Nun ist offiziell, was seit Tagen für Spekulationen gesorgt hatte: Nancy Faeser will SPD-Spitzenkandidaten für die hessische Landtagswahl am 8. Oktober werden, gleichzeitig aber Bundesinnenministerin in Berlin bleiben – und nur nach Wiesbaden wechseln, sollte sie Ministerpräsidentin werden.
"Genauso wie ich die erste Frau im Amt der Bundesinnenministerin bin, so möchte ich die erste Frau an der Spitze der hessischen Landesregierung werden", sagte die 52-Jährige am Donnerstagabend im Willy-Brandt-Haus. "Ich trete an, um zu gewinnen." Deutlicher wurde sie im Gespräch mit dem "Spiegel", das kurz zuvor erschienen war: "Oppositionsführerin war ich schon", so Faeser. "Wenn die Wählerinnen und Wähler sich anders entscheiden, werde ich weiterhin als Bundesinnenministerin meiner Verantwortung gerecht werden."
An diesem Freitag soll sie beim traditionellen "Hessengipfel" der SPD offiziell zur Spitzenkandidatin gekürt werden. Dort dürften die Genossen erleichtert sein, dass Faeser nach monatelangen Spekulationen um ihre Absichten endlich reinen Tisch macht. Die SPD-Landesvorsitzende gilt als einzig aussichtsreiche Kandidatin, zumal die Konkurrenz ihre Frontrunner längst benannt hat. Die hessischen Sozialdemokraten brechen also mit reichlich Verzug in den Wahlkampf auf.
Dabei baut die Hessen-SPD offenkundig auch auf den Amtsbonus der Bundesministerin, denn Wahlkampfauftritte seien nur wenige geplant. "Es sind jetzt nicht die Zeiten, um Wahlkampf zu machen", sagte Faeser mit Blick auf den Krieg in der Ukraine. Der Umstand dürfte allerdings auch ihrer künftigen Doppelrolle geschuldet sein, fortan einen Landtagswahlkampf anzuführen, während sie parallel ein Ministerium mit rund 85.000 Bediensteten und 19 Behörden leitet. Es dürfte ein Kraftakt werden.
Nancy Faeser hat "volle Rückendeckung"
An Aufgaben mangelt es in Faesers Ministerium freilich nicht. Sie ist zuständig für die innere Sicherheit, den Kampf gegen Cyberkriminalität, den Bevölkerungs- und Verfassungsschutz, die Migration. Faeser führt eine Behörde, die stets gefordert ist – ob beim Kampf gegen "Reichsbürger" oder der Unterbringung von Geflüchteten. Um nur einige aktuelle Debatten zu nennen. Außerdem wird sich die SPD in Hessen strecken müssen, um als Siegerin durchs Ziel zu gehen: Im letzten "hr-Hessentrend" hatte die Partei fünf Prozentpunkte hinter der CDU und gleichauf mit den Grünen gelegen – die Umfrage stammt jedoch von Oktober vergangenen Jahres.
Trotz allem zeigte sich Faeser überzeugt, dass der Landes-Spagat möglich ist. Sie habe "in sehr schwierigen Zeiten Verantwortung für ein sehr schwieriges Amt übernommen", sagte sie zum "Spiegel", und diese Verantwortung gebiete es, "dass ich meine Aufgaben ebenso klar und ernsthaft wie bislang erfülle". Zweifel daran werden selbst aus den Reihen der Ampel-Koalition laut: "In solchen Zeiten darf man politisch nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen", sagte der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz, die sich "nun abzeichnende, monatelange Doppelbelastung" dürfe keinesfalls zu Lasten der Inneren Sicherheit des Landes gehen.
Für ihr Vorgehen, das auch vonseiten der Opposition scharf kritisiert wurde, habe sich Faeser die "volle Rückendeckung" von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eingeholt. Der ließ daran keinen Zweifel aufkommen, indem er Faeser bei einer Fragerunde mit Bürgern im hessischen Marburg als "eine hochprofessionelle, tolle Ministerin" bezeichnete, die "großartige Arbeit" leiste ihren Pflichten im Bundesinnenministerium nachkommen werde.
Damit ist immerhin das Risiko für Faeser, in die "Röttgen-Falle" zu tappen, abermals gesunken. Der Name Norbert Röttgen wurde in den vergangenen Tagen immer wieder in Verbindung mit der Bundesinnenministerin gebracht, obwohl die Fälle bei genauerer Betrachtung wenig miteinander gemein haben. Auch Faeser selbst wies Parallelen zurück.
Der frühere Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) hatte 2012 die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verloren. Seinerzeit wollte sich der Spitzenkandidat der CDU nicht festlegen, ob er im Falle einer Niederlage als Oppositionsführer nach Düsseldorf wechseln oder als Minister in Berlin bleiben wolle. Nach einer historischen Wahlschlappe entschied er sich für Berlin, wurde kurz darauf aber von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aus dem Kabinett geworfen.
Faeser hingegen hat ihre Absichten nun offengelegt. Auch die Rückfalloption hatte Röttgen nicht, der – ein weiterer Unterschied – weitaus weniger landespolitische Erfahrung ins Feld führen konnte. Faeser ist seit 1996 in der Kommunal- und Landespolitik tätig, saß 18 Jahre im Wiesbadener Landtag, wurde 2019 Vorsitzende der hessischen SPD und war zuletzt rund zwei Jahre Fraktionschefin, bis Scholz sie im Dezember 2021 als erste Frau an die Spitze des Bundesinnenministeriums in Berlin holte.
Aber was, wenn Faeser gewinnt? Scholz hält die Ministerin offensichtlich für unverzichtbar, sonst hätte er die Doppelrolle wohl kaum abgesegnet. Im Falle eines Wahlsieges müsste er sein Kabinett jedoch erneut umbilden und das Innenministerium neu besetzen. Für den Wechsel im Bundesverteidigungsministerium hatte er schon die Geschlechterparität aufgegeben, indem er Boris Pistorius zum Nachfolger von Christine Lambrecht (beide SPD) ernannte. Sollte Faeser die Landtagswahl verlieren, würde sich diese Frage nicht stellen. Eine Niederlage würde sie als Bundesinnenministerin aber möglicherweise beschädigen. Ohne Risiken bleibt die Kandidatur damit nicht – auch nicht für den Kanzler.
Quellen: "Hessenschau", "Spiegel", "t-online", Deutschlandfunk