Dieser eine Moment. Jetzt gilt es. Jetzt sag alles, denn was du jetzt nicht sagst, das gilt nicht. Jetzt kannst du sagen, warum du hier bist, junger Mann vom Volk der Awaren aus einem Bergdorf irgendwo in Dagestan. Warum bist du hier, in diesem schmucklosen Zimmer bei Frau Dölz in Spandau, am ausgefransten Rand von Berlin?
Warum hast du alle zurückgelassen, deine Verwandten, deine Freunde, deine Heimat, warum hast du alles verkauft, sogar die Wohnung deiner Mutter, die wegen dir in ein zerfallenes Haus ziehen musste, dein Taxi, und alles Geld dem Schlepper gegeben, damit er dich wegbringt, bloß weg.
Und stimmt das überhaupt, Ramazan vom Volk der Awaren? Du bist kein Weltenbummler, das sieht man dir doch an und auch kein Mann der großen und erst recht keiner der vielen Worte, so, wie du jetzt den Blick senkst, und das schwarzglänzende Haar dir über die Augen fällt, und du leise nur ein Wort sagst. Aber jetzt musst du reden, Ramazan. Was um Himmels willen hat dich veranlasst, dich auf die Reise zu begeben?
Frau Dölz hat eine rote Brille, eine türkise Hose, freundliche braune Augen und Frau Dölz hat Geduld. Was trinken vielleicht? Ramazan vom Volk der Awaren braucht ein bisschen Zeit und Frau Dölz gibt sie ihm. Er ist der dritte, den sie anhört an diesem Tag, und der drei- oder vielleicht vier- oder fünftausendste in ihrem Leben, der vor ihr sitzt auf dem Stuhl und ihr erzählt, wie er geschlagen wurden, getreten, vergewaltigt, gewürgt, wie die Kugeln flogen, die Kinder schrien, wie das Blut spritzte, die Bomben krachten, ins Haus oder ins Leben. Frau Dölz ist 48 Jahre alt, und seit 24 Jahren Entscheiderin in der Berliner Außenstelle des "Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge". Frau Dölz, die ihr Amt "Bamf" nennt, ist die erste, die sich nach oft jahrelanger Flucht die ganze Geschichte anhört. Und oft auch die einzige, denn die meisten von denen, die in den 24 Jahren vor ihr auf dem Stuhl saßen, hat sie abgelehnt. Frau Dölz hat zwei Kinder, Deutschland im Rücken und die Welt im Blick, aber nur zweidimensional, als Landkarte. Frau Dölz mag Blumenbilder und Tee und an den langen Nachmittagen voller Angst und Tränen und Hoffnungen manchmal einen Espresso. Und Frau Dölz mag Ordnung, auf dem Schreibtisch, im Kopf, in der Welt.
Ramazan vom Volk der Awaren ist früh aufgebrochen an diesem Morgen, mit der U-Bahn, dann mit dem Bus, raus aus der Stadt, vorbei an den immergleichen Ansammlungen von Teppichmärkten, Baumärkten, Supermärkten, die wie ein Echo jeder Großstadt hinterherhallen. Es ist noch dunkel, als er losfährt, es dämmert, als er ankommt und in den morgenroten Himmel steigen donnernd die Flugzeuge vom nahegelegenen Flughafen Tegel in die ganze chaotische Welt. Um acht ist er da, denn um acht beginnt der Bamf-Tag. Die Behörde vergibt Termine nur mit Datum, ohne Uhrzeit. Wann ein Bamf-Tag endet, kann man nie wissen. Vielleicht um elf, vielleicht um drei, vielleicht abends um acht. Aber die Flüchtlinge hier stören sich nicht besonders daran, sie sind alles Leute, die schon lange nicht mehr wissen, wann irgendetwas endet und wie. Ramazan hat ein Jahr und drei Monate auf diesen Termin gewartet, da machen die paar Stunden, die er jetzt hier rumsitzt, auch nichts mehr.
Der Warteraum ist klein, es gibt viel zu wenig Sitzplätze, die Leute kauern auf dem Boden, lehnen an den Wänden und einer schläft zwischen Toilette und Glastür im Stehen, denn auch die Flure sind eng und heiß und laut und voller Kinder. Mittlerweile hat man Wartecontainer auf den Hof gestellt, denn der Winter wird kommen und mit ihm der Regen und der Schnee und die Kälte. Aber die Leute gehen da nicht rein, denn sie haben Angst, dass sie in den Containern vielleicht nicht mitkriegen, wenn ihr Name aufgerufen wird und dass dann alles umsonst war, die ganze Warterei und die Aufregung und die Flucht vielleicht auch. Manche haben auch Angst vor Containern, je nachdem wie sie hergekommen sind und wie viele sie in Containern haben sterben sehen. Es gibt einen Süssigkeitenautomaten, der die Eltern in den Wahnsinn treibt, es gibt einen Kaffeeautomaten, der aus Pulver und Wasser auch Tomatensuppe machen kann, und sonst nichts zu essen, außer beim "Autogrill", ein paar Minuten entfernt, aber der hat nur Schweinefleisch. Der erste Eindruck entscheidet ja, ob man jemanden mag oder vertraut oder sogar lieben lernt, sagt die Wissenschaft und man kann leider nicht sagen, dass Deutschland einen besonders guten ersten Eindruck macht.
Ramazan holt tief Luft. Wo soll er jetzt anfangen? In den Bergen von Dagestan? Bei seinem Vater, der die Mutter verlassen hat. Bei seiner Frau? Oder doch bei dem Cousin seiner Frau, der bei der Kriminalpolizei in der Kreisstadt was zu sagen hat? Er war es, der ihn verhaftet hat, und eingesperrt und zusammengeschlagen, sogar die Kleider haben sie ihm zerrissen, nur weil...
Wie heißt denn der Cousin ihrer Frau, fragt Frau Dölz. Antwort: Schamil. Wie weiter? Weiß er nicht. Hm, sagt Frau Dölz und macht eine Pause. Und was wollte der von Ihnen? Frau Dölz fragt viel, der Dolmetscher dolmetscht viel, und Ramazan spricht wenig, sehr leise, aber er hat eine Antwort auf alles. Die Geschichte mit ihm und seiner Frau und dem Cousin ist so verworren und so widersprüchlich und so unlogisch, wie das Leben nunmal ist, und sie hat, ganz am Rande, auch mit Politik zu tun. Mit Wahabiten, die radikale Islamisten sind und in Ramazans Dorf die Mehrheit, weswegen der Cousin der Frau nicht wollte, dass die Frau und Ramazan zusammenleben, weswegen er Ramazan verfolgte, und laufen ließ und dann wieder suchen ließ und verfolgte, und Ramazan dann nach Moskau ging und von dort nach Berlin. Sagt Ramazan.
Wie sind Sie denn nach Berlin gekommen, fragt Frau Dölz. Ein Mann hat ihn gefahren, sagt Ramazan, gegen Geld, deswegen mussten sie ja die Wohnung verkaufen. Aber das ist es nicht, was Frau Dölz wissen will. Frau Dölz will wissen, durch welche Länder Ramazan gereist ist, und das hat einen Grund. Wenn Ramazan nämlich durch einen sicheren Drittstaat gekommen ist, und das zugibt, und das sichere Drittland das auch glaubt und Deutschland es hinkriegen würde, das binnen sechs Monaten zu klären - dann wäre Deutschland fein raus. Dann wäre Deutschland nämlich nicht zuständig, und könnte Ramazan vom Volk der Awaren einfach zurückschicken wie ein verlorengegangenes Postpaket, und zwar in das Land, in dem er das erste Mal sicheren Boden betreten hat. Und bei einem Blick auf die Weltkarte an Frau Dölzs Wand wird klar, dass Ramazan, wenn er nicht mit dem FlieWaTüt angereist ist, durch einen sicheren Drittstaat gekommen sein MUSS und deswegen auf jeden Fall ein anderes Land zuständig ist für ihn, und die ganze komplizierte Geschichte mit seiner Frau und deren Cousin und den Wahabiten in seinem Dorf.
Theoretisch jedenfalls.
Am Anfang stehen meist Lügen
Theoretisch hatte man das nämlich fein vereinbart, im sogenannten Dublin-Abkommen, von dem im Asylverfahren öfter die Rede ist als von Asyl. Zuständig für einen Flüchtling, der die EU betritt, (oder auch beschwimmt oder befliegt,) soll immer das Land sein, in das der Flüchtling zuerst eingereist ist. Zuständig für sein Verfahren, seine Unterbringung, sein Essen, seine Gesundheit, seine Integration, zuständig für alles also, was die Aufnahme von Flüchtlingen schwierig macht. Zufälligerweise gehört Deutschland in den seltensten Fällen dazu, weil im Prinzip nur Antragsteller hierbleiben dürften, die mit dem Flugzeug oder über Nord- und Ostsee eingereist sind. Und deswegen sprechen nicht wenige bei Dublin auch nicht von Vereinbarung oder Vertrag, sondern von einer Unverschämtheit, mittels derer die reichen Länder Europas die ärmeren Länder an den Rändern und die Neu-Mitglieder an den EU-Außengrenzen über den Tisch gezogen haben.
Praktisch ist es allerdings so, dass "Dublin" sowieso nicht funktioniert. Weil Länder wie Bulgarien, Griechenland, Polen oder Italien weder willens noch in der Lage sind, den Ansturm der Flüchtlinge zu bewältigen. Manche Flüchtlinge tun alles, um eine Registrierung, einen Asylantrag oder die Abnahme von Fingerabdrücken in diesen Ländern zu vermeiden. Wenn das nicht gelingt, schmeissen sie ihre Pässe weg, verätzen sich die Fingerkuppen, und entfernen Bustickets und Bonbonpapiere aus allen Taschen und Ritzen, damit keiner ihnen nachweisen kann, wo genau sie die EU-Grenzen überschritten haben. Und die Grenzländer reissen sich offenbar nicht gerade ein Bein aus, um Flüchtlinge an der Weiterreise zu hindern. Manchmal werden Schengen-Visa verteilt, manchmal sogar Zugtickts, und manchmal einfach alles zugedrückt was geht: Augen, Ohren, Menschenverstand. In Deutschland stoppen dazu immer wieder Gerichte die eigentlich vorgesehene Rücküberstellung schon registrierter, aber trotzdem weitergereister Flüchtlinge wegen unwürdiger Lebensbedingungen oder unfairer Verfahren in den sogenannten sicheren Drittstaaten. Und wenn es doch mal gehen würde, dann ist oft die Frist von sechs Monaten abgelaufen, innerhalb derer eine Rücküberstellung möglich ist. Oder die Leute sind untergetaucht. Deswegen ist die "Fiktion eines gemeinsamen europäischen Rechtsraum" wie es so schön im Juristendeutsch der Dublin-Verträge heisst, tatsächlich nur ein Märchen aus tausendundeiner europäischen Nacht.
Das erste, was Frau Dölz in ihren Anhörungen also meistens hört, sind Lügen. Oder zumindest das Verschweigen der Wahrheit über den Reiseweg. Was ungünstig ist in so einer Anhörung, weil es ja um Glaubwürdigkeit geht, aber so ist nunmal das Spiel.
Ramazan jedenfalls hat keine Ahnung, durch welche Länder Europas er gereist ist, er war ja noch nie in Europa. Bei Nacht und Nebel war es, auf der Rückbank eines PKWs, manchmal stieg der Schlepper aus, regelte irgendwas, und dann war Ramazan in Berlin. Frau Dölz fragt nicht weiter nach, sie ist lange genug dabei um zu wissen: das hat eh keinen Sinn. Lieber fragt sie nach dem davor.
Dass Ramazan schon mit sechzehn angefangen hat, als Taxifahrer zu arbeiten, will Frau Dölz erst nicht glauben, aber sogar der Dolmetscher bestätigt, dass das völlig normal sei. Dort wo Ramazan zuhause sei, würden auch Zwölfjährige als Taxifahrer arbeiten, einen Führerschein bräuchte man nicht unbedingt, die meisten hätten keinen, wichtiger sei, dass man jemanden bei der Polizei kennt, der die Sache im Zweifel regelt. Frau Dölz nickt. Aha. Na gut. Sie fragt, ob Ramazan bei der Armee war. War er nicht. Ramazan sagt, er wurde ausgemustert, wegen seiner Plattfüße. Frau Dölz sieht jetzt aus, als ob sie absolut nicht wüsste, ob sie lachen oder nach Luft schnappen soll. Plattfüße! Denkt man sich sowas aus, wenn man Asyl erlügen will? Ramazan guckt ernst, und schüchtern und verzweifelt. Zum Glück weint er nicht, wie in der Anhörung davor das schmale alte Männlein mit der Trainingsjacke, auf der "Gartenpflege Özgural" stand.
Das war so eine von diesen Anhörungen, wo die Anträge zu 99,8 Prozent als "offensichtlich unbegründet" abgelehnt werden, und die Aussprachen schon nach wenigen Minuten beendet sein müssten. Sind sie aber nicht. Weil wahrscheinlich niemand so herzlos sein kann, einem weinenden alten Mann das Wort mitten im Satz abzuschneiden, Asyl hin, Dienstanweisung her. Und weil, sagt Frau Dölz, ja trotzdem immer etwas kommen kann, was beispielsweise eine Rückreise verhindert, eine Krankheit zum Beispiel, eine Schwangerschaft, eine Traumatisierung.
Herr Osmanovic kam mit dem Bus aus Bosnien, das als sicheres Herkunftsland eingestuft ist, und brach in Tränen aus, weil er statt seine Personalien anzugeben erstmal von seiner Frau erzählen wollte, die im Krankenhaus liegt in Bosnien, und wenn Sie das nicht glauben, schluchzte Herr Osmanovic, dann rufen Sie im Krankenhaus an, im Krankenhaus von Doboj oberhalb der Kirche, nicht in dem anderen, da liegt sie nämlich nicht. Herr Osmanovic nennt seine Frau "Mutti", weil sie schon so alt ist und hatte die Gartenpflege-Jacke im Asylheim geschenkt bekommen. Herr Osmanovic hat in seinem Leben nur kurz die Schule besucht, zwei Monate oder zwei Jahre, so genau war das nicht rauszukriegen, und die Überschwemmungen im Sommer haben ihnen alles genommen, und überhaupt sei das Bosnien von heute nicht mehr sein Bosnien, wie es früher einmal war, als es noch Jugoslawien gab, und Herr Osmanovic einen Job hatte bei der Stadtverwaltung von Doboj. Und dann weinte er wieder.
Frau Dölz hat ihm dann noch ein Türchen aufgemacht, durch das Herr Osmanovic aber nicht gegangen ist, obwohl er gesagt hat, seine Landsleute im Heim, die hätten ihm genau gesagt, wie es läuft und worauf es ankommt, denn er selber kann ja leider nicht lesen. Frau Dölz hat gefragt: Hatten Sie jemals Ärger mit der Polizei oder Behörden?
Wenn Herr Osmanovic einen Publikumsjoker gehabt hätte, hätte das Publikum geschrien: sag jetzt das nicht, was du da sagen willst, die Antwort ist FALSCH. Aber Herr Osmanovic hatte natürlich keinen Publikumsjoker und deswegen sagte er, ehrlich und stolz: Nikat, nikat, nein, niemals, da können Sie jeden fragen, ich bin ein Ehrenmann.
Und das ist er wahrscheinlich wirklich, ein sehr armer, magerer, mutiger alter Ehrenmann, der trotz fortgeschrittenen Alters alles riskiert hat und in einen Bus gestiegen ist, um in ein besseres Leben zu fahren. Woher soll er wissen, dass es in diesem Fall gut gewesen wäre, Ärger mit der Polizei und den Behörden gehabt zu haben und woher soll er wissen, dass es ehrenwerter und erfolgversprechender ist, vor politischer Verfolgung zu fliehen als vor Hunger, Armut und Verzweiflung. Die Sache war gelaufen, und dass Frau Dölz noch ein paar Fragen gestellt hat, hatte mit Höflichkeit zu tun und vielleicht mit Mitleid.
Den Schrecken lässt Frau Dölz im Amt
Frau Dölz ist eine freundliche Entscheiderin, trotz oder wegen der vielen Jahre, die sie schon das Elend der Welt sortiert. Wenn man sie so den ganzen Tag beobachtet, dann wünscht man sich, dass, wenn man selbst mal weg muss in ein fernes fremdes sonderbares Land, dass dort auf der anderen Seite eines Schreibtisches jemand sitzt wie Frau Dölz. Es ist aber unrealistisch zu hoffen, dass alle Entscheider sind wie sie.
Frau Dölz hat eine Menge erfahren über fremde Länder und fremde Sitten in den letzten zwei Jahrzehnten und das hat ihre Reiselust nicht gerade gesteigert. Sie war zwar schon mehrmals in der Türkei, auch in Amerika und in Island, aber noch nie in Russland oder angrenzenden Ländern, im Irak, Iran oder einem der anderen Herkunftsländer, die sie überwiegend bearbeitet. Frau Dölz sagt, sie kriegt das ganz gut hin, all diese schrecklichen Geschichten da zu lassen, wo sie hingehören, nämlich im Amt, und sie nicht mit nach Hause zu nehmen, auch nicht im Kopf, auch nicht im Herzen. Sie stellt sich dann immer vor das Ganze ist ein Film und der ist dann eben irgendwann aus und dann geht man raus aus dem Kino und zurück in die wirkliche Welt.

Mittags macht sie sich was Übriggebliebenes von zuhause warm oder isst belegte Brote an ihrem Schreibtisch, während die blauen Akten mit Dokumenten, Pässen, Papieren, Scheinen und Bestätigungen aus aller Welt sich zu ihrer Linken auftürmen. Sie hat zwei Kinder, die große Tochter steckt im Abitur. Ihr Mann ist auch Beamter, bei der Polizei.
Sie kommt mit dem Auto aus dem Nachbarstadtteil, sie hat es nicht weit. An manchen Tagen hat sie gar keine Anhörungen. Dann setzt sie sich hin, liest alte Protokolle und entscheidet, ja, nein, ja, nein, nein, nein, nein, von früh bis spät. Ablehnungen dauern länger als Anerkennungen, denn Ablehnungen muss man begründen. Meistens ist ohnehin klar, wie sie entscheiden wird, denn ein Großteil der Entscheidungen ist vorgegeben, in Dienstanweisungen. Die aber sind geheim. Warum? Da gibt es viele gewundene Worte von Frau Dölz Vorgesetzten. Dass sich ja alles immer so schnell ändert und dass manche Quellen geheim sind, und dass das diplomatische Verwicklungen bergen kann, aber der Hauptgrund ist sicher ganz schlicht: man möchte nicht, dass jeder weiß, mit welchen Gechichten man durchkommt.
Auch wenn sich vieles natürlich sowieso rumspricht. Dass Syrer im Moment fast durchweg anerkannt werden ist kein Geheimnis. Dass Homosexualität im Iran verfolgt wird, auch nicht. Und dass Christen im Irak verfolgt werden, sieht man jeden Tag in den Abendnachrichten.
Deswegen war die Sache von Fadi M. aus dem Irak, der heute früh bei Frau Dölz als erster dran war, auch eine bloße Formsache. Fadi M. war eine Art Musterflüchtling, den man sich besser kaum hätte ausdenken können. Ein gebildeter junger Mann, Doktor der Pharmazie, der englisch, arabisch, aramäisch und italienisch spricht und mittlerweile auch fast fließend deutsch. Der seit einem Jahr hier ist, sich schon einen Job besorgt hat im Vivantes-Klinikum, den er antreten wird, sobald er seine Anerkennung hat. Und dass er die bekommen wird, daran hat er keinen Zweifel und auch sonst niemand. Er hat drei Schwestern und eine Mutter, die nach Erbil geflohen sind, als der IS Mossul eingenommen hat, denn er ist Christ und war sogar kardäisch-katholischer Diakon.
Er hatte alle möglichen Dokumente, die er vorlegen konnte, Studienbescheinigungen, Staatsangehörigkeitsnachweise, Zeugnisse, er hatte den Grundbrief seines Hauses in Mossul und sogar seine Taufurkunde. Fast ein bisschen viel Papier, gemessen an dem, was Kriegsflüchtlinge sonst so retten können. Manche Leute sind einfach gut sortiert. Ob die Dokumente echt sind kann Frau Dölz nicht wissen, soviel kardäisch-katholische Taufurkunden aus dem Irak hat sie noch nicht gesehen in ihrem Leben. Aber was soll's, Frau Dölz sagte ihm, dass sie ihn anerkennen wird, so bald die Tinte auf dem Protokoll trocken ist. Und hinterher erklärte sie, Christen aus dem Irak werden derzeit prinzipiell anerkannt, da bräuchte sie gar nicht lange nachbohren, auch wenn die Frage, die sonst immer kommt, nach der "innerstaatlichen Fluchtalternative", diesmal nur im Raum schwebte, aber nicht gestellt wurde.
Infografik: Flüchtlingsrouten nach Europa
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Fadirs Schwestern und seine Mutter leben nämlich in Erbil und das anscheinend halbwegs in Sicherheit, auch wenn sie ihr Haus und Hab und Gut verloren haben, und in einem anderen Fall hätte Frau Dölz wahrscheinlich gefragt, warum Fadi dann nicht auch in Erbil wohnen kann. In diesem Fall nicht. Fadir M. wird anerkannt, und Fadir M. ist auf jeden Fall einer, den Deutschland gebrauchen kann.
Frau Dölz legt auch im wirklichen Leben Wert auf konsistenten detailreichen Sachvortrag. Frau Dölz sollte man lieber nicht anschwindeln, sie kriegt es mit, auch wenn sie es vielleicht nicht immer sagt. "Berufskrankheit" sagt sie und lacht: "Meine armen Kinder".
Und was wird nun mit Ramazan vom Volk der Awaren? "Den häng ich erst mal wieder in den Schrank" sagt Frau Dölz sanft am Ende dieses langen Tages. "Da freut der sich". Allzu große Hoffnung auf Anerkennung scheint sich Ramazan nicht machen zu können.
Seine Probleme seien ja doch eher privat. "Wir haben jetzt aber andere Prioritäten: Syrien und Westbalkan". Also die, die man schnell anerkennen und die, die man schnell ablehnen kann. "Genau", sagt Frau Dölz. Aber auch, wenn ab morgen kein einziger Flüchtling mehr kommen würde ins Berliner Bamf hätte man locker noch ein, zwei Jahre von früh bis spät zu entscheiden, so hoch ist der Rückstau. Erst am vergangenen Montag haben vierzehn neue Kollegen angefangen, aber die werden schon nächsten Montag nicht mehr ausreichen. Insgesamt arbeiten 393 Entscheider in ganz Deutschland für das Bundesamt und das ist vielleicht auch einfach zuwenig für geschätzte 400.000 Flüchtlinge im Jahr 2015.
Dann geht Frau Dölz langsam und bewusst zu ihrem Auto, es dämmert schon wieder, bald wird es Nacht und am nahegelegenen Flughafen Tegel landen kreischend Flugzeuge aus dieser ganzen chaotischen Welt.