Die erneut niedrige Beteiligung an der Europawahl in Deutschland reflektiert nach Ansicht des Kieler Politikwissenschaftlers Prof. Joachim Krause einen generellen Verlust an europäischer Identität. "Das ist ja ein Trend, der schon länger anhält, auch in anderen Ländern", sagte Krause. "Europa interessiert immer weniger Leute", meinte der Direktor des Kieler Institutes für Politikwissenschaft. "Die meisten Bürger assoziieren nichts Persönliches mit Europa." Mehr Aufklärung würde dagegen etwas helfen, aber auch nur begrenzt.
Man dürfe Europa auch nicht überfrachten, sagte Krause. So habe die emotionale Aufregung um die Irak-Krise Europa geschadet. Als höchst interessant bezeichnete Krause die große Differenz zwischen dem Abschneiden der PDS bei der Europawahl und der Landtagswahl in Thüringen. Bei Landtagswahlen im Osten entschieden sich weit mehr Wähler für die PDS, während sie sich bei der Europawahl weit weniger von ihr versprächen. "Das ist ein typisches Stimmensplitting." Die Wähler hätten eindeutig taktisch gewählt. "Es gibt also einen Typus linker Wähler, die zwischen PDS und SPD schwanken."
EU-Kommissar fordert neue Agenda für Europa
EU-Handelskommissar Pascal Lamy hat von den Brüsseler Institutionen eine neue Agenda für Europa gefordert. Die nächste EU-Kommission werde "eine Agenda mit Schwerpunkten formulieren müssen, die die Menschen wirklich bewegen: Jobs, Sicherheit und Europas Stellung in der Welt", sagte Lamy der "Berliner Zeitung" (Montagsausgabe).
Der französische EU-Kommissar sieht die EU sowohl politisch als auch wirtschaftlich "in einer ausgesprochen schwierigen Lage". "Zurzeit stecken wir wieder in einem Tief, aus dem wir uns befreien müssen", sagte er. So zeige das geringe Interesse der Bürger an den Wahlen, dass es in Europa an Dynamik fehle. Die EU brauche etwa dringend eine gemeinsame Industriepolitik
SPD für Regierungspolitik abgestraft
Die Europawahl ist von zahlreichen Wählern genutzt worden, um massive Unzufriedenheit mit der Politik in Berlin zum Ausdruck zu bringen. Dies bekam vor allem die SPD zu spüren, ermittelte die Forschungsgruppe Wahlen (Mannheim) in einer ersten Analyse am Sonntag. Bei innenpolitischem Gegenwind und großen Mobilisierungsproblemen rutschen die Sozialdemokraten weit unter die 30-Prozent-Marke.
Für die Mehrheit derer, die ihre Stimme abgaben, spielte die Bundespolitik die Hauptrolle: 51 Prozent nannten für ihre Wahlentscheidung zuerst bundespolitische Motive, für 43 Prozent stand dagegen bei der Europawahl Europa an erster Stelle. Dass die Politik in Berlin den Ausschlag gab, sagten dabei besonders viele Anhänger der CDU/CSU (58 Prozent).

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Neben einem europapolitischen Kompetenzvorsprung basiert der Erfolg der Union vor allem auf der deutlichen Kritik an der Bundesregierung: Zwar wird auch die CDU/CSU auf der +5/-5-Skala mit minus 0,3 für ihre Oppositionsarbeit in Berlin keinesfalls gut bewertet, doch die rot-grüne Bundesregierung liegt bei der Leistungsbeurteilung mit minus 1,3 sehr viel deutlicher im negativen Bereich.
Selbst traditionelle Klientel nicht erreicht
So verliert die SPD bei den Arbeitern 12 Prozentpunkte und erreicht mit einem Ergebnis von 24 Prozent in ihrer traditionellen Klientel nur noch knapp ein Viertel aller Wähler. In der Gruppe der unter 30-Jährigen liegen sowohl SPD mit 19 Prozent (minus 6 Punkte) als auch CDU/CSU mit 39 Prozent (minus 8) hinter ihrem Gesamtergebnis. Die Grünen schneiden hier mit 17 Prozent (plus 7) genau wie die FDP mit 9 Prozent (plus 5) überdurchschnittlich ab.
Die SPD schafft es nur bei den 44- bis 59-Jährigen (24 Prozent) sowie den über 60-Jährigen (25 Prozent) leicht über den Durchschnitt. Dagegen präsentiert sich die Union in der großen Gruppe der über 60-Jährigen mit insgesamt 54 Prozent unverändert stark.
Die erneut schwache Wahlbeteiligung zeigt einmal mehr die Distanz der Deutschen gegenüber dem Europäischen Parlament: Während 86 Prozent der Befragten Entscheidungen des Bundestages, 76 Prozent Landtags-Entscheidungen und 70 Prozent Entscheidungen der Kommunalparlamente auch individuell hohe Bedeutung beimessen, halten gerade 61 Prozent Beschlüsse aus Straßburg oder Brüssel persönlich für wichtig.
Dramatisches Desinteresse in ganz Europa
Sechs Wochen nach der historischen EU-Erweiterung ist die Wahl des neuen Europaparlaments nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa auf ein zum Teil dramatisch geringes Interesse gestoßen. Beim EU-Neuling Polen gaben bis 18.00 Uhr nur etwa 13 Prozent der fast 30 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In Frankreich wurde mit etwa 42 Prozent die schlechteste Beteiligung erwartet, die es dort jemals bei einer Europawahl gegeben hat. Dagegen schafften die EU-begeisterten Malteser eine Beteiligung von 82,3 Prozent. Ernste Zwischenfälle wurden bis zum Abend aus keinem der 25 EU-Länder gemeldet. Überraschend schafften in einigen Ländern Neulinge auf Anhieb den Sprung ins Straßburger Parlament.
In den Niederlanden errang die neue Partei Europa Transparent des früheren europäischen Spitzenbeamten Paul van Buitenen überraschend 2 der 27 Sitze des Landes im EU-Parlament. Van Buitenen hat sich den Kampf gegen Betrug und Verschwendung in der EU zum Ziel gesetzt. Der Kritiker der Spesenpraxis im EU-Parlament, der Journalist Hans-Peter Martin, sicherte sich mit seiner Liste überraschend klar 2 der 18 Mandate Österreichs in Straßburg. Dagegen erlitten Jörg Haider und seine in Wien mitregierende FPÖ nach dem inoffiziellen Endergebnis der Nachrichtenagentur APA mit nur 6,3 Prozent eine schwere Niederlage. In Straßburg wird es künftig nur mehr einem (1999: 5) FPÖ-Vertreter geben.
Bei der Wahlbeteiligung gab es extrem starke Schwankungen. In Spanien lag sie bis 18.00 Uhr bei knapp 34 Prozent - das waren rund 16 Punkte weniger als 1999. In den Niederlanden, wo schon am Donnerstag gewählt wurde, stieg die Beteiligung dagegen nach inoffiziellen Angaben um fast 10 Punkte auf 39,1 Prozent. 1999 lag die Wahlbeteiligung in 15 Ländern bei durchschnittlich 49,8 Prozent. Am schwächsten war die Beteiligung vor fünf Jahren mit nur 24 Prozent in Großbritannien.
732 Abgeordnete im künftigen EU-Parlament
Im künftigen Europaparlament werden insgesamt 732 Abgeordnete sitzen. Nach der Erweiterung der EU um zehn Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa am 1. Mai 2004 hatte sich die Gesamtzahl der Sitze vorübergehend auf 788 erhöht. Die 15 alten Länder, die 1999 noch 626 Abgeordnete entsenden konnten, bekommen nun 56 Sitze weniger. Für die neuen Länder, die bis zur Wahl zunächst 162 entsandte Delegierte nach Straßburg geschickt hatten, bleibt die Zahl der Mandate gleich.
Vor fünf Jahren waren die Christdemokraten erstmals stärkste Kraft im Straßburger Parlament geworden. Die in der Fraktion "Europäische Volkspartei" zusammengeschlossenen Christdemokraten und Konservativen verbesserten sich im Parlament von 201 auf 233 Mitglieder. Die einst stärkste sozialdemokratische Fraktion (SPE) schrumpfte 1999 um 34 auf 180 Sitze. Die großen Verluste für die bis dahin führenden Sozialisten gingen vor allem auf Einbußen in Großbritannien zurück. Die Liberalen behaupteten sich mit 51 Sitzen als dritte Kraft. Auch die Grünen (48 Mandate) gingen gestärkt aus dieser Wahl hervor.
Amtliche Ergebnisse weit nach 22 Uhr
Erste amtliche Ergebnisse aus allen 25 EU-Staaten werden erst in der Nacht zum Montag erwartet - nach Schließung der letzten Wahllokale in Europa um 22.00 Uhr.