"Beschissen". Es ist kurz nach sechs. Elmar Brok, der CDU Europa-Abgeordnete, steht im Foyer des Konrad-Adenauer-Hauses, hält ein Bier in der Hand, und analysiert die Lage. Kurz. Prägnant. Treffend. "Beschissen", sei sie, die Lage, sagt Brok - und er zeigt auf den Fernseher. Dort ist gerade Guido Westerwelle, der FDP-Chef zu sehen, der an diesem Abend mehr als zehn Prozent für die Liberalen eingefahren hat. Westerwelle, der vordem als "Leichtmatrose" titulierte Liberale, bebt vor Stolz. "Die haben unsere Prozente", schimpft Brok. Er schaut freundlich-hilflos zum Fernseher, dann auf sein Bier, dann winkt er ab.
Es ist eine schwarze Nacht für die Union
Es ist Sonntag, der 18. September, kurz nach sechs. Soeben hat die Union eine der herbsten Niederlagen ihrer jüngeren Geschichte eingesteckt. Vor Monaten noch hatte sie in Umfragen die absolute Mehrheit errungen, vor Wochen noch schien der schwarz-gelbe Sieg absolut sicher, jetzt ist die Union auf desaströse 35-Komma-irgendwas-Prozent gefallen. Sie liegt denkbar knapp vor der SPD. Das ist eine Sensation. Es ist eine schwarze Nacht. Für die Union. Und vor allem für Angela Merkel, die Galions-Figur. In den Kellern so manches Unions-Fürsten dürften die Messer schon gewetzt werden, mit denen die unglückliche Anführerin demnächst gemeuchelt werden könnte.
"Die Ossis sind einfach undankbar"
Dabei hatte die Union an diesem Abend alles so schön für die Siegesfeier vorbereitet. Vor dem Konrad-Adenauer-Haus in der Berliner Klingelhöfer-Straße hatten sie ein großes, weißes Zelt aufgebaut. Um kurz vor sechs war es gerappelt voll. Mit Gästen, mit Journalisten, mit Kameras - und auch mit diesen jungen Merkelianern, die diese orangenen T-Shirts trugen, die im Wahlkampf eigentlich auf jeder CDU-Veranstaltung zu sehen waren. Um 17.59, kurz bevor die ARD die erste Hochrechnung bekannt geben wollte, zählten die Jung-Merkelianer herunter, von zehn auf null. Als das SPD-Ergebnis genannt wurde, johlten sie. Als die Union dran war, wurde es still. Urplötzlich. Von einem Moment auf den nächsten war es vorbei mit der orangenen Herrlichkeit. Die Hoffnung wich Bestürzung. Binnen Sekunden war sie vorbei, die Party der Schwarzen. "Ich denke, es war Kirchhof", sagt einer der Jung-Merkelianer. Ein anderer schimpft: "Die Ossis sind einfach undankbar. Die sind dran schuld" - im Osten ist die SPD die stärkste Partei. Im Lichthof des Konrad-Adenauer-Hauses flimmern derweil die Fernseher. Die Hochrechnungen aller Sender werden hier gezeigt, aber es will einfach nicht besser werden, das Ergebnis der CDU. "Das ist eine Katastrophe für Merkel", sagt eine ältere CDU-Anhängerin bestürzt, während sich Merkels Ex-Rivale Roland Koch demonstrativ vor die Chefin stellt. "Sie können sich darauf verlassen", sagt er. "Es wird eine geschlossene CDU/CSU geben."
18.35 Uhr, Merkels erster Auftritt
Nein, es ist ein skurriler Abend, ein unwirklicher Abend, an dem Worte wie Jamaika-Koalition (Schwarz-Gelb-Grün) und Ampel und große Koalition durch den Lichthof des Konrad-Adenauer-Hauses schwirren und Hape Kerkeling, mit grauer Einstein-Perücke, falschem Schnauzer und TV-Team im Schlepptau Kenner und Nichtkenner interviewt. Um 18.35 dann treten die Wahlverlierer erstmals offiziell auf an diesem Abend: Links auf der Bühne steht Edmund Stoiber, in der Mitte steht Angela Merkel, rechts ihr Generalsekretär Volker Kauder. Sie könnten einem fast leid tun. Als sichere Sieger galten sie, Angela Merkel wurde als das erste deutsche Alpha-Weibchen gefeiert - und jetzt das. Zwar haben sich die Claqueure pflichtgemäß eingefunden und skandieren artig "Angie. Angie". Aber echt wirkt das alles nicht. Eher schon satirisch. Merkel sagt, Rot-Grün sei abgewählt worden und dass sie jetzt den Auftrag habe, die Regierung zu bilden. Zur Jamaika-Koalition sagt sie ebensowenig wie zur großen Koalition. Stoiber, dessen CSU in Bayern kräftig eins auf die Hörner bekommen hat, findet das alles übrigens auch - sagt er, und fügt hinzu: "Wir werden sehen, ob wir eine stabile Rgierung unter Frau Merkel zustande bringen". Das klingt wie: "Die kann's eigentlich nicht, zumindest nicht besser als ich. Jetzt müssen wir sehen, wie wir aus dem Schlamassel herauskommen." Merkel ist die tragische Figur an diesem Abend. Sie hat diese Wahl verloren, ist, aus Gründen, die auch in dem Festzelt eigentlich niemand versteht, dramatisch eingebrochen - und muss jetzt, wahrscheinlich, doch die Regierung bilden. Für Schwarz-Gelb habe es nicht gereicht, sagt Merkel ein wenig später in einem Fernseh-Interview. "Deshalb ist die Welt nun ein Stück komplizierter geworden." Es ist verflixt, denn Merkel ist eine siegreiche Verliererin.
"Wir gehen in die Opposition"
In dieser Situation ist Merkel nicht allein. Denn es gibt noch einen zweiten siegreichen Verlierer an diesem Abend: Die FDP. So überraschend wie die Jungfrau zum Kinde ist die FDP zu einem Ergebnis von über zehn Prozent gekommen. Die Liberalen können es selbst nicht glauben. "Ja," sagt ein FDP-Mann auf der Party im Thomas-Dehler-Haus in der Reinhardt-Straße, "mit sieben, acht Prozent hatten wir wegen der Zweitstimmen-Kampagne schon gerechnet. Aber über zehn Prozent?" Das hatte niemand für möglich gehalten. Aber was soll's? Die Stimmung im Foyer der Partei-Zentrale ist gespalten, denn das eigentliches Wahlziel von Westerwelle und Co., die Beteiligung an einer schwarz-gelben Koalition, hat die FDP verpasst. Und in eine Ampel, eine Rot-Gelb-Grün-Kombo, da will keiner rein, das schließt Parteichef Guido Westerwelle sofort via TV und kategorisch aus - und auch Wolfgang Gerhardt, der Kandidat für das Außenamt, winkt ab. "Wenn's zu Schwarz-Gelb nicht reicht, gehen wir in die Opposition", diktiert Silvana Koch-Mehrin, die Europa-Abgeordneten den Journalisten. "Das wird Rot-Grün unter Tolerierung der Linken", wettert ein älterer FDP-Anhänger. Auch hier begreift niemand, wie es passieren konnte, dass die Union versagt, dass sie abschmiert. "Warum? Warum? Warum?", fragt ein junger Anhänger, der sich mit Rotwein und Wiener Würstchen tröstet. Eine Ampel-Koalition hält auch er für ausgeschlossen. "Dafür gibt es in der Partei meiner Einschätzung nach keine Zustimmung." Mit Ekel kommentieren die Liberalen vor den Fernsehern den forschen Auftritt des Kanzlers. "Der ist wahnsinnig geworden", sagt einer, als Gerhard Schröder auf dem Bildschirm versichert, er werde im Amt bleiben.
"Ein komisches Ergebnis"
Jamaika, Kerkeling, zwei Spitzenkandidaten, die die Kanzlerschaft beanspruchen - und zwei siegreiche Verlierer. Dieser Wahlabend lässt selbst professionelle Beobachter ratlos zurück. Auf dem Weg von der CDU-Zentrale hin zur FDP sitzt der Reporter im Taxi und versucht, das Geschehen zu ordnen, ihm einen Sinn zu geben. So recht mag das nicht gelingen. Der Wagen steuert am Reichstag vorbei, wo eine riesige Leinwand flackert, vor der sich das bunte Wahlvolk fröhlich tummelt. Links liegt das Kanzleramt, auf das nun Angela Merkel und Gerhard Schröder Ansprüche erheben. Jetzt liegt es dunkel da. Just in diesem Moment deutet auch der Taxifahrer zu dem Machtzentrum dieser Republik hinüber. "Ein komisches Ergebnis", sagt er. "Aber es ist schon schön, dass der Souverän sich anders entscheidet, als das die Politiker erwarten."