Der eine fährt, der andere nicht. Ungeachtet der Zurückhaltung von Bundeskanzler Olaf Scholz hält der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz an seinem Entschluss fest, noch in dieser Woche nach Kiew zu reisen, um seine Unterstützung für die ukrainische Regierung zu demonstrieren. Vertreter der Ampel-Koalition werfen Merz allerdings vor, mit der Reise parteipolitische Zwecke zu verfolgen. Scholz hatte in einem Interview im ZDF zu erkennen gegeben, dass die Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch die Ukraine vor wenigen Tagen einer eigenen Reise derzeit entgegen steht. So bewertet die deutsche Presse die deutsche Reisediplomatie.
"Südwest Presse" (Ulm): Die Ausladung Frank Walter Steinmeiers war natürlich ein Affront. Der Unmut des Kanzlers ist verständlich, aber nicht klug. Es ist eine Sache, vorsichtig und zurückhaltend bei der Kriegsbeteiligung zu sein. Eine andere ist es, sich als deutscher Regierungschef in der Reihe der Besucher ganz hinten anzustellen. Das wird der humanitären, der Wirtschafts- und Militärhilfe, die Deutschland leistet, nicht gerecht. Und Friedrich Merz ist nicht der richtige Ersatz für hochwichtige Gespräche mit dem ukrainischen Präsidenten.
"Badische Zeitung" (Freiburg): Um die Reise des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz nach Kiew richtig zu beurteilen, hilft eine einfache Frage: Wem nützt sie? (...) Ein Händedruck mit dem ukrainischen Präsidenten erzeugt schöne Bilder. Es stehen noch im Mai zwei Landtagswahlen in Deutschland an - erst in Schleswig-Holstein, dann im besonders wichtigen Nordrhein-Westfalen. Da ist der Glanz der internationalen Bühne willkommen. Natürlich will Merz mit der Reise auch seine These vom unangebrachten Zögern von Kanzler Scholz unterstreichen. (...) Dass die Ukraine nur die Staffage für einen minimalen innenpolitischen Geländegewinn ist, kann man übergehen oder als taktisch geschickt preisen. Man kann aber auch der Meinung sein, dass die Reise ziemlich schäbig ist.
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"Weser-Kurier" (Bremen): Warum also zieht es Friedrich Merz nach Kiew? Es liegt der unschöne Verdacht nahe, dass sich hier jemand in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu manövrieren versucht. Dass Merz kurz vor zwei wichtigen Landtagswahlen auf diese Weise am Macher-Image der CDU schrauben möchte, mag man kaum glauben. Dennoch spricht manches dafür. Denn Merz ist Partei- und Fraktionschef in Personalunion. Er muss zeigen, dass die CDU Wahlen gewinnen kann. Und er muss die Koalition vor sich hertreiben.
"Ludwigsburger Kreiszeitung": Wer zuerst? Friedrich Merz ist quasi schon aus den Startlöchern. Der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag kündigt eine Reise nach Kiew an. Merz hat zwar kein Regierungsamt, aber der Unionsfraktionschef will dann doch zuerst Flagge in der ukrainischen Hauptstadt zeigen. Merz mag dabei den Außenpolitiker geben, aber erhoffte innenpolitische Geländegewinne dürften seine Reisepläne mitforciert haben. An diesem Sonntag wird in Schleswig-Holstein ein neuer Landtag gewählt, eine Woche später in Nordrhein-Westfalen. In beiden Ländern will die CDU mit Daniel Günther und Hendrik Wüst den Posten des Ministerpräsidenten verteidigen.
"Nürnberger Nachrichten": Friedrich Merz kann bei einer Ukraine-Reise wenig anbieten außer der Solidarität der größten Oppositionspartei im Deutschen Bundestag mit dem völkerrechtswidrig angegriffenen Land. Es ist höchste Zeit für einen Besuch von Scholz, am besten gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Macron . Der kann natürlich nicht angekündigt werden, sondern muss überraschend geschehen. Der deutsche Oppositionsführer spielt im Vergleich dazu eine untergeordnete Rolle. Er schadet nicht, könnte aber auch unterbleiben.
"Handelsblatt" (Düsseldorf): Eine Kiew-Reise unternimmt normalerweise in der Opposition allenfalls jemand, der sich kurz vor einer Bundestagswahl befindet. Stattdessen scheint Merz den Endspurt im nordrhein-westfälischen Wahlkampf im Blick zu haben. Verlöre die CDU dort die Regierungsmehrheit, träfe es auch den Sauerländer. Er hatte der Partei im Januar bei seiner Wahl zum Vorsitzenden neuen Schwung versprochen. (...) Merz hat allein in dieser Woche zehn Wahlkampfauftritte in NRW. Die Präsidien von CDU und CSU wählten Köln für eine gemeinsame Sitzung, um ein sicherheitspolitisches Papier zu beschließen. Es gibt also genügend Bühnen, um sich als Oppositionsführer zu präsentieren. Warum dann auch noch Kiew?