Reaktion auf Selenskyj-Ansprache Beschämend, empathielos, würdelos: So hart geht die Presse mit dem Bundestag ins Gericht

Standing Ovations im Bundestag für Ukraine-Präsident Selenskyj
Zuhören. Klatschen. Tagesordnung. Das Verhalten des Bundestages nach der per Video übertragenen Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj ist einhellig als beschämend verurteilt worden.
© Michael Kappeler / DPA
Kein Innehalten, keine Nachdenklichkeit, keine Aussprache: Selten hat das Verhalten des Bundestags so einhellige Kritik ausgelöst. Die Kommentatoren der deutschen Medien rechnen mit den Parlamentarier:innen ab.

Die Worte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selesnkyj waren eindringlich, sie waren vorwurfsvoll und er sprach Bundeskanzler Olaf Scholz direkt an, forderte ihn auf, neue Mauern einzureißen, um der vom Krieg erschütterten Ukraine zur Seite zu stehen. Zu sagen hatte der Kanzler dazu nichts; der gesamte Bundestag sagte dazu nichts. Die Kritik der seltenen Allianz aus CDU/CSU und Linken verhallte. Man ging zur Tagesordnung über.

Selten war das Urteil der Kommentatoren einhelliger: Es war ein beschämender Tag für das deutsche Parlament. Die Pressestimmen:

Die Rufe des ukrainischen Präsidenten nach Hilfe und seine Anklagen hallten nach, doch reden wollte die Ampelregierung darüber partout nicht – man musste ja zur Tagesordnung übergehen. Die Tagesordnung ist die letzte Sicherheit in disruptiver Zeit. Das war so empathielos wie würdelos, ein Akt zum Fremdschämen. Und das in einem Land, das im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine gewütet und geschändet hat, aktuell von den russischen Drogen Öl und Gas nicht lassen will und auf diese Art Wladimir Putins Kriegskasse füllt. Mehr Fortschritt wagen? [so der Titel des Koalitionsvertrages, Anm. d. Red.] Mehr Debatte wagen!

Selenskyj bittet Kanzler Olaf Scholz persönlich, diese neue Mauer einzureißen. Und was macht der Bundestag? Er hält nicht inne, er redet auch nicht darüber, was Selenskyj gesagt hat. Das deutsche Parlament geht einfach zur Tagesordnung über. Göring-Eckardt gratuliert zwei Abgeordneten zum Geburtstag und lässt über die Einführung einer Corona-Impfpflicht debattieren. Die Union protestiert, die Fraktionen streiten. Ihr Applaus im Stehen für den ukrainischen Präsidenten, der vielleicht sein Leben in diesem Krieg geben wird, ist schon verhallt. Beschämend. Sie hätten wenigstens schweigen können – vor und nach seiner Rede.

(...) offenbar hat Selenskyj noch nicht die Hoffnung aufgegeben, Berlin könnte doch noch etwas liefern, das panzerbrechender ist als Solidaritätsfloskeln. Und/oder den Beitrittswunsch zur EU unterstützen. Selenskyj setzte – schonungslos – den Hebel dort an, wo er in Deutschland die größte Wirkung hat: bei der Frage, welche Verpflichtungen aus den Verbrechen und Fehlern der Vergangenheit erwachsen. Noch nie bekam der Bundestag von einem Gast zu hören, das "Nie wieder!" sei "einfach nichts wert". Nord Stream 2 sei kein wirtschaftliches Projekt, sondern eine "Waffe" und der "Zement der Mauer", die mit deutscher Hilfe in Europa errichtet werde. Diese Vorwürfe müssen Bundeskanzler Scholz und vielen weiteren Zuhörern im Saal oder im Ruhestand in den Ohren gedröhnt haben wie Geschützfeuer.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Selenskyj "Auch Standing Ovations können eine Abfuhr sein"

ZDF

Auch Standing Ovations können eine Abfuhr sein. So erging es heute dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Deutschen Bundestag.

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"Spiegel"

Lange hat sich ein demokratisches Parlament nicht mehr so blamiert. "Ich glaube, in so einem Moment ist Zuhören eine echte Stärke", hatte Außenministerin Annalena Baerbock vor der Rede gesagt. "Zuhören, das Wort stehen lassen." Klingt gut, stimmt aber nicht. Wenn die Abgeordneten wirklich zugehört hätten, dann hätten sie auf die Rede Selenskyjs nicht mit Geburtstagsgrüßen reagiert. Das war keine Rede, die man dankend zur Kenntnis nimmt, um sich dann über die Tagesordnung zu streiten. Das war eine Rede, die eine ehrliche Antwort erfordert hätte. (...) 

Es gäbe viel zu besprechen. Die Abgeordneten, die Ministerinnen und Minister, der Kanzler, sie hätten darlegen können, warum sie mit den Ukrainerinnen und Ukrainern leiden, aber trotzdem nicht alle ihre Wünsche erfüllen können. Dass Selenskyj eine Flugverbotszone fordert, dass er die Nato im Krieg an seiner Seite haben möchte, ist verständlich. Dass die Bundesregierung das ablehnt, ist dennoch richtig. Auch das ist eine Entscheidung, die man nicht einmal verkünden kann, sondern die immer wieder begründet werden muss. Je länger der Krieg dauert, desto häufiger.

"Die Zeit"

Auf eines kann man sich in diesem Land verlassen: dass es noch bei den grundstürzendsten Themen gelingt, sie auf ein den Deutschen gewohntes Maß zurechtzuschrumpfen. Selbst der Krieg wird so zum Material für deutsche Routinen und Befindlichkeiten. Wie der Bundestag am Donnerstagmorgen mit der historischen Rede des zugeschalteten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj umgegangen ist, war ein Tiefpunkt des Parlamentarismus.

"Wenn Du geredet hättest, Olaf Scholz, hätte ich Dich für einen Kanzler gehalten"

"Frankfurter Rundschau"

Wolodymyr Selenskyj ist ein großer Redner. Langer Beifall folgte seinem Wunsch, dass sich die Deutschen im Rückblick "nicht schämen" müssten, wenn sie der "historischen Verantwortung" angesichts von Putins Krieg nicht gerecht würden. Doch was folgte, war eine schwarze Stunde des deutschen Parlamentarismus. Die Unionsfraktion vergriff sich unfassbar im Ton, der Kanzler blieb sprachlos und die Ampel-Fraktionen verhedderten sich in einer unwürdigen Geschäftsführungsdebatte. Hätte Selenskyj das Wort "schämen" nicht gerade in einen weltpolitischen Zusammenhang gehoben – für dieses Verhalten des Parlaments bliebe nur die Hinterhofbedeutung von Scham. Olaf Scholz ließ diesen Moment regungslos vorübergehen. Wie kann er nach so einer Rede schweigen? Wie kann er diese aufwühlenden Worte unkommentiert lassen? Wenn Du geredet hättest, Olaf Scholz, hätte ich Dich für einen Kanzler gehalten.

Wolodymyr Selenskyj
Wolodymyr Selenskyj wurde in den Bundestag geschaltet
© Michael Kappeler / DPA
Selenskyj im Bundestag: Vorwürfe gegen Deutschland – aber auch Dank

"Südwest Presse"

Kaum hatte Wolodymyr Selenskyj seine Ansprache beendet, brach im deutschen Parlament eine tumultartige Diskussion aus, die beschämend war. Es ging nicht um die harten Vorwürfe des ukrainischen Präsidenten, der zum Ausdruck brachte, wie sehr sich sein Land von unserem im Stich gelassen fühlt, sondern darum, ob man unverzüglich eine Debatte im Plenum führen müsse. Tatsächlich wirkte es befremdlich, dass sich an die eindringliche Ansprache des ukrainischen Präsidenten das Thema Impfpflicht anschloss. Allerdings wirkte der Oppositionsvorstoß wegen seiner Kurzfristigkeit viel zu berechnend, als dass er sonderlich glaubwürdig hätte sein können.

"Stuttgarter Nachrichten"

Das saß. Überaus geschickt hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Rede im Bundestag dazu genutzt, der deutschen Außenpolitik den Spiegel vorzuhalten. Parlament und Regierung ins Gesicht zu sagen, wie leisetretend und dienstbeflissen sie so viele Jahre gegenüber der russischen Politik aufgetreten sind. Dennoch wäre es falsch, Selenskyj nun blind zu folgen. Zwar hat Deutschland größtes Interesse, die Ukraine auf vielfältige Art und auch mit Waffen zu unterstützen. Sich aber durch Flugverbotszonen, wie die Ukraine sie von der Nato fordert, oder dergleichen in den Krieg gegen Russland ziehen zu lassen - das hieße: Diesen Krieg zum europäischen Flächenbrand auszuweiten.

dho