Karl-Josef Wasserhövel, gerufen "Kajo," Intimus des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering und Chefplaner des SPD-Wahlkampfs, blickte unlängst arg verdrossen drein. Beim Hintergrundgespräch mit Journalisten wurde er gefragt: "Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, dass durch die Linkspartei Gefahr droht für ihre Überhangmandate?"
Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mit den Erststimmen mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach den Zweitstimmen zustünden. Beispiel: Bei der Bundestagswahl 1994 gewann die CDU in Baden-Württemberg alle 37 Wahlkreise und damit 37 Direktmandate. Bei den Zweitstimmen, die über die Sitzverteilung entscheiden, kam sie jedoch nur auf 43,3 Prozent. Dafür hätten ihr nur 35 Sitze im Bundestag zugestanden. Also bekam die CDU zwei Überhangmandate.
Überhangmandate verfassungswidrig
Geantwortet hat Wasserhövel auf die ihm unbequeme Frage nicht, er ließ lieber Müntefering drei Tage später per Interview in der "Frankfurter Rundschau" antworten. Der SPD-Chef präsentierte dort völlig überraschend für die Journalisten, die mit ihm sprachen, ein Thema, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Im Koalitionsausschuss, so Müntefering, müsse die Reform des Wahlrechts zum Thema gemacht werden. "Da müssen wir dringend ran."
Das fällt der SPD relativ spät ein. Denn das Verfassungsgericht hat bereits im Juli letzten Jahres entschieden, dass die Vergabe von Überhangmandaten verfassungswidrig ist. Der Bundestag wachse regelmäßig dadurch über die vorgesehenen 598 Mandate hinaus. Unterm Strich des Systems werden Parteien mit vielen Direktmandaten bevorzugt, kleine benachteiligt. Allerdings räumten die Richter für ein neues Wahlrecht eine Frist bis zum Juni 2011 ein.
Linkspartei als unfreiwilliger Wahlhelfer
Bisher hat sich die SPD nicht an diesem Wahlsystem gestört. Denn 2005 bekam sie neun Überhangmandate, die CDU sieben. stern.de hat jetzt das Meinungsumfrage-Institut Forsa gebeten, die vermutliche Verteilung der Überhangmandate bei der Bundestagswahl im September zu berechnen. Unterstellt wurde von Forsa dabei folgendes Wahlergebnis: CDU 36 Prozent, SPD 24, FDP 14, Grüne 9, Linkspartei 11. Unterm Strich steht beim Blick auf Überhangmandate jetzt ein klarer Sieg der CDU. Sie kommt lauf Forsa auf 11 Mandate, die SPD fällt auf 6 zurück.
Ursache ist die Linkspartei und ihre Sogwirkung auf SPD-Wähler. Sie sorgt als unfreiwilliger Wahlhelfer dafür, dass zahlreiche SPD-Wahlkreise, die bisher knapp von ihr direkt gewonnen worden sind, 2009 an die CDU gehen. Experten schätzen, dass die SPD von den 2005 direkt gewonnenen Mandaten wegen der Linkspartei rund 50 an die CDU verliert. Die SPD kommt danach nur noch in Hamburg (3), Brandenburg (2) und Mecklenburg-Vorpommern auf sechs Überhangmandate. Die CDU in Schleswig-Holstein (1), Rheinland-Pfalz (1), Baden-Württemberg 5, Sachsen (3) und Thüringen (1) auf 11 Überhangmandate. Möglicherweise kommen in Bayern noch zwei hinzu, wenn die CSU erneut wieder fast alle Direktmandate holt, jedoch bei den Zweitstimmen deutlich unter den 50 Prozent bleibt, die sie früher stets erreicht hat.
Müntefering jammert jetzt. Er geht sogar von 19 Überhangmandaten aus, mit klarem Übergewicht für die CDU. Man stelle sich vor, klagt er, dass "durch verfassungswidrige Mandate eine bestimmte Regierungsbildung ermöglicht wird." Gemeint ist dabei natürlich eine CDU/CSU-FDP-Koalition. Er fordert die ersatzlose Abschaffung der Überhangmandate. Darüber müsse im März im Koalitionsausschuss geredet werden.
Auch Grüne wollen Änderung
Unterstützung dafür findet die SPD-Forderung bei den Grünen, die bereits einen entsprechenden Gesetzentwurf der Fraktion eingebracht haben. Der grüne Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck: "Die nächste Wahl muss verfassungskonform ablaufen." Die Linkspartei begrüßt die Diskussion ebenfalls, glaubt aber, dass es für die Reform des Wahlrechts bereits fast zu spät ist. Zwar plädiert auch Bundestagpräsident Norbert Lammert (CDU) für eine Wahlrechtsreform. Sie sei "unbedingt erwünscht." Bei gutem Willen sei es durchaus möglich, das Wahlrecht so rechtzeitig zu korrigieren, dass es schon bei der kommenden Wahl angewendet werden kann. Aber die CDU taktiert erst einmal. Es sei sehr fraglich, ob man so kurz vor der Wahl noch zu einer vernünftigen Lösung kommen könne.

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Die Wahlrechtsexperten der CDU argwöhnen, die SPD wolle jetzt den schlichten Versuch starten, ihre Partei als Reformverweigerer anzuprangern. Ihr gehe es nicht ums Wahlrecht, sondern allein um die Schwächung des politischen Hauptgegners. Ob die SPD sich traut, zusammen mit der Linkspartei, der FDP und den Grünen das Thema anzugehen, ist derzeit noch offen.