Die Taliban herrschten in Afghanistan, die Ernährungslage war fürchterlich. Joschka Fischer war gerade 50 Jahre alt, Bundesaußenminister und damit befasst, humanitäre Lösungen zu finden. Schwierig in einem abgeschotteten Land mit Trainingslagern für Terroristen. "Die Neugeborenen starben wie die Fliegen und die Frauen und Mütter auch, es gab jeden Winter eine Hungerkatastrophe", sagt er. Das alles habe damals keinen interessiert. In Deutschland nicht, auch im Bundestag nicht. "Der CNN-Effekt war nicht existent".
Dann kam der 11. September 2001, ein Dienstag. "Der Angriff auf Downtown Manhattan und Arlington, auf das Pentagon, die hohen menschlichen Verluste in den einstürzenden Twin Towers". Dazu die Angst, eine vierte Maschine würde Kurs aufs Weiße Haus nehmen. CNN in Endlos-Streife. "Es war ein Schock und ein doppelter Schock für die Bundesrepublik Deutschland. Denn der entscheidende Täterkreis hatte lange Zeit in Hamburg-Harburg verbracht." Das politische Risiko lag darin, dass Deutschland die Anschläge gegen die Schutzmacht für seine nationale Sicherheit womöglich hätte verhindern können. Das habe sich dann aufgelöst, sagt Fischer, denn die US-Sicherheitsbehörden hatten eine eigene Verantwortung zu tragen bei der Vorbereitung dieser schrecklichen Anschläge.
"Wir hätten nein sagen können – nur zu welchem Preis?"
Es ist einer der seltenen Auftritte von Joschka Fischer, am Montag im Halbrund von Saal 4900 im Paul-Loebe-Haus des Bundestags. Die Grüne Ikone, von 1998 bis 2005 Vizekanzler und Außenminister im Kabinett von Gerhard Schröder, 75 Jahre alt, wird als einer von vier hochkarätigen Sachverständigen von der Enquete-Kommission angehört. Parlamentarier und Experten sollen hier 20 Jahre Afghanistan-Einsatz bilanzieren und Lehren für künftige internationale Einsätze aus dem am Ende beschämenden Scheitern ziehen.
Im Hintergrund wird unter Federführung der SPD, die für Afghanistan am längsten Regierungsverantwortung trug, um Deutungen gerungen. Fischer, graues Haar, schlank, verschränkt die Arme beim Hinweis auf Zeitbudgets für sein Statement und seine Antworten.
Also, der 11. September. "Für uns war klar, dass die Karten völlig neu gemischt werden im Bündnis", sagt er und blickt zurück. Bundeskanzler Schröder erklärt Deutschlands "uneingeschränkte Solidarität" mit Amerika. Der Außenminister eilt nach Brüssel und bekommt im Nato-Rat den Bündnisfall nach Artikel 5 auf den Tisch. Fischer bittet um eine kurze Auszeit, telefoniert mit Schröder, "wir mussten in Bündnissolidarität bleiben". Entsprechende Beschlüsse werden gefasst, sich an einem Krieg in Afghanistan zu beteiligen, der dann bald als Invasion durch die USA und die Briten begann.
Innenpolitisch schwierig, sagt Fischer, aber "aus damaliger Sicht musste das sein". Da hakt die Hamburger Konfliktforscherin Anna Geis aus der Enquete-Kommission noch mal nach: Ob die Entscheidungen der Bundesregierung nach 9/11 tatsächlich so alternativlos waren?
Joschka Fischer: "Frau Professor Geis, alternativlos ist selten etwas in diesem Leben. Eigentlich nur das Leben an sich, das mit dem Tode endet als eherne Gewissheit. Wir hätten nein sagen können – nur zu welchem Preis? Dann hätten wir die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland komplett zerdeppert. Ich habe auch meine Zeit gebraucht, bis ich es begriff: Bündnisverpflichtung, Ergebnis unserer Geschichte, Kalter Krieg, deutsche Teilung, europäische Entwicklung. Wer bedenkenlos daran rüttelt, wird all das, was erreicht wurde seit 1949, in Frage stellen. Als ich morgens aufgestanden bin, hätte ich auch nicht gedacht, dass wir am Abend den USA über Artikel 5 die Solidarität erklären".
Eine raue Veranstaltung
Trotzdem sei die Entscheidung alles andere als einfach gewesen. Dem damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau wäre der Begriff "uneingeschränkte Solidarität" mit Amerika nie über die Lippen gekommen, er will der Kriegslogik nicht folgen. Die grüne Basis rebelliert gegen den Kriegskurs der Bundesregierung, Fischer stecken die Debatten um den Kosovoeinsatz noch im Ohr. Der Bundestag spricht dem Kanzler im November 2001 knapp das Vertrauen aus und ebnet so den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr außerhalb Europas.
Wenig später ist Bonn Austragungsort einer großen Friedenskonferenz für Afghanistan. Joschka Fischer eröffnet die Petersberg-Konferenz, auch mit dem Hinweis, den Frauen in Afghanistan ihre Würde zurückzugeben und dem kaputten Staat Strukturen. "Es war nicht so, dass wir da angetreten wären mit einer großen Kompetenzkiste voller Kontakte", sagt Fischer im Rückblick. "Militärisch, entwicklungspolitisch, diplomatisch, da war bei uns nicht viel." Die Zusammenarbeit mit den Amerikanern sei aber "vertrauensvoll" gewesen. Eine Teilnahme von Taliban kam nicht in Frage, "dann hätte die Konferenz nicht stattgefunden".
Es war eine raue Veranstaltung. "Da war man mit Leuten im Saal, mit denen man normalerweise nicht zusammensitzen würde angesichts ihrer Biografien und ihrer Verantwortung nach dem Abzug der Roten Armee und im afghanischen Bürgerkrieg", sagt Joschka Fischer. Man habe eben eine möglichst breite Grundlage für Afghanistan schaffen müssen. "Das hatte einen Preis. Das Land war nicht vergleichbar mit einem europäischen Land." Auch auf dem Balkan habe man ja "Dinge" erlebt und dann Waffenstillstandsgespräche und Verhandlungen führen müssen. "Unter dem Dayton-Agreement steht die Unterschrift von Milosevic".
Die Bush-Regierung interessierte sich in Afghanistan für Al Qaida, Bin Laden, Feindbekämpfung. State Building hielten wichtige Leute in Washington für Unfug. Die Taliban waren vertrieben. Joschka Fischer sagt, die Rolle Pakistans für die Gesamtlage in Afghanistan könne man "nicht schwer genug gewichten". Für die USA sei Pakistan als Verbündeter mit dem Hafen Karatschi und militärisch von entscheidender Bedeutung gewesen. Aber Pakistan gewährte den Taliban ein Hinterland, Mullah Omar war lange in Quetta hinter der Grenze, und der pakistanische Geheimdienst ISI "ist eine Blackbox geblieben", wie Fischer sagt. "Im Pentagon machte man die Augen zu, wo man sehr genau hätte hinsehen müssen".
Im Rückblick sieht Joschka Fischer das Debakel
Für die US-Regierung rückte Afghanistan schon bald nach hinten auf der Agenda. Nach dem militärischen Erfolg am Boden hätten die Amerikaner ihre besten militärischen Teams abgezogen. Der damalige BND-Präsident habe ihm gesagt, es gehe Richtung Irak, sagt Fischer. "Ich habe Afghanistan immer als das erste Opfer des Irakkriegs bezeichnet." Dabei hätten sich Saddam Hussein und Al Qaida bekämpft, die kolportierte Vorstellungen über Massenvernichtungswaffen hätten sich anhand von Überprüfungen durch Inspektoren und Kooperation von Diensten "relativ früh" als "fantasy" entpuppt.
Bundeskanzler Schröder habe das ursprüngliche Votum von der "uneingeschränkten Solidariat" später durch die Formulierung ergänzt, Deutschland werde sich nicht an Abenteuern beteiligen. "Das war eine Vorbehaltsklausel, Herr Schröder war Rechtsanwalt", sagt Fischer.
Und jener Satz, den Joschka Fischer selbst bei der Münchener Sicherheitskonferenz dem US-Verteidigungsminister Rumsfeld zurief, als der den Irak-Krieg suchte, ist Legende (und Fischer-Buchtitel): "Excuse me, I am not convinced." Deutschlands Nein zum Irak-Krieg sorgte für riesige politische Verwerfungen in Washington und Berlin, laut Fischer waren zeitweise große diplomatische Anstrengungen nötig, um den Kontakt zu den USA überhaupt aufrechtzuerhalten "wegen unserer Position in dieser verdammten Irak-Frage".
Joschka Fischer war bis 2005 Bundesaußenminister. Natürlich sehe er im Rückblick das Debakel, "vom überstürzten und übereilten Abzug will ich jetzt nicht reden", sagt er vor der Enquete-Kommission. Der Afghanistan-Einsatz ging erst mit dem de facto bedingungslosen Truppenabzug der Trump- und Biden-Regierungen im August 2021 zu Ende. "Afghanistan wird noch lange ein Ort der Unsicherheit bleiben", sagt Joschka Fischer. Es sei absehbar gewesen, dass die Taliban "nichts von dem unangetastet lassen würden", was die mühseligen, kleinen Erfolge für Frauen und Mädchen betrifft. "Es ist schrecklich, wenn man sich die Situation heute anschaut."
Wie sich die verschiedenen Ansätze und Logiken deutscher Akteure und Ministerien in Afghanistan hätten besser koordinieren lassen und wie strategisches Vorgehen aussehen kann, blieb bei der Anhörung des Sachverständigen Fischer eher zweitrangig. Beim Thema "Nationaler Sicherheitsrat" schüttelte er den Kopf. "Man sollte nicht solchen Beamtenfantasien folgen." Er glaube nicht, dass sich die Probleme so lösen lassen. "Der Nationale Sicherheitsrat ist ein amerikanisches Modell, und die Amis haben ein Präsidialsystem. Wir haben kein Präsidialsystem, was manchem Bundeskanzler vielleicht schwergefallen ist, zu akzeptieren. Wir haben eine Eigenverantwortung der Ressorts."
"Wenn wir politisch mehr leisten wollen, werden wir militärisch mehr bieten müssen"
Selbstkritik räumt Joschka Fischer ein, wenn es um die "mangelnde militärische Stärke geht, die wir damals hatten". Die schwache, logistisch überforderte, kaputtgesparte Bundeswehr. Alle Parteien seien an diesem Prozess beteiligt gewesen, "meine eigene nehme ich da nicht aus". Die Folgen sind essenziell: "Wir müssen für härtere Einsätze vorbereitet sein. Nur so bekommen wir auch politischen Einfluss. Das halte ich als meinen persönlichen Lerneffekt aus der Afghanistan-Mission fest." Und weiter: "Sie können den Amerikaner die besten Dinge vorschlagen, wenn Sie die Hardpower nicht haben, wird das nicht umsetzbar."
Fischers frühere Ressortkollegin sitzt rechts neben ihm, Heidemarie Wieczorek-Zeul, von 1998 bis 2009 war sie Entwicklungshilfeministerin. Die SPD-Politikerin war oft in Afghanistan und wird heute ebenfalls als Sachverständige gehört. Als sie betont, dass man auch mit dem brutalen Vorgehen des US-Militärs im Irak und Afghanistan etwa in Foltergefängnissen offener hätte umgehen können, zumal eh alles bekannt geworden sei, sagt Fischer, es sei keine Frage, dass Abu Ghraib und andere Vorfälle extrem negative Wirkungen hatten in der muslimischen Welt und auch die Radikalisierung befördert haben. "Aber ich wehre mich gegen den Eindruck, die USA waren die Blutigen und wir die Sanften, Guten, Lieben von der Entwicklungszusammenarbeit. So war es nicht. Die Sicherheit auch unserer Leute hing in hohem Maße von den Sicherheitsgarantien der USA und der Briten ab."
Das bringt Joschka Fischer zum entscheidenden Punkt, zur Erkenntnis, die ihm Priorität geworden ist. "Machen Sie sich mal keine Illusionen, was unsere Abhängigkeit heute betrifft. Wenn wir politisch mehr leisten wollen, werden wir militärisch mehr bieten müssen. Und gerade heute wissen wir, wie sehr wir in unserer Sicherheit von den USA abhängen." Und unter Erwähnung des Stichworts Ukrainer schiebt er noch nach: "Das wird auch so bleiben angesichts der Gefahren östlicher Bündnisgrenzen."
Es ist 15.57 Uhr, die Befragung der Sachverständigen vor der Enquete-Kommission des Bundestages zu Afghanistan ist nach knapp drei Stunden beendet.
Heidemarie Wiecziorek-Zeul atmet kurz durch: "Ja, Josef, so isses."
"Wünsch Dir was, mach's gut", sagt Fischer.