Die Fronten sind klar: "Es kann doch nicht sein, das eine Oma, die ihr Leben lang Beiträge gezahlt hat, beim Arzt fünf Wochen auf einen Termin warten muss," echauffiert sich Sigmar Gabriel, "und dann kommt da so ein Schnösel, 34 Jahre alt, der sein Geld an der Börse macht - und wir wissen ja jetzt wie das geht - und kommt nach zehn Minuten dran."
Die brave Omi gegen den Schnösel von der Börse. Das ist vielleicht etwas stereotyp, aber es verfängt: Spontaner, lauter Applaus brandet dem SPD-Chef aus dem Publikum entgegen, der Parteitag der NRW-SPD jubelt ihm zu. Gabriel hat, rechtzeitig vor der Landtagswahl im einwohnerstärksten Bundesland, sein Thema gefunden.
Die Kopfpauschale, die Gesundheitspolitk also. Sie ist das bundespolitische Thema, dass Gabriel mit der Landtagswahl verknüpfen will. "Wir werden die Kopfpauschale verhindern", ruft er. Denn eine solche Pauschale wäre "die Zerstörung der Gesetzlichen Krankenversicherung" und gehe auf Kosten von 40 Millionen Versicherten. Noch während des Parteitags startete man eine Unterschriftenaktion.
Auf die Unterstützung der NRW-SPD kann Gabriel sich dabei verlassen. Nicht nur, weil er nach seiner Rede minutenlang Standing Ovations bekommt, sondern auch, weil das Thema der Landespartei gelegen kommt. Denn die setzt im Duell mit dem vermeintlichen "Schauspieler" Jürgen Rüttgers vor allem auf soziale Wärme. Da passt die Omi im Wartezimmer ganz gut rein.
Überhaupt war dieser Parteitag geprägt von geradezu klassischer Sozialdemokraten-Rethorik. "Nah am Menschen" wolle man sein, hatte Spitzenkandidatin Hannelore Kraft schon am Freitag versprochen, und von ihrer "Tatkraft"-Tour erzählt, auf der sie dann auch, Überraschung, "ganz normale Menschen" getroffen hat. Die Strategie ist einfach: Wir sind authentisch und sozial, die anderen nicht. Auch wenn sie das immer behaupten.
Seit Jahren versucht die SPD Ministerpräsident Rüttgers und sein Team als Heuchler, als Lautsprecher und Schauspieler darzustellen, der mit Sozial-Rhetorik seine vermeintlich unsoziale Politik zu verdecken versucht. Jahrelang waren sie damit recht erfolglos. Doch nun könnte dieser Ansatz greifen. Denn durch die Sponsoring-Affäre hat das beinahe überparteiliche Kümmerer-Image des "Landesvaters" erhebliche Risse bekommen. Die desaströse Lage der Schwarz-Gelben Koalition im Bund und die Hartz-IV-Schelte von Guido Westerwelle tun ihr Übriges.
In diese Kerben haut auch Gabriel, und man kann ihm die jungenhafte Freude dabei ansehen: Angela Merkel ist für ihn die "Geschäftsführerin einer Nichtregierungsorganisation" und eine "Trivialkanzlerin", die NRW-Regierung eine "Laienschauspielschar", Rüttgers ein "falscher Fuffziger", der die Kommunen ruiniert und "dumpfe, ausländerfeindliche Sprüche geklopft" habe.

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Besonders heftig aber haut er auf diejenigen ein, die momentan von allen Seiten einstecken müssen: Die FDP. Philipp Rösler ist für Gabriel nur "ein freundlicher Pharmalobbyist, der behauptet, er sei Gesundheitsminister", das Entwicklungshilfeministerium "die Bad Bank der FDP" und Guido Westerwelle mit seiner Politik, die am "rechtspopulistischen Rand" fische, "wieder ganz nah bei Möllemann". Die von der FDP ins Spiel gebrachte weitere Absenkung von HartzIV-Beiträgen nennt er gar "verfassungsfeindlich". " Herr Westerwelle ist ein Radikaler im öffentlichen Dienst, und da gehört er nicht hin!", ruft der SPD-Chef ins Publikum.
Eines wird klar: Gabriel kann poltern und mitreißen, viel mehr als Hannelore Kraft das konnte. Aber mögen sie auch unterschiedliche Tonlagen anschlagen, in der Sache sind sie sich einig: Im Mittelpunkt des NRW-Wahlkampfes sollen neben dem Bundes-Thema Kopfpauschale die Bildungspolitik und die schwierige Lage der Kommunen stehen. Mit "echten" Ganztagsschulen und einer Art "Bad Bank" für klamme Städte und Gemeinden will man verhindern, dass "das Land vor die Wand fährt", wie Gabriel sagt.
Doch das alles kostet Geld, und wo genau das herkommen soll, sagt keiner der beiden. Die Finanzinstitute müssten auch für den Weg aus der Krise zahlen, heißt es da nur nebulös.
Mit dem Kampf gegen die Kopfpauschale aber hat sich Sigmar Gabriel ein Thema ausgesucht, bei dem der Gegner verwundbar und die Erfolgschancen groß sind: Denn auch in der schwarz-gelben Koalition in Berlin herrscht Chaos beim Lieblingsprojekt der FDP. Die CSU ist ohnehin dagegen und unterläuft das Projekt, wo es nur geht. Auch an diesem Wochenende ätzte der bayerische Gesundheitsminister Markus Söder wieder, die Regierungskommission, die nun ihre Arbeit aufnehme, sei überflüssig, weil für eine Umstellung auf eine Kopfpauschale ohnehin kein Geld da sei. Und auch CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble bremst, wo er nur kann. Jüngst hatte er vorgerechnet, dass man zur Finanzierung der Rösler'schen Gesundheitspauschale bei gleichzeitigem Sozialausgleich den Spitzensteuersatz auf 73 Prozent anheben müsse. Der Zustand der Regierungskoalition ist derzeit die beste Krankenversicherung für den bis vor kurzem noch schwer leidenden Patienten SPD.
So wird die Landtagswahl in NRW nicht nur über die nächste Regierung in Düsseldorf entscheiden, sondern auch über die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Im Idealfall könnte ein Erfolg im bevölkerungsreichsten Bundesland zum Beginn einer Gesundung der ganzen Partei werden. Oder, wie Sigmar Gabriel es schwer optimistisch formuliert: "Von NRW lernen heißt siegen lernen!"