Geht’s auch in 20 Minuten? Bei Gerald Knaus passt es gerade nicht, bitte gleich nochmal versuchen, dann sitze er im Taxi Richtung Flughafen. Der Migrationsforscher ist zurzeit ständig auf Achse und ständig am Hörer. Am Dienstagmittag erreicht man ihn in London, aber eigentlich ist er auf dem Weg nach Österreich. Knaus, 53, ist als Experte schwer gefragt. Im In- und Ausland, auf Foren und Seminaren. Nicht zuletzt bei Journalisten, die das komplexe Thema Migration zu durchdringen versuchen. Und Politikern, denen es wohl ähnlich geht.
Was ist eigentlich von stationären Grenzkontrollen zu halten? Wie steht es um die EU-Asylrechtsreform? Taugt der Tunesien-Deal? Das alles kann man Knaus fragen, ohne dass er dabei große Mühe erkennen lässt, eine fachkundige Antwort zu geben. Selbst, wenn er schon mit einem Bein in der Sicherheitskontrolle am Londoner Flughafen steht. Ob man später weiterreden wolle…?
Knaus ist derzeit vielleicht das, was der Virologe Christian Drosten während der Corona-Pandemie war. Er erklärt den Deutschen das Gesprächs-, Reiz- und Streitthema dieser Tage, ordnet ein, was passiert und noch passieren könnte. Ob im Radio, im Fernsehen oder in Zeitungen. An manchen Tagen gibt er bis zu 15 Interviews, sagt er, an weniger hektischen sind es eher drei bis vier. Fragen auch Bundespolitiker nach seinem Rat? Passiert immer wieder, sagt Knaus.
Die Zahlen illegaler Einreisen steigen rasant, schon seit Monaten beklagen Städte, Länder und Kommunen eine Überlastung bei Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten. Sogar der Bundespräsident wähnt das Land "an der Belastungsgrenze". Kurzum: Deutschland steckt wieder mittendrin in der Migrationsdebatte. Und nun? Erstmal Knaus fragen.
Wie sieht ein Alltag als Gerald Knaus aus?
Eigentlich ist er Sozialwissenschaftler, sagt Knaus, Migration halte er – ehrlich nicht – für ein abgegrenztes Forschungsfeld. Einerseits. Andererseits: Seit Jahren forsche er dazu, versuche Analysen und mögliche Lösungen akuter Probleme miteinander zu verbinden. Zack: Schon zum Migrationsexperten erklärt – so klingt das. Als sei das alles nur Zufall gewesen. Stimmt natürlich nicht.
Wenn man so will, hat die politische Dimension von Migration und alles, was dazu gehört –Ländergrenzen, Flucht, Vertreibung – schon immer eine Rolle in Knaus‘ Leben gespielt. 1970 in Salzburg geboren, wächst Knaus in Wien auf. Er studiert Philosophie, Politik und Internationale Beziehungen in Oxford, Brüssel und Bologna. Jobbt als Reiseleiter in Jugoslawien, ist Dozent in der Ukraine und Bulgarien, arbeitet bei einer Behörde in Sarajewo an der Rückkehr vertriebener Minderheiten. Orte, an denen in den 90er-Jahren Krisen und teilweise Krieg den Alltag prägen. Heute lebt er in Berlin.
In Sarajewo gründet er 1999, in Folge der Balkankriege, mit Freunden den gemeinnützigen Verein "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI). Selbsterklärtes Ziel, damals wie heute: Nach einem Jahrzehnt der Kriege in Südosteuropa demokratische Stabilität festigen. Dementsprechend widme man sich den Themen, die ebendiese Stabilität gefährdeten – und da gehörten Migration und Flucht seit den 90er-Jahren nun mal zu den großen, sagt Knaus. Sein ESI beschäftige sich aber auch mit dem Rechtsstaat in Polen, der Zukunft des Europarats oder der Erweiterung der Europäischen Union. Zum Beispiel.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Und wie sieht so ein Alltag als Mitbegründer und Vorsitzender einer Denkfabrik aus, jenseits der unzähligen Interviews, die es zu geben gilt? Also gerade ist er auf dem Weg nach Österreich, sagt Knaus, sein ESI hat ein Seminar organisiert. Die Themen, unter anderem: Migration, Verteidigung des Rechtsstaats, die Gefahr von Gewalt auf dem Balkan. Nächste Woche reise er nach Athen, um den Migrationsminister zu treffen. In Stockholm stehe ein Botschaftertreffen an. Und in Paris nehme er an einer Diskussion zu Korruption im Europarat teil. Knaus ist in den Ländern unterwegs, über die er spricht. Aber keine One-Man-Show, darauf legt er Wert: Er habe ein mehr als zehnköpfiges Kollegenteam, das ebenso forsche, recherchiere und Berichte schreibe.
Dazu kommen ja noch die zahlreichen Gespräche mit Politikern, nicht nur aus Deutschland. Er tausche sich auch mit griechischen, niederländischen, schwedischen oder dänischen Politikern aus. Der ESI sei ja keine Politikberatung, die von der Bundesregierung finanziert werde, sagt Knaus. Zu den regelmäßigen Geldgebern gehören unter anderem die schwedische Regierung, die Stiftung Mercator oder die Robert Bosch Stiftung – die Finanzierung erfolgt oft projektbezogen. Jeder Politiker, jede Partei könne unentgeltlich um Rat fragen. Das erlaube dem ESI wiederum, ein Gefühl für Debatten zu bekommen – und wo sich mögliche Kompromisse abzeichnen könnten. Praktisch.
Knaus‘ Einschätzungen zur Migrationspolitik treffen zwar nicht immer zu, werden aber stets aufmerksam registriert. Der Politikberater steht im Stoff, hat mehrere Bücher zur Thematik verfasst, gilt als Ideengeber für den sogenannten EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei von 2016. Auch heute plädiert er für Abkommen, um der irregulären Migration zu begegnen. Vergleichbar seien die Krisen aber nicht, sagt Knaus. Die aktuelle Lage heute sei politisch gefährlicher als damals. Krieg in Europa. Rechtspopulisten in den Parlamenten, auch in Deutschland, die sich ein illiberales Europa wünschten. Ohne Nato und EU. Dazu die ungelöste Migrationskrise. 2015 gab es zwar ein wachsendes Gefühl der Krise, sagt Knaus, aber heute gerät mehr ins Wanken.
Eine schnelle Frage noch, Herr Knaus: Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht als Migrationsforscher gefragt sind? Dann verbringe er seine Zeit mit der Familie, beim Radfahren oder Lesen im Kaffeehaus, sagt er. Jetzt muss er aber wirklich weiter.