Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Und es gibt hochbegabte Spötter im Bundestag. Zum Beispiel Jürgen Trittin, Fraktionschef der Grünen. "Man kann auch gegen Herrn Brüderle verlieren", sagte Trittin diesen Mittwoch im Bundestag, den Blick auf Norbert Röttgen geheftet, der katzbucklig auf der Regierungsbank saß. "Aber nie darf ein Umweltminister so tief sinken, dass er den Kakao auch noch lustig schlabbert, durch den Herr Brüderle ihn zieht - das machen Sie gerade."
Rumms. Röttgen, "Muttis Klügster", wie sie ihn in Berlin nennen, der schwarz-grüne Shootingstar der Regierung, sah in diesem Moment ziemlich alt aus. Vielleicht zu Recht. In jedem Fall hat seine Karriere durch den sogenannten "Atomkompromiss" eine dramatische Wende genommen. Er könnte als politischer Knallfrosch in die Geschichte eingehen, als Maulheld unter den Umweltministern. Oder als Genius, der dank einer überlegenen Strategie am Ende alles gewinnt.
Eine Sitzung im Umweltausschuss
Paul-Löbe-Haus, Raum E 600, Mittwochmorgen, 7.30 Uhr: Der Umweltausschuss hat eine Sondersitzung anberaumt, um sich über die Hintergründe des sogenannten Geheimvertrags zwischen der Regierung und den vier großen Energieunternehmen zu informieren. Wichtigster Gast: Umweltminister Röttgen. Der schlägt die knappe Zeit zunächst damit tot, seine Energiepolitik grundsätzlich und mit besonderem Blick auf die soziale Marktwirtschaft zu erläutern. Was den Ausschuss viel mehr interessiert: Haben die AKW-Betreiber der Regierung den Vertrag diktiert? Ist die Regierung, auch Röttgen, vor der Lobby in die Knie gegangen? Die Grünen stellen im Ausschuss die entscheidende Frage, ob Röttgen den Vertrag mitunterschrieben hat. Und der Westfale antwortet: "Ich habe an dem Vertrag nicht mitgewirkt, und es hat auch kein Vertreter des Umweltministeriums teilgenommen." Es sei schließlich nicht um Sicherheit gegangen, sondern um finanzielle Aspekte.
Allgemeines Erstaunen: Der zuständige Umweltminister erklärt sich für nicht zuständig? Sicher ist: Röttgen war beim Atomgipfel am 5. September im Kanzleramt. Gegen Mitternacht löste sich die Runde auf. Weiterverhandelt wurde in Wolfgang Schäubles Finanzministerium an der Wilhelmstraße - ohne Röttgen. Dort setzten im Morgengrauen vier Vertreter der Stromkonzerne sowie Staatssekretär Hans Bernhard Beus ihre Unterschrift unter den Vertrag. Ein paar Stunden später, am Montagvormittag, traten Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, FDP, und Röttgen vor die Bundespressekonferenz und lobten die Einigung - ohne den Vertrag mit einem Wort zu erwähnen - in den höchsten Tönen. Von einem zukunftsweisenden Konzept war die Rede, von einem "epochalen" Werk. Das war der Moment, in dem Röttgen den Kakao schlabberte, durch den er gezogen worden war.
"Er hat sich überflüssig gemacht"
Denn die Einigung reflektierte nichts von dem, was Röttgen in den Monaten zuvor lauthals gefordert hatte. Er wollte eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten um maximal acht Jahre - es wurden durchschnittlich zwölf. Er wollte die Betreiber zwingen, ihre Kraftwerke auf den neuesten technischen Stand nachzurüsten - der Vertrag deckelt die Nachrüstungskosten auf 500 Millionen pro Kraftwerk. Er wollte den Bundesrat an der Entscheidung über das Energiekonzept beteiligen - plötzlich hieß es, das sei nicht notwendig. Damit lag die Einigung voll auf Linie Brüderle und der Industrie. Nicht auf der Linie Röttgen. "Ich glaube, Merkel hat ihn ausgebootet", sagt Dorothea Steiner, grünes Mitglied des Umweltausschusses zu stern.de. "Er hat sich damit überflüssig gemacht." Ihr Ausschusskollege Ralph Lenkert von der Linkspartei sagt: "Was Herr Röttgen da abliefert, ist: Er kündigt an und kriegt nichts durch."
Sowohl Steiner als auch Lenkert erlebten Röttgen an diesem Mittwochmorgen im Umweltausschuss als einen Mann, der mit sich selbst im Unreinen ist. Auf präzise Frage habe er mit Ausflüchten geantwortet - "vage, ungenau, das tat schon weh", sagt Lenkert. Steiner empfand sein Auftreten als "streckenweise regelrecht verwirrt". Die Grüne glaubt, dass sie Röttgen live dabei beobachten konnte, wie das Wissen über seine politische Niederlage in ihn einsickert. "Er kann mit der Situation nicht umgehen, dass er eben noch der Hoffnungsträger war, jetzt aber keine Rückendeckung hat", sagt Steiner.
Die Kandidatur in NRW
Tatsächlich ist es schon in den vergangenen Monaten immer einsamer um Röttgen geworden. Sein Versuch, die Energiepolitik im Alleingang vorab festzulegen, hatte viele Fraktionskollegen vergrätzt. Gleiches gilt für seinen Wunsch, den Landesvorsitz der nordrhein-westfälischen CDU zu übernehmen. Röttgen könnte zu mächtig werden und sich als eine Art Nebenkanzler etablieren, hieß es. Die wichtigsten Strippenzieher aus der NRW-Landesgruppe, darunter Kanzleramtsminister Ronald Pofalla und Landesgruppenchef Peter Hintze, lehnen Röttgens Kandidatur ab. Möglicherweise sind sie nun am Ziel: Die Debatte um die Atompolitik schadet Röttgen, die Debatte um die Integrationspolitik hilft seinem Konkurrenten Armin Laschet, der ebenfalls um den Chefsessel in NRW rangelt. Anfang Oktober sollen die Delegierten auf einem Landesparteitag zwischen beiden entscheiden. Klar ist: Der Gewählte wird zugleich neuer Stellvertreter der CDU-Vorsitzenden Merkel.
Aus dem Umweltministerium heißt es auf Nachfrage von stern.de, die aktuellen Kommunikationspannen rund um den Atom-Deal seien nicht Röttgen anzulasten. Sondern vielmehr jenen Menschen, die seine Bewerbung um den NRW-Landesvorsitz hintertreiben wollten. Von einer politischen Niederlage des Ministers im Streit mit Brüderle mag dort natürlich niemand sprechen. Von einem "Kompromiss" ist die Rede.

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Hoffen aufs Bundesverfassungsgericht
Möglich, dass dieser Kompromiss noch mal aufgeschnürt wird. SPD, Grüne und Linke wollen vor dem Bundesverfassungsgericht klagen, möglicherweise sogar gemeinsam. Ihrer Ansicht nach ist der Vertrag mit den Energiekonzernen illegal, weil das Parlament mit diesen Fragen beschäftigt werden müsse. Außerdem könne die Regierung den Bundesrat nicht ausschalten, weil die Atomaufsicht bei den Ländern liege und diese zustimmen müssten. Betätigt das Gericht diese Positionen, wäre Röttgen - so kurios es klingt - plötzlich wieder oben auf. Er könnte behaupten: Ich habe es ja schon immer gesagt. Und es mag sein, dass er mit diesem späten Triumpf kalkuliert. Dafür braucht er indes den politischen Gegner: Nur die Opposition kann Röttgen retten.