperten weggespült. Kloppo weiß, was Sache ist. Jean-Claude Trichet vielleicht nicht.

Das Fassbare gewinnt im Unfasslichen Gewicht. Morgens, halb neun in Deutschland. Menschen eilen in ihren Alltag, zur Arbeit, zum Einkaufen. Doch auf der Treppe zur S-Bahn Friedrichstraße verlangsamt sich der Strom, in den Augen spiegelt sich Unsicherheit: Eine Frau sitzt zusammengesunken auf den Stufen und weint. Vielleicht ist sie betrunken, vielleicht obdachlos. Auf jeden Fall ist sie das, was wir uns "Unterschicht" zu nennen angewöhnt haben.

Scheiß auf die Vuvuzela

Die Polizisten, die in der Nähe stehen, tun nichts. Zwei Männer, offenbar auch Obdachlose, greifen der schluchzenden Frau unter die Arme und ziehen sie aus dem Blickfeld. Der Strom könnte nun weiter fließen, aber die Menschen lösen sich nur schwer aus der Starre. Der Blick bleibt länger hängen an denen, die gescheitert sind. Deren Schicksal könnte bald das eigene werden. Die Existenzangst kriecht hoch, sie hat sich selbst in den oberen Stockwerken breit gemacht, in der Politik. Eine Gesellschaft verliert ihre Selbstsicherheit.

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Scheiß auf die Vuvuzelas.

Wir sind dann auch mal weg.

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