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Unterschichten-Debatte Berlin ringt mit neuer sozialen Frage

Unterschicht. Prekariat. Soziale Frage. Viele Begriffe für ein Phänomen: In Deutschland entkoppelt sich eine große Gruppe von der "Mehrheitsgesellschaft." Die SPD ringt um Worte. Für die Genossen kann das Thema Chancen bieten - oder zum Bumerang werden.
Von Florian Güßgen

Nun ist sie losgebrochen, die Unterschichten-Debatte. Unaufhaltsam. Und mit voller Gewalt. Nach dem Zeitungs-Interview mit SPD-Chef Kurt Beck am vorvergangenen Wochenende war es nur ein leises Rauschen gewesen. Jetzt, nach Bekanntwerden der Studie der Friedrich-Ebert-Stitung (FES), tobt die Unterschichten-Debatte im Land.

Die neue Erkenntnis ist beachtlich: Acht Prozent der Bevölkerung, so hat die FES in der Studie "Gesellschaft im Reformprozess" herausgefunden, wähnen sich auf der Verliererseite und im gesellschaftlichen Abseits. Sie gehören zu einer Gruppe, die die FES-Wissenschaftler als "abgehängtes Prekariat" bezeichnen. Dabei leitet sich der ungelenke Begriff "Prekariat" von dem Adjektiv "prekär" ab. Und in so einer "prekären", also unsicheren, schwierigen Lage befindet sich eine wachsende Zahl von Menschen - weil sie dauerhaft in bisher untypischen Arbeitsverhältnissen festhängen. Diese sind gekennzeichnet von wenig Sicherheit, niedrigem Lohn, Teilzeit und geringem Kündigungsschutz. Dabei hat die FES auch herausgefunden, wo das "Prekariat vor allem zu finden ist." 20 Prozent der Menschen im Osten gehören dazu, nur vier Prozent im Westen.

Die Hiobsbotschaft aus den Tiefen der Gesellschaft ist hochexplosiv, bedeutet sie doch, dass dieses Land sich stärker verändert als gemeinhin angenommen. Nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, nicht nur Muslime, scheinen sich von der "Mehrheitsgesellschaft" zu entkoppeln. Nein, eine ganze Schicht, ein ganzes Milieu scheint sich sozial, wirtschaftlich und kulturell von dem zu entfremden, was bis dato als gesellschaftliche Mitte galt.

Ein politisch hoch-explosives Problem

Gespürt haben Politiker das schon in den vergangenen Jahren, dass sich da irgendwas verschiebt in der Gesellschaft. Jetzt hat das Problem einen Namen: Unterschicht. Die Debatte ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Republik sich in einer Phase der ehrlichen Bestandsaufnahme befindet, in der mit geliebten, bequemen Mythen Stück für Stück aufgeräumt wird. Wer von dieser Bestandsaufnahme profitieren kann, zumal im politischen Alltagsgeschäft, ist völlig offen.

Dass die SPD durch ein offensives Auftreten hier bei den Wählern punkten kann, ist zumindest mittelfristig eine Möglichkeit. Sie hat die Chance, sich als Partei der neuen sozialen Frage zu profilieren. Zumindest vorerst haben jedoch die tagespolitischen Reflexe wieder eingesetzt. Die SPD-Riege bemüht sich derzeit nach Kräften, sich von dem Begriff der "Unterschicht" zu distanzieren. Klingt schließlich schlecht, wenn man die eigene Klientel verbal runtermacht.

SPD distanziert sich vom Begriff "Unterschicht"

"Es gibt keine Schichten in Deutschland. Es gibt Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind", analysierte etwa Arbeitsminister Franz Müntefering am Montag bei dem Nachrichtensender "N24." "Das ist nicht neu", sagte Müntefering. "Das hat es schon immer gegeben. Aber ich wehre mich gegen die Einteilung." Ähnlich äußerte sich auch Matthias Platzeck, Ex-SPD-Chef und Ministerpräsident in Brandenburg. Der Begriff stigmatisiere Menschen, sagte Platzeck der Nachrichtenagentur DPA. SPD-Generalsekretär Hubertus Heil schlug vor, von "neuer Armut" zu sprechen oder von einer "neuen sozialen Frage."

"Wir erkennen die Realitäten an"

Jenseits der begrifflichen Feinheiten versuchen die Genossen aber auch, das Thema irgendwie offensiv zu besetzen, auch wenn es derzeit noch kein Rezept, kein Programm gibt, um das scheinbar neu erkannte Phänomen anzugehen. "Wir erkennen die Realitäten an", sagte Heil nach einer Telefonkonferenz des Präsidiums am Montag. "Wir wollen aber zeigen, dass wir uns damit nicht abfinden." Es sei höchste Zeit, dass sich die gesamte Gesellschaft damit auseinandersetze.

Für die Genossen birgt die Unterschichten-Debatte nicht nur Chancen, sondern auch Gefahren. Sie könnte sich zu einem Bumerang entwickeln, eine Zerreißprobe herbeiführen. Denn die Linken in den eigenen Reihen, wie etwa der Abgeordnete Ottmar Schreiner, aber auch die Linkspartei versuchen nun, die Schrödersche Reformpolitik für das Entstehen des "Prekariats" verantwortlich zu machen - und mit Forderungen nach einer Hartz-IV-Revision zu verknüpfen. Oskar Lafontaine, der Fraktionschef der "Linkspartei" im Bundestag, ließ am Montag per Presseerklärung verlauten: "Wer das politisch selbst erzeugte Elend von Millionen Menschen in Deutschland bekämpfen will, muss in der großen Koalition für die Abschaffung der Hartz-Gesetze eintreten und nicht für deren Verschärfung."

"Prekariat" unterstützt Linkspartei

Anders als die SPD kann sich Lafontaine bei diesen Äußerungen der Unterstützung des "Prekariats" offenbar sicher sein. In der Studie der Ebert-Stiftung, die unter dem Titel "Gesellschaft im Reformprozess" von der Wahlforscherin Rita Müller-Hilmer vom Institut TNS Infratest erstellt worden war, wird das Prekariat folgendermaßen definiert: "Das Abgehängte Prekariat (8 Prozent) ist geprägt von sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen. Diese Gruppe hat einen hohen Anteil berufsaktiver Altersgruppen, weist den höchsten Anteil an Arbeitslosen auf und ist zugleich ein stark ostdeutsch und männlich dominierter Typ. Nichtwähler sind ebenso überproportional vertreten wie die Wähler der Linkspartei und rechtsextremer Parteien."

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