Deutschland, Frankreich und Großbritannien wollen ihren Reformkurs für die europäische Wirtschaft durch einen ausschließlich dafür zuständigen Vize-Präsidenten der EU-Kommission voranbringen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte nach einem Treffen mit Frankreichs Präsident Jacques Chirac und dem britischen Premierminister Tony Blair am Mittwochabend in Berlin, eine entsprechende Forderung werde an Kommissionspräsident Romano Prodi und die irische EU-Ratspräsidentschaft übermittelt. In dem Brief der drei Politiker wird für den Vize-Präsidenten eine Koordinierungsfunktion gegenüber anderen Kommissaren gefordert, was eine stärkere Hierarchie in das Gremium bringen würde als bislang. Hinter der Forderung steht die Kritik vor allem Schröders, die Kommission habe industriepolitische Interessen immer wieder vernachlässigt. Alle drei forderten stärkere Anstrengungen der EU zur Förderung der Wirtschaft.
"Eine Form der Zusammenarbeit mit Zukunft"
In deutschen Regierungskreisen hieß es am Abend, der Vorschlag eines Vize-Präsidenten sei lediglich eine Anregung. Sowohl bei dieser Funktion als auch bei der anstehenden Prodi-Nachfolge habe man keine Kandidaten ins Auge gefasst. "Es ist heute Abend nicht über Namen und Nationalitäten gesprochen worden." Der Dreiergipfel sei eine Form der Zusammenarbeit mit Zukunft. "Wenn es gelingt, zwischen diesen Dreien eine Art von Kompromisskultur zu entwickeln, können sie (...) Europa voranbringen." Nach dem Dreiergipfel in Berlin planen Deutschland, Frankreich und Großbritannien weitere Treffen dieser Art. Beim Abendessen verabredeten Bundeskanzler Gerhard Schröder, Staatspräsident Jacques Chirac und Premierminister Tony Blair am Mittwoch eine intensive Fortsetzung dieser Kontakte auf Chef- und Ministerebene.
In dem Brief, den die drei Politiker öffentlich unterzeichneten, heißt es: "Außerdem fordern wir zur Verwirklichung unserer Wachstumsziele die Ernennung eines ausschließlich für Fragen der Wirtschaftsreform zuständigen Vize-Präsidenten der Kommission. Diese Person sollte die Lissabon-Agenda vorantreiben und eine Koordinierungsfunktion gegenüber den Kommissaren ausüben, deren Ressorts für ihre Umsetzung von besonderer Bedeutung sind." Als Lissabon-Agenda werden die im Jahr 2000 beim EU-Gipfel in Portugal beschlossenen Pläne bezeichnet, die Europäische Union (EU) bis zum Jahr 2010 zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.
Kleine Länder fürchten den Ausbau der Hierarchie
Die im Brief geforderte Koordinierungsfunktion wäre ein Kompromiss zwischen dem bisherigen Prinzip gleichberechtigter Kommissare und einer Hierarchie. Wegen der Sensibilität vor allem kleiner EU-Staaten hat die Bundesregierung bislang den Eindruck vermeiden wollen, sie fordere eine Hierarchie. Kleinere Länder fürchten, mit untergeordneten oder weniger bedeutenden Kommissarposten abgespeist zu werden, während große Mitglieder wichtige Ämter besetzen. Durch die EU-Erweiterung von 15 auf 25 Staaten wächst auch die Zahl der Kommissare auf 25.
Die gegenwärtige Kommission unter Prodi amtiert noch bis zum Herbst. Die Schlüsselrolle bei der Bildung der neuen Kommission kommt den Regierungschefs der EU zu. Der neue Präsident und später die Kommission muss vom Europaparlament bestätigt werden, das im Juni neu gewählt wird.
Auch der EU-Stabilitätspakt stand auf der Tagesordnung
Schröder sagte nach dem Treffen, die drei Staaten stimmten in der Auffassung überein, dass die EU größere Anstrengungen für Wachstum und Beschäftigung unternehmen muss. Ähnlich äußerten sich auch Chirac und Blair. In einer entsprechenden Erklärung heißt es, es gelte, "Hürden zu beseitigen, die moderne, flexible Beschäftigungsformen verhindern". Andernfalls seien die selbst gesetzten Ziele für Wachstum und Beschäftigung nicht zu erreichen.

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Nach den Worten der britischen Handelsministerin Patrica Hewitt haben sich die drei Regierungschefs außerdem für eine Änderung des EU-Stabilitätspakts ausgesprochen. Die drei Länder seien der Meinung, dass der Pakt flexibler gestaltet werden sollte, sagte Hewitt der BBC am Mittwoch. Die Möglichkeiten zur Unternehmensgründung und für Wachstum in Europa müssten verbessert werden. Man müsse sich von der unnötigen Brüsseler Bürokratie befreien, die derzeit etwa die europäische Wettbewerbsfähigkeit und eine Mittelerhöhung für Forschung und Entwicklung behindere. Deutschland und Frankreich haben mit ihren Defiziten der letzten Jahre wiederholt gegen den Stabilitätspakt verstoßen, Großbritannien als Nicht-Euro-Land ist weniger betroffen.
Stabilisierung Iraks und Nahost-Konflikt als Gemeinschaftsaufgabe
Die drei Staats- und Regierungschefs plädierten auch für ein stärkeres Engagement der EU bei der Suche nach einer Lösung des Nahost-Konflikts. Schröder, Chirac und Blair seien sich einig gewesen, dass man einen "proaktiven Ansatz" bei dem Thema wählen müsse, hieß es in deutschen Regierungskreisen. Die Nahost-Initiative von Bundesaußenminister Joschka Fischer sei von Chirac und Blair grundsätzlich unterstützt worden. Die Vorschläge müssten auch "wesentliche Elemente eines europäischen Ansatzes" sein, hieß es.
Zu den außenpolitischen Themen des Dreiergipfels zählte auch die Lage in Irak. Dabei habe Einigkeit bestanden, dass die Stabilisierung des Landes eine Aufgabe sei, der sich "der Westen insgesamt stellen muss", hieß es in den Regierungskreisen. Schröder, Chirac und Blair verständigten sich auch darauf, den Dialog mit Russland nach der dortigen Präsidentschaftswahl am 14. März wieder zu intensivieren.
Die drei Politiker wiesen die Kritik unter anderem Italiens zurück, sie bildeten ein "Direktorium", das die EU dominiere. "Wir wollen niemanden dominieren, schon gar nicht Europa", sagte Schröder.