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Spitzenkandidat der SPD Auf der Suche nach Frank-Walter Steinmeier

Er trug Che-Guevara-Bart, war als Juso richtig links. Er wohnte in einer WG. Ohne Orgien, natürlich. Der Tischlersohn aus Brakelsiek ist von jeher vorsichtig. Freundlich, fleißig und überlegt - auch als Spitzenkandidat der SPD. Die Geschichte eines Mannes, der im Herbst Kanzler werden will.
Von Jan Rosenkranz

Mieze Katz schleicht durch die Traube Mensch, den Kandidaten fest im Blick. Er hat gerade eine kluge Rede gehalten, über Kulturpolitik. Jetzt steht er im Jüdischen Museum zu Berlin, dicht umringt von Kulturmenschen, Reportern, Genossen und eben Mieze Katz, die so heißt, weil sie Künstlerin ist und Sängerin bei der Band Mia. "Es ist dringend", sagt sie. "Sie müssen jetzt richtig zupacken." Und: "Seien Sie bitte nicht immer so schüchtern." Der Kandidat stutzt. "Ich, schüchtern?", sagt er und lächelt unsicher, "also, das hat mir noch keiner gesagt." Und bevor ihn die Traube wieder verschluckt, fragt er noch: "Meinen Sie das wirklich ernst?"

Schüchtern also. Auch das noch. Egal, wo sich Frank-Walter Steinmeier, 53, herumtreibt, immer wieder muss er feststellen, dass die Leute noch kein rechtes Bild von ihm haben. Freundlich, nett und kompetent, ja, doch auch unscharf irgendwie. Über fünf Monate ist er inzwischen Kanzlerkandidat der SPD, Herausforderer von Angela Merkel. Manche Genossen beschleicht das Gefühl, sie müssten ihn öfter mal daran erinnern. Die Partei steckt im 25-Prozent-Loch. Und ihr Spitzenmann wirkt zuweilen merkwürdig gebremst.

Das ist Steinmeiers Dilemma: Als Kandidat muss er Profil gewinnen - auch gegen Merkel. Als Vizekanzler aber muss er in diesen Krisenzeiten bis zuletzt regieren - mit Merkel. Also nörgelt er schon mal, ihr fehlten Führungsstärke und "nötige Orientierung", wehrt sonst aber alle ab, die ungeduldig "Attacke!" rufen: "Wir werden noch viel Zeit haben, die Klingen miteinander zu kreuzen." Weil er glaubt, dass es in dieser Krise nicht viel zu gewinnen gibt, aber viel zu verlieren. Weil er weiß, dass niemand weiß, was noch alles kommt.

Schon immer vorsichtig

Er ist eben ein vorsichtiger Mensch. Immer schon gewesen. Von klein auf. "Frank-Walter war noch nie einer, der rauspoltert", sagt sein alter Lateinlehrer Dieter Machentanz. "Er hat auch mal rumgealbert, aber im Grunde war er immer schon ein Ernster und Verschlossener", sagt sein Jugendfreund Peter Hausstätter. "Der spricht nicht über Gefühle", sagt sein Studienfreund Klaus Thommes. Auch heute "sagt er nur ‚och‘ und lächelt milde", wenn Thommes ihn danach fragt.

Er redet eben nicht viel über sich. Er schweigt ganz gerne. Und wenn Steinmeier spricht, dann klingt es so oft nach "sowohl als auch" und selten nach "ja" oder "nein". Und so ist dieser Mann nach gut drei Jahren im Außenamt vielen Menschen noch immer ein Rätsel. Wo kommt er her, wo will er hin? Man weiß wenig über ihn. Sieht nur seit Jahren das gleiche Bild: weißhaariger Mann im Sonntagsstaat, der mit ernstem Blick Vernunft verkündet. Immer nur Vernunft. Nie Leidenschaft.

Es fällt schwer, sich diesen seriösen Herrn als Studenten mit fransigem Che-Guevara-Bart vorzustellen, der er in den 70er Jahren war. Oder als bolzenden Jungen beim TuS 08 in Brakelsiek, wo ihn alle "Prickel" riefen. Eine Ampel, eine Tankstelle, zwei Gasthäuser, kein Bäcker mehr, dafür viel Fachwerk - das ist das Dorf, aus dem er stammt. An dem heute noch sein Herz hängt. 1050 Seelen, umringt von Wald und Acker, im hügeligen Lipperland, dem nordöstlichen Zipfel Nordrhein-Westfalens. Viel Gegend, wenig Schnörkel.

Die Lipper sind bodenständig

Steinmeier erzählt zuweilen, dass hier der Kupferdraht erfunden wurde. Weil die Lipper jeden Cent so lange umdrehen, bis er lang und dünn ist. So sparsam sind sie. "Bodenständige, ehrliche Leute, die nie verwöhnt waren." Einfache Menschen wie sein Vater Walter, heute 80 und noch aktiv im Turnverein, der als Tischler in der Möbelfabrik arbeitete und später bei Eichhof-Kanalreinigung. Menschen wie seine Mutter Ursula, 79, die als Flüchtling aus Breslau kam. Auch sie hat hart geackert, in der kleinen Pinselfabrik vom Herrn Fröger und auch mal in der Forstwirtschaft.

Sie lebten nie im Überfluss. Aber anders als beim zwölf Jahre älteren Gerhard Schröder, der im nahen Mossenberg geboren wurde und in fast asozialen Verhältnissen aufwuchs, war in Steinmeiers Kindheit die schwerste Not der Nachkriegszeit schon überstanden. Man hatte drei Schweine, ein Dutzend Hühner, moderne Glasbausteine am Haus und im Keller einen Partyraum.

Im Sommer nimmt die Mutter den kleinen Frank und seine Freunde Friedhelm, Jürgen und Udo manchmal mit zur Arbeit in den Schwalenberger Wald, wo sie durchs Unterholz streifen und Hütten bauen. Der blonde Junge träumt von Kara Ben Nemsi, dem weit gereisten Helden aus Karl Mays Romanen. Er will Sportreporter werden, später auch mal Architekt. Als es ernst wird, entscheidet er sich aber für den "sicheren Brotjob" und beginnt ein Jurastudium. In den Ferien schuftet er bei Schieder-Möbel im Nachbarort - Schrankwände, Eichenfurnier, er baut die Barfächer ein.

Den Rasen aber mäht er meistens selbst

Heile Provinz. "Du bist Deutschland"-Idyll. Bodenständig, unaufgeregt, normal. Er ist es immer noch, auch wenn er jetzt beruflich um die Welt fliegt und auf rotem Teppich wandelt. Abgehoben ist er nie. Wohnt mit seiner Frau Elke Büdenbender, 47, einer Verwaltungsrichterin, in einer Doppelhaushälfte im bürgerlichen Berliner Stadtteil Zehlendorf, wo im Keller der Hometrainer verwaist. Den Rasen aber mäht er meistens selbst. Und wenn gerade keine Krise ist, geht er auch zum Elternabend seiner Tochter Merrit. Sie ist 13, reitet gern und freut sich, wenn Papa ihr hilft, den Pferdestall auszumisten. Kommt aber selten vor.

Man muss sich wohl daran gewöhnen, dass jetzt Politiker an der Spitze stehen, deren Lebensweg keine furchtbaren Härten kennt, allenfalls brave Bescheidenheit. Steinmeier hatte keine Flakhelfer-Jugend. Litt keinen Nachkriegshunger. Musste nicht mal eine Wende überstehen. Er wurde zu Fleiß und Ehrgeiz erzogen. Es war nicht alles leicht, aber er brauchte keine Brocken aus dem Weg zu räumen. Das Arbeiterkind aus Brakelsiek gehört zu den glücklichen Kindern der Wohlstandsrepublik. Das klingt langweilig, aber dafür kann er nichts.

"Ich war der Erste in meiner Familie, der Abitur machen durfte, und ich war stolz wie Bolle, als ich zum ersten Mal die Schwelle zur Universität übertreten habe", sagt Steinmeier. Nein, er röhrt es in den kleinen Saal, als wäre es ein Marktplatz. Er presst die Worte raus wie einst sein Mentor Schröder. Die Dortmunder Genossen, die sich an diesem Samstag im vorigen April versammelt haben, staunen nicht schlecht. Ist das derselbe Steinmeier, den sie aus dem Fernsehen kennen? Der Herr Außenminister mit den verschlungenen Sätzen?

Sozialdemokratisch wie nie

Steinmeier hält eine Grundsatzrede. Es ist eine Generalprobe vor kleinem Publikum. Er schwärmt von der Bildungsoffensive der 60er und 70er Jahre. Vom Versprechen, "die von unten" über Bildung in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Er klingt so sozialdemokratisch wie nie. Er wirkt wie von der Kette gelassen. Neues Selbstbewusstsein, nicht ewige Zurückhaltung. Alle im Saal spüren: Hier spricht der Mann, der Kandidat werden will!

Und das ist sein Sound: Strengt euch an, es wird sich lohnen. Das war schon auf dem Fußballplatz so, wo alle doppelt rackerten, wenn Trainer Ernst Null für den Sieg gegen TSV 04 Lothe ein Blech But- terkuchen auslobte. Steinmeier nennt diese Melodie "die sozialdemokratische Erzählung". Eine Erzählung von Aufstieg durch Bildung. Von Gerechtigkeit durch Bildung. Er hat sie ja selbst so erlebt, er, der Tischlersohn, der studieren durfte.

Frank-Walter Steinmeier ist nicht der Einzige seiner Grundschulklasse, der aufs Gymnasium gehen könnte, aber er ist der Einzige, der geht. Sein Lehrer hält ihn für klug und redet den Eltern gut zu. Frank sagt: "Gut, ich versuch das mal." Er ist zehn Jahre alt, und ein bisschen mulmig ist ihm schon zumute, als er das erste Mal in den Bus nach Blomberg steigt - zehn Kilometer über die Dörfer mit Stolz in der Brust und Ehrfurcht im Magen. "Ich war ein durchschnittlicher Schüler, kein Überflieger, ich habe mich so durchgehangelt", sagt er heute. Naturwissenschaften, na ja, aber in Geschichte stand er meistens auf Eins.

Fritz Töllner saß ein paar Jahre neben ihm. Die dicksten Kumpel waren sie wohl trotzdem nie. "Er war kein Schlechter, aber den musste man mit Vorsicht genießen", sagt Töllner heute. "Er war schon immer ein Blender." Sicher - egal, auf wessen Spuren man sich in die Vergangenheit begibt, immer stößt man auch auf kleine gemeine Geschichten. Geschichten über einen, der bei Klassenarbeiten nicht abschreiben ließ und bei Streichen lieber nicht dabei war. Der in der Tanzschule nur schwer ein Mädchen abbekam. Und selten mal nichts aß.

Aber wen man auch fragt, Mitschüler und Mitspieler, Freunde und Neider - in einem sind sich alle einig: Der Frank war schon okay. Ein ruhiger Typ. Kein Draufgänger. Immer überlegt. Immer vorsichtig. Nachmittags hockt er oft mit seinem Kumpel Peter Hausstätter über den Hausaufgaben. Wenn der Vater um halb fünf mit seiner polierten 250er BMW von der Arbeit geknattert kommt, gibt's Kaffee und dazu Wurst aufs Brot. Stundenlang sitzen sie in der Küche, quatschen über dies und das und was so in der Zeitung steht. Vater und Sohn vor allem. Peter denkt oft: "Mensch, wovon reden die?" Mit Politik hat er nichts am Hut. Immer wenn Frank davon anfängt, sagt er nur: "Nee, lass mal, Politik bringt nur Ärger."

Aber Frank will nicht lassen. Er ist längst angefixt - vom Grundschullehrer, vom Jugendkreis beim Pfarrer und von Gesprächen mit Heinrich Delker, dem väterlichen Freund und Chef des SPD-Ortsvereins. "Damals fing ich an, über Ungerechtigkeiten politisch nachzudenken", sagt er. Anfang der Siebziger taucht er bei den Jungsozialisten auf, die sich gerade im Nachbarort Schwalenberg formieren. Später verbringt er so manches Wochenende damit, "irgendwelche Initiativanträge für irgendwelche Juso-Treffen" zu verfassen, während die Kumpels an ihren Kreidler Florett frickeln.

Mal raus aus dem Dorf

In Schwalenberg lernt Steinmeier den Gewerkschafter Heinz Verbic kennen, den "roten Verbic", wie sie ihn noch heute nennen. Immer im Widerstand, immer auf der Barrikade. Er ist zehn Jahre älter, Betriebsrat, Genosse - und Juso-Chef am Ort. Sie fahren zu DGB-Festen nach Blomberg. Oder zu Demos nach Detmold. Mal raus aus dem Dorf. Damals war das schon was.

Auch später, nach dem Wehrdienst, Steinmeier studiert schon in Gießen, fährt er Verbic oft besuchen - mit seiner blauen Ente und "Monona", seiner schwarzen Mischlingshündin. Bringt Bücher mit oder überspielte Kassetten, "Biermann live" und "100 Jahre Deutsches Arbeiterlied". Nächtelang hocken sie in Verbics verkramter Arbeitsbude, tüfteln an Papieren, die sie von Hand mit Matrizen kopieren. Verbic agitiert, Steinmeier formuliert. So sind die Rollen auch später aufgeteilt - zwischen Steinmeier und Schröder. Steinmeier kümmert sich ums Detail, Schröder um die große Linie. Damals in Brakelsiek war die freilich noch eine andere. "Doch, doch", sagt Heinz Verbic, "für SPD-Verhältnisse waren wir verdammt links."

Steinmeier selbst sagte mal in einer Rede: "Ich war kein 68er mehr, eher ein 74er. Einer, der schon mit etwas Distanz und Unverständnis auf die Atomisierung der Linken in immer feinziseliertere Theoriestreitigkeiten schaute." So haben ihn auch die alten Freunde von der Juso-Hochschulgruppe in Erinnerung: ruhig, zurückhaltend - aber noch weit entfernt von der Mitte. "Sicher gehörte er nicht zum autonomen Spektrum. Aber er war eindeutig links", sagt sein Kumpel Klaus Thommes. Und Winfried Möller, damals Asta-Chef der Uni Gießen, sagt: "Wir waren eine richtig linke Gruppe, und der Frank stand nicht naserümpfend am Rand."

Kollegen zweifelten, ob er überhaupt ein Sozi ist

Ausgerechnet dieser Radikalvernünftige, der die eigene Partei heute leise, aber ständig vor dem "Links-Rutsch" warnt? Der die dunkelroten Abenteuer der hessischen SPD von Anfang an nur irre fand, auch wenn er nichts dagegen unternahm? Lange Zeit zweifelten nicht wenige Parteifreunde, ob das überhaupt ein Sozi ist. Der geistige Vater der Agenda 2010 verströmt nicht gerade Stallgeruch. Inzwischen ist er sehr gut in der SPD verdrahtet, als prominenter Vertreter des rechten Flügels, der "Seeheimer". Es ist kein ungewöhnlicher Weg: von links unten nach rechts oben.

Doch was heißt schon "rechts" und "links" im Angesicht der Krise? In Zeiten wie diesen, in denen zig Milliarden in Konjunkturpakete und Banken-Rettungsschirme fließen, in denen selbst CDUler von Verstaatlichung sprechen, hört man auch von Steinmeier unbekannte Töne. Reichensteuer. Hartz-IV-Erhöhung. Schutzschirm für Arbeitsplätze. Neuordnung des Finanzsystems. Seltsame Töne. Sie klingen noch so fremd aus seinem Mund.

Schon aus taktischen Gründen hat er lange vor der Krise begonnen, ein anderes Bild von sich zu zeichnen. Er sendet Signale an die Partei-Linke und an die abtrünnigen Wähler, die er zurückgewinnen will. Zurückgewinnen muss, will er im Herbst eine Chance haben. Bereits im ersten Statement als designierter Kandidat war das zu spüren: "Wir wollen, dass niemand am Rand der Gesellschaft liegen bleibt." Und: "Wir wollen ein Land, in dem die starken Schultern für die schwachen einstehen und wo den Schwachen geholfen wird, stark zu werden." Keine revolutionären Thesen, aber Versöhnungsgesten. Ich, der Agenda-Macher, ich kann auch anders.

Keine Botschaft

Nur eins kann er leider nicht: Verkaufen. Weihnachten verbrachte er damit, an einem Konjunkturprogramm zu tüfteln. Es sollte sein Aufschlag werden für das Wahljahr. Der Beweis, dass er der Richtige ist in Zeiten großer Gewitter. Dass auch er Krise kann. Die SPD setzte sogar eine Menge durch. Nur bemerkt hat es mal wieder keiner. Weil Steinmeier bei all seinen Auftritten keinen einzigen Satz sagte, der im Gedächtnis blieb. Keine Botschaft, nirgends. Wunderkerze statt Feuerwerk.

Der Kandidat lernt eben noch. Er weiß ja selbst, dass er kein Obama ist, nie einer wird. Er glaubt, dass dieser Politikertypus nicht gefragt ist hierzulande - wo man das Sachliche zu schätzen weiß; wo man sich zwar nach Glamour sehnt und trotzdem Merkel spitze findet. Steinmeier hat sich dennoch beeilt, um als einer der Ersten die neue US-Regierung zu besuchen. Obama hatte keine Zeit, aber die neue Amtskollegin Hillary Clinton empfing ihn mit offenen Armen. Er hofft, dass ein bisschen vom Glanz des neuen Amerikas auch auf ihn abstrahlt. Schaden kann das nicht.

Die meiste Zeit seines Lebens war Steinmeier ein Mann der Sakristei. Kein Mann der Kanzel. Beim Fußball nicht der Star der Mannschaft, sondern Wasserträger im defensiven Mittelfeld. An der Uni geht er in die Juso-Hochschulgruppe, aber die großen Reden schwingen andere.

Fleißiger Student

Gießen, Ende der Siebziger: Steinmeier bewohnt mit Freundin Waltraud, die er vom Gymnasium kennt, ein kleines WG-Zimmer direkt unterm Dach eines winzigen Hauses. Die Zeit der Hippie-Kommunen ist vorbei. Statt wilder Orgien gibt es politische Debatten und dazu Bier und Schmierchelkuchen, die hessische Spezialität mit Kartoffeln und Schmand. Er studiert fleißig, ist gut, wird Mitarbeiter von Professor Helmut Ridder, damals ein Star unter den Staatsrechtlern. Schreibt eine Dissertation mit dem Titel: "Bürger ohne Obdach - zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum" und nebenbei Aufsätze für die Juristenzeitschrift "Demokratie und Recht". Alles deutet auf eine Laufbahn im Wissenschaftsbetrieb hin.

Bei Ernst-Ulrich Huster besucht Steinmeier als junger Student Politikseminare. Sie freunden sich an. "Wir hatten ein Credo", erinnert sich Huster, heute einer der führenden Armutsforscher und schärfsten Kritiker der Hartz-Reformen: "Wir reden über Politik, aber wir werden keine Politiker." Sie meinten das ganz ernst. Sie sahen sich als Wissenschaftler. Der Mittelbau der Uni, das war ihre Welt. Eines Tages bewirbt sich Steinmeier trotzdem auf die Stelle als Medienreferent in der Staatskanzlei Hannover. Er will im "Grenzbereich zwischen Politik und Juristerei" arbeiten. Außerdem hat in Niedersachsen "so ein neues Projekt" begonnen: Rot-Grün.

Er ist 35 Jahre alt, als sein bis dahin wohl geordnetes, ruhiges Leben in völlig neue Bahnen gerät. Es fängt ganz harmlos an: "Lass uns mal gucken, ob der Schröder da ist", sagt Reinhard Scheibe nach dem Vorstellungsgespräch. Scheibe ist Chef der Staatskanzlei und noch heute ein Freund. Sein Zimmer liegt direkt neben dem des neuen Ministerpräsidenten. Kurzes Hallo, freundliches Geplänkel. "Als ich zehn Minuten später rausging, sagte Schröder: Der passt zu uns", hat Steinmeier mal erzählt. "Und damit war die Sache gegessen."

Schröder mochte ihn gleich

Anfangs bezieht Steinmeier ein kleines Arbeitszimmer, das nur über eine Hintertreppe zu erreichen ist. Schröder deckt ihn mit Arbeit ein. Ein Transplantationszentrum in Hannover? Steinmeier kümmert sich. Konferenz zum Länderfinanzausgleich? Steinmeier fährt mit. "Schröder hat sehr früh einen Narren an ihm gefressen", erinnert sich Scheibe.

Sie kommen aus derselben Gegend. Sie können miteinander. Steinmeier ist fähig. Und Schröder braucht frische Leute, die er aussaugen kann. Es ist ein Fulltime-Job, zum Schröder-Kreis zu gehören. Und Fulltime heißt 24 Stunden. Heißt Ideen entwickeln. Oder ausreden. Heißt spät abends noch auf ein Pils zu Renate ins "Üme Ecke". Steinmeier macht den ganzen Wahnsinn mit. Und keine Fehler. Nach fünf Jahren ist er Chef der Staatskanzlei.

Wer ihn heute eine Rede halten hört, wer dabei die Augen schließt und seinen Worten lauscht, dem spukt das Bild von Schröder durch den Kopf. Man kann sich nicht dagegen wehren. Es ist nicht nur die Stimme, dieses rauchige Röhren mit lippischem Einschlag. Es ist mehr. Die Melodie. Die Wortwahl. Das trotzige Mantra vom "Wir sind es doch gewesen" des einstigen Kanzlers.

Der Kümmerer

Es ist ein riesiger Schatten, aus dem er so einfach nicht heraustreten kann. 15 Jahre lang hat er mit Schröder in Symbiose gelebt. Hat mehr Zeit mit ihm verbracht als mit seiner Ehefrau. War Kummerkasten, Ratgeber und "Mach mal". Nächtelang, wochenlang hat er in diesem Betonklotz von Kanzleramt gesessen und über der Agenda 2010 gebrütet. Sie haben über Kriege entschieden und über die Neuwahl. Sie haben die SPD fast in den Abgrund gerissen. So etwas streift man nie ab.

So etwas vergessen auch die Wähler nicht. Seit mehr als drei Jahren ist Steinmeier Minister, seit gut einem Jahr Vizekanzler und stellvertretender SPD-Chef dazu. Doch noch immer gilt er vor allem als "der Schröder-Buddy". Noch immer wird sein öffentliches Bild bestimmt vom übermächtigen Exkanzler. Dem irren Wahlkämpfer. Dem Zocker. Dem Brioni-Barolo-Cohiba-Macho. Noch immer wird Steinmeier mehr an ihm gemessen als an ihr, der Kanzlerin. Das nervt ihn. Er weiß: Es ist seine Bürde. Das falsche Bild.

"Ist es richtig, dass die Kanzlerkandidatur zu Ihren Gunsten entschieden worden ist?", hat ihn im Sommer mal ein Journalist gefragt. "Wieso zu meinen Gunsten?", hat Steinmeier geantwortet.

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