Ursula von der Leyen "Wer sich um Kinder kümmert, gilt als Weichei"

Wofür steht die Union? Sollen Mütter hinter den Herd - oder sollen sie arbeiten können? Im stern.de-Interview sagt Angela Merkels Familien-Expertin Ursula von der Leyen, was sie von Paul Kirchhof hält und wie sie den Deutschen das Kinderkriegen erleichtern will.

In den jüngsten Umfragen hat die Union gemeinsam mit der FDP die absolute Mehrheit verloren? Schadet Paul Kirchhof der Union?

Ursula von der LeyenPaul Kirchhof schadet der Union nicht. Im Gegenteil. Ich halte ihn für ein ganz wichtiges Mitglied im Kompetenzteam Die Umfrage-Ergebnisse, bei denen man nicht unterschätzen sollte, dass die Union immer noch sieben Prozentpunkte vor der SPD liegt, sind meines Erachtens eine kurze Reaktion auf das TV-Duell. Das Ergebnis kann jedoch auch bewirken, dass Anhänger der Union zur Wahl gehen, weil ihnen klar wird, dass die Wahl noch nicht gewonnen ist.

Kirchhof polarisiert. Viele Bürger fürchten, dass die Union mit seinen radikalen Forderungen ihre wahren, neoliberalen Absichten offenbart? Ist Merkels Entscheidung für Kirchhof eine Richtungsentscheidung?

In der nächsten Legislaturperiode wird das Regierungsprogramm der Union umgesetzt. Das hat auch Kirchhof gesagt. Dort ist bei den Steuersätzen ein Stufentarif vorgesehen – von 12 bis 39 Prozent. Kirchhof ist jemand, der zwei große Ziele verfolgt. Erstens, Gerechtigkeit für Familien. Wie kaum ein anderer Verfassungsrichter hat Kirchhof wegweisende Urteile gefällt, die Familien mehr Spielraum geben. Zweitens bemüht er sich darum, Transparenz in unserem Steuersystem herzustellen. Beides sind Dinge, die wir in unserer Gesellschaft diskutieren müssen.

Aber mit seinem Frauenbild muss Kirchhof bei Ihnen doch Widerstand hervorrufen. Er wirbt offen dafür, Frauen doch lieber am Herd zu belassen, als sie gleichberechtigt in die Berufswelt zu integrieren. Eine Frau mache in der Familie Karriere, hat er vor wenigen Jahren geschrieben. Sie dagegen verkörpern ein modernes Frauenbild, demzufolge Mütter arbeiten. Wo steht die Union denn nun – hinter Kirchhof oder hinter von der Leyen?

Ich habe mit Professor Kirchhof sehr viel über diese Themen gesprochen – und er hat mir seine Erfahrungen sehr plastisch geschildert, die er jetzt mit den erwachsenen Töchtern macht, die gut ausgebildet sind, ihre Berufe ausüben wollen und Kinder haben. Das bringt die Erfahrung auf den Punkt, die die Union bisher gemacht hat und weshalb sie den Paradigmenwechsel in der Familienpolitik auch umsetzt. Wir haben in Deutschland nun die am besten ausgebildete Generation junger Mädchen und junger Frauen. Diese werden in jedem Fall erwerbstätig sein. Die Frage ist nur, ob sie auch Kinder haben werden. In einer sich wandelnden Welt brauchen Menschen die Gewissheit und die Möglichkeit, dass sie aus eigener Kraft auch den Lebensunterhalt des Kindes bestreiten können. Deshalb muss über den Zugang junger Väter und junger Mütter zum Arbeitsmarkt diskutiert werden – und nicht mehr über Dinge, die heute nicht mehr die Lebenswirklichkeit widerspiegeln.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Sie sagen also, dass Kirchhofs Ansichten nicht den Realitäten entsprechen?

Falsch. Die Äußerungen von Professor Kirchhof, die Sie zitieren, stammen aus dem Vorwort eines Buches über eine Familie mit zehn Kindern. Dort hat er beschrieben, wie die Mutter dieser Kinder lebt. Er hat also nicht gesagt, wie alle Frauen mit Kindern zu leben haben, sondern hat ein Vorwort zu einem spezifischen Buch geschrieben. Ich finde entscheidend – und da ist Kirchhof mit mir ganz einer Meinung -, dass junge Familien Wahlfreiheit brauchen, um sich ihr Leben mit den Kindern selbst einzuteilen. Das bedeutet auch, dass sie über die Arbeitsteilung in der Familie tatsächlich frei entscheiden können. In Deutschland ist es bisher so, dass es jungen Frauen schwer gemacht wird, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren.

Zur Person

Als Tochter der ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU) gehört Ursula von der Leyen eigentlich qua Geburt zum deutschen Politik-Adel. Dennoch hielt sie sich lange von der Politik fern. Die heute 46-Jährige studierte Medizin, promovierte, heiratete, lebte vier Jahre lang in den USA und brachte sieben Kinder auf die Welt - das erste 1987, das vorerst letzte 1999. Zwar trat sie der CDU schon früh bei, begann ihre politische Karriere jedoch erst 2001, als sie in Sehnde zur Stadträtin gewählt wurde. 2003 berief der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff sie zur Sozialministerin seiner schwarz-gelben Regierungskoalition. 2004 wurde sie in das Präsidium der CDU gewählt. Im August 2005 nominierte Angela Merkel, die Kanzlerkandidatin der Union, von der Leyen für ihr Kompetenz-Team. Sie kümmert sich dort um die Bereiche Gesundheit und Familie. Für den Fall eines schwarz-gelben Wahlsiegs gilt sie als Kandidatin für das Amt der Familienministerin - auch für das Gesundheitsministerium wird sie gehandelt.

Aber sind das nicht nur leere Worte? Nehmen Sie etwa das Beispiel Kinderbetreuung. Kinderbetreuung erleichtert es Frauen, Kinder und Job unter einen Hut zu kriegen- und gerade in Sachen Kinderbetreuung ist im Wahlprogramm der Union so gut wie nichts zu finden?

Das Wahlprogramm ist für den Bund geschrieben. Für die Kinderbetreuung sind aber Länder und Gemeinden zuständig. Der Bund hat eine andere Hauptverpflichtung: Wenn er das wichtige Ziel des Ausbaus der Kinderbetreuung verfolgen will, dann muss er durch eine gute Wirtschafts- und Steuerpolitik dafür sorgen, dass die Kommunen wieder das Geld dafür haben. Wenn die Steuereinnamen der Kommunen nicht da sind, dann haben sie keine Chance, eine gute Kinderbetreuung aufzubauen. Der Bund muss den Rahmen dafür schaffen.

Aber ist das nicht ein bisschen wenig. Die SPD verspricht den Ländern und Gemeinden immerhin mehr Geld, das sie vorher durch Hartz IV einzusparen hofft.

Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, dass die SPD ohne Unterlass bestellt, aber sich zur Hintertür rausschleicht, sobald es ums Bezahlen geht. Hartz IV ist ein Milliardengrab. Und wie man mit einem Defizit die Kinderbetreuung wieder ausbauen will, ist mir schleierhaft.

Es gibt böse Zungen, die behaupten Sie hätten es nur geschafft, Beruf und Kinder zu vereinbaren, weil sie aus privilegiertem Hause kommen und sich eine Tagesmutter leisten können. Wie reagieren Sie darauf?

Das ist eine sehr deutsche Kritik. Sie geht davon aus, dass erwerbstätige Mütter Führungskräfte ihre Kinder automatisch wegdelegieren. Es herrscht hier immer noch die Vorstellung, man müsste viele Betreuungskräfte haben. Das ist realitätsfremd und sendet eine fatale Botschaft aus: Wer in Deutschland in einer Führungsposition arbeitet, muss auf Kinder verzichten. Im Ausland haben sie das längst verstanden, dass umgekehrt ein Schuh daraus wird. Zu einer guten Balance von Familie und Beruf - gerade in Führungspositionen . gehört es, Zeit für Kinder frei zu machen. Wir müssen klar machen, dass jemand nicht nur deshalb gut ist in seinem Beruf, weil er unendlich viel Zeit verfügbar ist, sondern weil die Qualität seiner Arbeit gut ist. In Schweden kommt es etwa vor, dass männliche Aufsichtsratsmitglieder um 16 Uhr schnell nach Hause gehen, um ihre Kinder vom Kindergarten abzuholen. Männer schämen sich nicht zu sagen: ‚Ich will ein guter Vater sein und deshalb wird diese Zeit in das Kind investiert.’ Das ist in Deutschland noch immer ein tabu. Wer sich um seine Kinder kümmert, gilt als Weichei – und nicht karrierefähig. Und da liegen wir weit, weit zurück auf dieser Welt. Im Ausland gibt es dagegen die Einstellung: Wer Kinder erzieht, ist interessant für ein Unternehmen.

Was hat sich ihr Familienleben verändert, seitdem sie in Niedersachsen Ministerin sind?

Früher war es so, dass mein Mann immer mehr gearbeitet hat als ich. Das ist jetzt umgekehrt. Und ich habe gelernt, die Kinder viel stärker in meinen Lebensalltag einzubeziehen. Die Schule meiner Kinder ist nicht weit vom Ministerium entfernt. Ich versuche, wenn es geht, die Mittagszeit mit ihnen zu verbringen – entweder essen wir zusammen oder sie machen bei mir die Hausaufgaben. Ich plane sehr detailliert mit meinem Mann, dass einer immer abends zu Hause ist. Das war früher nicht so. Und ich versuche, mein Wochenende zu verteidigen.

Wenn die Union die Wahl gewinnen würde, würden Sie voraussichtlich einen Ministerposten erhalten. Ist so ein Spitzenamt überhaupt mit ihren Ansprüchen an Familie vereinbar?

Wenn ein Spitzenamt wie das eines Ministers nicht vereinbar wäre mit Kindern, dann wäre das ein katastrophales Signal an Deutschland. Jungen Menschen würde man dann sagen: Wenn Du nicht ausschließen willst, eines Tages ganz oben mit zu arbeiten, solltest Du besser keine Kinder haben. Dieses Signal würde unserem Land den Garaus machen. Deshalb will ich ausprobieren, wie jemand den Spagat zwischen Spitzenamt und Familie hinbekommen kann.

Interview: Florian Güßgen

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