Das Rennen ums Kanzleramt ist völlig offen. Wer hätte vor einigen Monaten gedacht, dass man dies über die Bundestagswahl 2021 jemals würde sagen können? Lange schienen die Felle verteilt – doch vier Wochen vor dem Wahlsonntag ist die politische Stimmung in Deutschland plötzlich eine ganz andere. Aus dem Zweikampf zwischen Union und Grünen ist ein Zweikampf zwischen SPD und Union geworden.
"Wir sind dankbar für den Zuspruch, den Olaf Scholz erfährt", heißt es bemüht bescheiden bei den Sozialdemokraten. Fakt ist: Ihr von vielen längst abgeschriebener Kanzlerkandidat und seine Partei haben in Umfragen nicht nur aufgeholt, sie haben Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) und die beiden Unionsparteien überholt.
Das Meinungsforschungsinstitut Forsa sieht die SPD in der Sonntagsfrage zum ersten Mal seit 15 Jahren vor der Union – wenn auch hauchdünn, mit 23 zu 22 Prozent. Die Grünen scheinen mit 18 Prozent abgeschlagen. Doch im Grunde können sich alle drei Kandidaten, die am Sonntag beim bundesweit ersten Triell vor einer Bundestagswahl aufeinander treffen, noch Hoffnungen aufs Kanzleramt machen. Vor allem bei der SPD sorgt das für Genugtuung – hatten Kritiker doch lange gespottet, ein SPD-Kanzlerkandidat habe in einer solchen Runde nichts zu suchen, weil er ohnehin keine Chance habe.
Genugtuung und Vorsicht in der SPD
Dass der plötzliche Aufschwung nicht allein Scholz und der Performance der SPD zuzuschreiben ist, weiß man in der Parteizentrale genau. Man habe aber weniger Fehler gemacht, lässt Generalsekretär Lars Klingbeil durchblicken. "Wir haben keinen Robert Habeck, der die Aufmerksamkeit krampfhaft von der eigenen Kanzlerkandidatin abzieht", sagt er in Anspielung auf die Grünen. "Wir haben keinen Markus Söder, der versucht, dem eigenen Kanzlerkandidaten jeden Tag vors Schienbein zu treten", sagt er mit Blick auf Laschet.
"Wir haben mit Olaf Scholz den Profi, wir haben mit Olaf Scholz die beste Antwort", sagt Klingbeil stattdessen. Doch zugleich ist man in der SPD vorsichtig, nicht zu siegessicher und überheblich rüberzukommen. Die Parteichefs bremsen, Stimmungen seien noch keine Stimmen. Dass CDU und CSU jetzt vermehrt austeilen, dass der Wahlkampf ruppiger wird und vielleicht auch mal unter die Gürtellinie trifft, davon will man sich nicht stören lassen. "Das, was wir bei der Union erleben, ist Panik pur", meint Klingbeil.
Tatsächlich rumort es in der Union. Kein Wunder, denn die von Forsa kürzlich ermittelten 22 Prozent sind der schlechteste Wert, den das Institut jemals für CDU und CSU berechnet hat. Doch dem Eindruck einer Panikreaktion widerspricht CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak schnell. "Keine Panik, aber das ist ein Weckruf", sagte er dem Fernsehsender Welt zu der Umfrage. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) betonte: "Wir kämpfen!". Und sie ergänzte: "Zum Schluss zählen die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger in der Wahlbox."
Rumoren in der Union – Laschet unter Erfolgsdruck
Laschet steht unter enormem Erfolgsdruck, das Ruder herumzuwerfen und den Abwärtstrend zu drehen. Die Lage sei dramatisch, die Wahlkampagne stinklangweilig, hört man nicht nur von Abgeordneten, die um ihren Sitz bangen, sondern bis in die Parteispitze hinein. Gelinge es Laschet nicht, das Kanzleramt nach den 16 Merkel-Jahren zu verteidigen, drohten gleich mehrere Legislaturperioden Opposition. Laschet werde dann politisch erledigt sein, auch innerhalb der weiteren Parteispitze werde kaum ein Stein auf dem anderen bleiben.
Zugleich hört man von fast allen, die ein solches Szenario fürchten, der Kandidat habe immer noch Chancen, am Ende Kanzler zu werden. Unter Druck, heißt es, sei Laschet ja besonders gut. Selbst Gegner attestieren ihm Steherqualitäten und gute Nerven. Das Fernsehtriell bei RTL/n-tv könne die Trendumkehr bringen, hoffen sie. Vorausgesetzt, Laschet leiste sich nicht erneut Patzer, gehe mit inhaltlichen Schwerpunkten in die Offensive und stelle bald mal ein ganzes Team von Frauen und Männern stärker in den Mittelpunkt. Intensiv bereite sich der Kandidat auf das Triell vor, ist zu hören.
Doch mit Spannung dürften sie in der CDU-Spitze auch darauf warten, ob CSU-Chef Markus Söder vorher noch ein paar Spitzen gegen Laschet loslässt: Er ist am Sonntag im ARD-Sommerinterview zu Gast.
Baerbock muss Vertrauen zurückgewinnen
Für die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock geht es jetzt darum, nicht weiter abzusteigen. Nach Wochen voller Schlagzeilen zu abgeschriebenen Buch-Passagen und nachgemeldeten Nebeneinkünften muss sie verspieltes Vertrauen zurückgewinnen. Vom Umfragen-Hoch kurz nach ihrer Nominierung zur Kanzlerkandidatin sind die Grünen und ihre Co-Chefin weit entfernt. Ende April lag die Partei noch mit 25 Prozent vor der Union. Nun heißt es: wieder aufholen – und Profil zeigen neben einer erstarkenden SPD. "Aus dem bisherigen Zweikampf ist jetzt ein Dreikampf geworden, das macht es noch spannender", sagte Baerbock in dieser Woche bei einem Wahlkampfauftritt in Kiel. "Drei demokratische Parteien stehen ganz dicht beieinander."
Jetzt sei die Frage entscheidend, ob nach der Wahl ein Zweierbündnis möglich oder ein Dreierbündnis nötig sei. "Wir treten an für eine Erneuerung, andere stehen eher für einen Status quo und weiter so." Die Grünen wollten "an führender Stelle" Verantwortung übernehmen, versicherte Baerbock. Im Dreikampf wird sie diesen Führungsanspruch noch einmal deutlich machen müssen – etwa beim grünen Herzensthema Klimaschutz. Aber auch in der Außenpolitik könnte die Debatte deftig werden. Stichwort Afghanistan. Hier hatte Baerbock bereits am Mittwoch mit klaren Worten gegen Union und SPD ausgeteilt. Kuschelig dürfte es am Sonntag also nicht werden.
Die drei anstehenden Trielle, die Millionen Menschen live am Bildschirm verfolgen werden, können in der Wählerstimmung noch viel verändern. Die SPD nimmt sich hohe Konzentration und gute Vorbereitung vor. Inhaltlich dürfte Scholz wasserdicht sein, doch was passiert, wenn Laschet – wie damals vor seiner Kür als CDU-Chef – menschelt? Damals packte er die Bergmanns-Marke seines Vaters aus, der entscheidende emotionale Schachzug. Ob der eher nüchterne Scholz da kontern könnte, ist fraglich.
Das Triell der Kanzlerkandidat:innen läuft an diesem Sonntag, 29. August, exklusiv auf RTL und n-tv. Beginn ist um 20.10 Uhr. Parallel zur TV-Ausstrahlung ist die Sendung auch im RTL-Livestream sowie auf TV Now zu sehen.